Kierunek Berlin - Kierunek Warszawa? Zwischen Weltpolitik und Alltag: Deutsche und Polen in Berlin
Auf dem Bahnhofsvorplatz in Poznan stand lange Zeit eine großflächige Werbetafel der polnischen Staatsbahn PKP. „Do Warszawy i Berlina Pociagami EC, IC, Ex — Najszybciej“ — ,,Nach Warschau und Berlin am schnellsten mit Eurocity, Intercity und Express“, war da zu lesen. Auch vor der Einführung des Berlin-Warszawa-Express 2001 war Berlin für die Bahnreisenden der westpolnischen Boomtown ein Reiseziel, für das zu werben sich lohnte.
Auf dem Bahnsteig des Regionalbahnhofs Berlin-Alexanderplatz war vor kurzem ebenfalls eine Werbetafel zu sehen – eine recht ungewöhnliche sogar, denn sie war auf Polnisch. Die Western Union Bank warb: „Pewny przekaz pienizny to nasza mocna strona“ – ,,Sichere Geldüberweisungen sind unsere starke Seite“. Mit dieser Bahnsteigwerbung ging das an eine nichtdeutsche Zielgruppe gerichtete Ethno-Marketing über die sonst übliche Werbung in ethnischen Printmedien hinaus. Der Schritt in Richtung Outdoor-Werbung wurde bemerkenswerterweise von der Privatwirtschaft gegangen, nicht von öffentlichen Institutionen wie der BVG, der Berliner Flughafengesellschaft oder den Straßenverkehrsbehörden. Es gibt offenbar einen Markt für Hinweise auf Polnisch im öffentlichen Stadtraum der Hauptstadt. Nur hat das von den offiziellen Akteuren noch keiner gemerkt.
Hinweise, die den deutschen Reisenden nach Poznan oder Warschau einladen, sucht man auf Berliner Bahnsteigen allerdings vergeblich. Bewegt sich das deutsch-polnische Verhältnis also auf einer Einbahnstraße?
Job und/oder Shopping: Die Migrationsmetropole Berlin
An Leitbildern hat es wahrlich nicht gefehlt im Berlin der Nachwendezeit. Aus der einstigen Mauerstadt, die sich als ,,Schaufenster des Westens“ und „Bollwerk der Freiheit“ trotzig über die Zeit der Teilung hinweggerettet hat, sollte nach dem Fall der Mauer beinahe über Nacht eine europäische Metropole werden. Es war vor allem die Lage der Stadt, die dieser Hoffnung Nahrung zu geben schien. Ehemals am Rand der Systeme gelegen, würde Berlin nun wieder in der Mitte liegen, würde als ,,östlichste Stadt des Westens“ und ,,westlichste Stadt des Ostens“ beinahe zwangsläufig aufsteigen in das ,,Orchester der europäischen Metropolen“. Doch zum ,,Tor zum Osten“, das Berlin so gerne geworden wäre, zum Sprungbrett westlicher Konzerne, Dienstleister und Waren in Richtung Osteuropa, haben sich andere hochgerappelt, Wien zum Beispiel, Warschau, aber auch Prag.
Berlin dagegen ist beinahe unbemerkt ein „Tor zum Westen“ geworden. Im Ostberliner Plattenbaubezirk Marzahn spricht inzwischen jeder zehnte Bewohner Russisch. Insgesamt leben in Berlin über 100.000 russischsprachige Spätaussiedler beziehungsweise ihre russischen Familienangehörigen. Hinzu kommen 15.000 jüdische Migranten, die als Kontingentflüchtlinge nach 1990 aufgenommen wurden.
Noch deutlicher wird die Bewegung von Ost nach West, wenn man sich die polnische Migration anschaut. Neben den 30.000 polnischen Staatsbürgern, die in den 1980er Jahren wegen der Verhängung des Kriegsrechts 1981 nach Berlin kamen, sind seit dem Ende der 1980er Jahre weitere 100.000 Menschen als Spätaussiedler zugewandert. Anders als die russischsprachigen Aussiedler, die hier fernab der alten Heimat leben, halten sie den Kontakt zu Polen meistens aufrecht.
Nach Berlin kommen aber auch die, die in dieser Stadt nicht dauerhaft leben, sondern als Pendler arbeiten wollen. Wer am Montag morgen einmal mit dem Zug vom polnischen Kostrzyn nach Berlin fährt, bekommt eine Ahnung von der geographischen Lage Berlins als erster Stadt des Westens. Manche, wie die ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John, schätzen, dass sich etwa 100.000 Pendler regelmäßig in Berlin aufhalten. Für die einen sind es Arbeitsmigranten, die das noch immer sehr hohe Lohngefälle an der deutsch-polnischen Grenze ausnutzen. Anderen, wie zum Beispiel den Forschern am Institut für europäische Ethnologie der Berliner Humboldt-Universität, gelten sie bereits als Pioniere eines neuen Europa: Wegen seiner Lage als Grenzstadt wäre Berlin geradezu ein Labor für die neue Gestalt des ,,Transmigranten“, der kulturell, sozial wie wirtschaftlich sowohl auf der einen wie auch der anderen Seite der Grenze zuhause sei (vgl. Diehl/Lehmann/Naydenova 2000).
Und dann gibt es noch die Touristen und Shopping-Reisenden. Vor allem vor Weihnachten macht das legendäre Kaufhaus KaDeWe fast die Hälfte des Umsatzes mit russischen Kunden. Im November und Dezember sind die Flüge von Moskau und Petersburg nach Berlin regelmäßig ausgebucht. Aber auch die Polen haben Berlin als Einkaufsstadt entdeckt. Vierzig Prozent aller Umsätze ausländischer Kunden entfallen inzwischen auf russische und polnische Touristen. Allein in einem Umkreis von 300 Kilometern um Berlin leben zwischen Szczecin, Poznan und Wroclaw neun Millionen Polen. Das Einzugsgebiet des Kurfürstendamms, des Potsdamer-, aber auch des Alexanderplatzes, hat längst die Grenzen überschritten. Selbst die Berliner Wirtschaftsförderer werben inzwischen unter dem Slogan ,,Go West — Go Berlin“.
Ist die deutsch-polnische Erfolgsstory gefährdet?
Welches Bild von Berlin haben diejenigen, die sich auf diesen verschiedenen Wegen und aus den unterschiedlichsten Gründen auf den Weg machen? Ist es das der ersten Metropole des Westens, der Millionenstadt unweit der polnischen Grenze, in der man noch immer sein Glück sucht? Ist Berlin noch immer die Goldgräberstadt für Glücksritter aller Couleur? Oder ist es eine der Metropolen des „alten“ Europa à la Donald Rumsfeld? Wendet sich Berlin wieder Paris zu und kehrt den aufstrebenden Metropolen des „neuen“ Europa den Rücken zu?
Geht von Berlin gar wieder der „Drang nach Osten“ aus, wie es das Nachrichtenmagazin Wprost im November 2002 in einer Titelgeschichte suggerierte (Wprost Nr. 1041, November 2002)? Neben der polnischen Unterzeile „Die Deutschen kolonisieren den Osten“ war ein dicker Bayer in Lederhose zu sehen, die Socken schwarz-rot-gold und in der Hand ein Bier, der es sichtlich genießt, wie die Beitrittskandidaten Polen, Tschechien und Ungarn um ihn herum springen und ,,Männchen machen“.
Anlass dieses gezielten Griffs in die Kiste antideutscher Stereotypen war die Debatte im polnischen Parlament, dem Sejm, über die Privatisierung des Warschauer Energieversorgers SOEN an den deutschen RWE-Konzern. „Ausverkauf Polens“, riefen in einer tumultartigen Parlamentssitzung die Abgeordneten der populistischen Parteien Liga polnischer Familien (LPR) und Selbstverteidigung des rechtspopulistischen Bauernführers Andrzej Lepper. Dieses Argument nahm Wprost gerne auf: Noch immer, hieß es in der Ausgabe, würden die Deutschen den Osten kolonisieren wollen. Und der Osten würde dies sogar noch freiwillig mit sich machen lassen.
Noch vor Jahresfrist galt das deutsch-polnische Verhältnis als Erfolgsstory. Nie in der Geschichte beider Länder, einer Geschichte der Teilungen, der Kriege und des Völkermordes, sei dieses Verhältnis besser gewesen, betonten Polens Präsident Alexander Kwasniewski und Bundeskanzler Gerhard Schröder bei jeder Gelegenheit.
Das war nicht einmal übertrieben. Während sich Deutsche und Tschechen noch immer über die Beneg-Dekrete streiten, hat man beiderseits der Oder und Neiße längst die Geschichte der Vertreibungen aufgearbeitet – nicht nur jeder für sich, sondern auch in vielen gemeinsamen Projekten von Historikern, Kulturwissenschaftlern und Soziologen. Hinzu kommen zahlreiche Fernsehsendungen und Buchveröffentlichungen, die nun auch auf deutscher Seite verstärkt das Interesse am Nachbarn wecken sollen. Die Erfolgsstory, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs begonnen hatte, sollte nun, mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur Europäischen Union, ihrem Höhepunkt entgegengehen.
Seit dem Beginn der Irakkrise im Herbst 2002 scheint aber alles anders. Die Unterschrift des polnischen Ministerpräsidenten Leszek Miller unter die umstrittene Solidaritätserklärung von Tony Blair und José Maria Aznar an George W. Bush hat in Berlin einen regelrechten Schock ausgelöst. Dies betraf weniger den Inhalt als vielmehr ihr Zustandekommen. Noch am Tage der Veröffentlichung im Wall Street Journal am 30. Januar 2003 hatte Miller mit Schröder telefoniert – und ihn mit keinem Wort über seine Unterschrift informiert. Hinter dem Rücken der Europäischen Union, hieß es hinterher in Deutschland, sei dieser Brief verfasst worden. Der Traum einer eigenständigen Außenpolitik der EU war vorerst geplatzt.
In Warschau wiederum schrillten die Alarmglocken, als sich abzeichnete, dass nicht nur die Achse Paris-Berlin gegen die angloamerikanischen Pläne eines Regimewechsels im Irak mobil machte, sondern ein um Russland und China erweitertes Bündnis der „Unwilligen“. Berlin vereint mit Moskau: Das löste in Warschau alte Reflexe aus und erinnerte an die Traumata der polnischen Teilungen und des Hitler-Stalin-Paktes. Das gleiche galt für die Weigerung der Deutschen und Belgier, in der NATO den Weg für den Schutz der Türkei frei zu machen. Je größer die Furcht vor einer drohenden Spaltung der NATO wurde, die in Polen als wichtigster Garant der territorialen Souveränität angesehen wird, desto entschiedener wurde die Unterstützung des US-Kurses. Laut wurde darüber nachgedacht, ob US-amerikanische Stützpunkte nicht von Deutschland nach Polen verlegt werden sollten. Und bei einem seiner beiden Besuche in Washington sicherte Alexander Kwasniewski George W. Bush den Kauf weiterer 48 Kampfjets des Typs F-16 im Wert von 3,5 Milliarden Dollar zu. Dies wiederum bestärkte in Deutschland die Furcht, mit dem polnischen Beitritt käme ein „trojanisches Pferd der USA“ in die EU.
Auf dem Tiefpunkt angelangt war das Verhältnis zwischen dem ,,alten“ und dem ,,neuen“ Europa schließlich, als der französische Staatspräsident Jacques Chirac am 17. Februar die Solidaritätsadresse der Polen, Tschechen und Ungarn an Bush mit den Worten quittierte, die Beitrittsländer hätten eine gute Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten. In Richtung Bulgarien und Rumänien drohte Chirac gar, wenn diese ihre Beitrittschancen verspielen wollten, könnten sie nichts besseres tun, als den Kurs der US-Regierung zu unterstützen. So sprechen keine Partner im neuen Europa zueinander, sondern Europäer erster und zweiter Klasse.
Donald Rumsfeld konnte sich die Hände reiben. In dem er die Position Frankreichs und Deutschlands als Teil des ,,alten Europas“ bezeichnete und diesem ,,alten“ ein ,,neues“, osteuropäisches Europa entgegensetzte, hatte er offenbar den Finger auf eine offene Wunde gelegt.
Diesseits der Weltpolitik: Das polnische Gebrauchswissen über Berlin
Nachdem sich der rhetorische und tatsächliche Pulverdampf allmählich verzogen hat: Was bleibt in Berlin und Warschau von den Entscheidungen der letzten Monate? Setzt man in Polen nun, je näher Berlin wieder an Paris (und an Moskau) rückt, seine Hoffnungen auf Washington? Schieben sich vor die im Alltag gewonnenen Bilder der anderen Seite nun wieder andere, mehr ideologische, nationale? Ist wieder die Zeit derer gekommen, die unvermindert alte oder auch neue Stereotypen pflegen?
Glaubt man dem Nachrichtenmagazin Polityka, ist der Fahrplan in Europa längst gedruckt. Kierunek Berlin — „Richtung Berlin“ lautete vor einiger Zeit die Schlagzeile des Magazins (Nr. 42/1999). Kierunek Berlin: Das ist der Gegenentwurf zum „Drang nach Osten“. Kierunek Berlin: Das ist der europäische Blick, der in Polen dem der Populisten entgegengestellt wird.
In Polityka wurde in dieser Ausgabe zum Bild des Brandenburger Tores die Frage gestellt: „Co nas czeka za brama“ — „Was uns hinter dem Tor erwartet“. Die Antwort lautete: nichts, was uns Angst bereiten müsste. Und schon gar nicht würde Warschau, wie manche meinen, ein Vorort von Berlin werden. Zwar würde Berlin, so lautete das Resümee der Titelgeschichte, in einem vereinigten Europa in vielem die Richtung angeben. Vor allem in den Grenzregionen würde es als natürlicher Magnet ein neues, grenzüberschreitendes Zentrum bilden. Doch diese neue Rolle macht denen, die sich in „Richtung Berlin“ aufmachen, keine Angst. Diese neue Rolle entspricht der, die auch Städte in Polen eingenommen haben: Warschau natürlich oder auch Poznati. Dort wurde gleich neben dem Bahnsteig mit der ehemaligen Werbetafel der PKP das neue, gläserne Eingangsgebäude der Messe hochgezogen.
Berlin ist für viele Polen keine fremde Stadt mehr, sondern eine vertraute. Das liegt nicht nur an den zahlreichen, vielfältigen Berichten, die es auch in polnischen Medien über die deutsche Hauptstadt gibt. Es gibt daneben noch ein anderes Wissen über die Stadt, ein Wissen, das aus eigener Erfahrung und Anschauung herrührt. Dies ist ein ,,Gebrauchswissen“, das bis weit nach Polen hinein verbreitet ist. Der Ethnologe Norbert Cyrus hat das am Beispiel der Pendlerökonomie beschrieben: Es existiert ein engmaschiges Netz an Kontakten, das ganz Westpolen überzieht und es jedem Arbeitssuchenden ermöglicht, bereits zu Hause Kontakt zu seinem neuen Arbeitgeber aufzunehmen (vgl. Cyrus 1997).
Über dieses Gebrauchswissen verfügen aber nicht nur die Pendler, sondern auch die Touristen. Auch sie benutzen Berlin inzwischen mit einer Selbstverständlichkeit, von der man im Westen noch wenig weiß. Die Reisenden aus Szczecin zum Beispiel fliegen nicht von Polen, sondern von Berlin-Tegel aus in den Urlaub. Die junge Wroclawer Musikszene zieht es manchmal eher nach Berlin als nach Warschau. Und die Love Parade, die in Polen Parada Milosci heißt, hat in den vergangenen Jahren Zehntausende junger Polen nach Berlin gezogen.
Richtung Berlin: Das ist eine Bewegung auf vielen Wegen. Berlin ist für polnische Reisende, Besucher und Pendler eine Selbstverständlichkeit geworden, eine Stadt, die nicht mehr nur fremd ist, sondern auch vertraut. Wer von Polen nach Berlin kommt, fährt nicht mehr in die Fremde, sondern ist angekommen.
Die polnischen Hinweisschilder auf den Bahnsteigen von Poznan und Berlin-Alexanderplatz schaffen keine neue Realität, sie bilden sie nur ab. Diese Bewegung in Richtung Berlin ist auch während des Irakkrieges nie abgerissen. Und sie wird auch die Kollateralschäden überstehen, die Donald Rumsfelds Spaltungsversuch hinterlassen haben mag. Schließlich ist auch in Polen, wie es der Publizist Adam Krzeminski formuliert, „Amerika der Traum, Europa dagegen die Wirklichkeit“ (Die Zeit Nr. 25/2001).
Kierunek Warszawa? Das deutsche Desinteresse an Polen
Wie aber sieht es umgekehrt aus? Wie selbstverständlich ist Polen für die Berliner? Gibt es auch eine Kierunek Warszawa, eine „Richtung Warschau“?
Schon ein Blick in die Zeitungen zeigt, dass im deutsch-polnischen Beziehungsgeflecht die Berichterstattung von den „großen Themen“ dominiert wird, von der Osterweiterung der EU, von Staatsbesuchen oder den Schatten der Vergangenheit. Die Vermittlung eines Alltagswissens, wie es die Polen über Berlin verfügen, findet nicht statt. Selbst in den grenznahen Regionalzeitungen finden sich zumeist nur Berichte über Diebstähle oder Schlepperbanden, die Flüchtlinge aus dem so genannten „Warteraum Polen“ über Oder und Neiße bringen wollen. Ambitionierte Projekte, wie eine gemeinsame wöchentliche Seite der Lausitzer Rundschau und der Gazeta Lubuska wurden inzwischen eingestellt. Die Begründung lautete von deutscher Seite: Es gebe kein Leserinteresse.
Und das scheint zu stimmen. Wenn man sich den deutsch-polnischen Pressespiegel im Grenzgebiet anschaut, der bis vor anderthalb Jahren noch von der deutschpolnischen Zeitschrift Transodra und dem Stettiner Zentrum für europäische Integration herausgegeben wurde, stellt man fest, dass auch im Grenzgebiet von polnischer Seite mehr über die deutsche geschrieben wurde als umgekehrt.
Von einem selbstverständlichen Umgang mit Polen kann also von deutscher Seite keine Rede sein. Es herrscht vielmehr eine Asymmetrie der Interessen, wie es der Leiter des Collegium Polonicum in Slubice, Krzysztof Wojciechowski, einmal gesagt hat (die tageszeitung vom 2. September 1998). Während sich immer mehr Polen in Richtung Berlin auf den Weg machen, ist Polen für die meisten Deutschen immer noch weit entfernt.
Dieses Desinteresse macht sich inzwischen auch wirtschaftlich bemerkbar. Während Polen immer mehr in die Europäische Union exportiert, ist es wirtschaftlich in der deutschen Hauptstadt noch nicht wirklich angekommen. So ist der Anteil Berlins am Warenaustausch mit Polen im Vergleich zu den anderen Bundesländern in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, von 2,87 Prozent im Jahre 1991 auf 1,82 Prozent im Jahre 2001. Spitzenreiter sind dagegen Nordrhein-Westfalen (28 Prozent), Niedersachsen (15) und Bayern (knapp 12 Prozent) (vgl. Standke 2000).
Berlin braucht die Kierunek Polska
Je näher der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder in die Europäische Union rückt, desto nervöser allerdings wird man in Berlin. Ist man in der deutschen Hauptstadt wirklich auf den Beitritt vorbereitet? Wie sieht es aus mit der Europatauglichkeit nicht nur der Berliner Wirtschaft, sondern auch der Berliner? Stellvertretend für diese Zweifel widmete sich das Berliner Stadtforum, ein Expertenforum der Berliner Stadtentwicklungspolitik, im November 2001 auf drei Sitzungen diesem Thema. Erstmals wurde dort Klartext geredet. Es sei zum Beispiel nicht hinnehmbar, keine Direktverbindung nach Szczecin zu haben, immerhin die Berlin am nächsten gelegene Großstadt. Es sei ein Skandal, wenn die Fahrgäste im Zug von Kostrzyn nach Berlin schikaniert würden, weil dieser Zug immer noch als Schmugglerzug gilt. Das Polnische dürfe nicht länger eine exotische Sprache sein, sondern müsse Einzug halten ins Curriculum der Berliner Schulen. Endlich müsse man damit beginnen, im öffentlichen Stadtraum auch polnische Hinweisschilder anzubringen.
Diese Selbstkritik richtete sich auf etwas, das tatsächlich selbstverständlich sein müsste: Berlin sollte seine Lage als Grenzstadt oder Tor zum Westen auch als Chance begreifen. Es muss sich seinen Gästen und Bewohnern aus Polen noch weiter öffnen: nicht mehr aus humanitären Gründen wie noch Anfang der 1980er Jahre, als Zehntausende Flüchtlinge der Solidarnosc nach Berlin kamen, sondern aus purem Eigennutz. Berlin muss begreifen, dass es ein Tor zum Osten nur werden kann, wenn es seine Lage als Tor zum Westen und Grenzstadt ernst nimmt.
Um aber einen grundlegenden Wandel einzuleiten, um endlich den so dringend gebotenen Blickwechsel von West nach Ost zu vollziehen, bedarf es mehr als nur politischer Anstöße. Als „Tor zum Osten“ braucht Berlin auch den Gegenblick, die Kierunek Polska. Nicht als ,,Drang nach Osten“, sondern als Gegenstand eines nachbarschaftlichen Interesses, das von nicht mehr und nicht weniger geleitet sein braucht als der Überzeugung, dass ein Abbau der gegenwärtigen Asymmetrie beiden Seiten nutzen würde.
Kierunek Polska – das wäre zum Beispiel die Wahrnehmung einer neuen Geografie in einem Europa, das mit der Osterweiterung zwar nicht „neuer“ im Sinne Donald Rumsfelds wird, wohl aber östlicher. Richtung Polen – das wäre auch eine neue Bewegung im Tourismus, der nicht nur die Älteren an die Ostseeküste, nach Schlesien oder Ostpreußen bringt, sondern auch die Jungen. Richtung Polen – das wäre auch das Stammeln einiger polnischer Wörter, so wie man auch in Italien und Spanien „Ja“, „nein“, „danke“ oder „bitte“ sagen kann.
In Richtung Polen sollte es nicht mehr nur die Glücksritter und Pioniere ziehen, die im „Berlin-Warszawa-Express“ über ihren Laptops sitzen, sondern auch kleine und mittlere Unternehmer, die in den Wojewodschaften Lubuskie, Zachodniopomorskie oder Dolnoslaskie einen Kooperationspartner gefunden haben. Vor allem aber sollten Schüler, Jugendliche und Studenten diese Richtung nehmen und nicht mehr nur nach Westen schauen, nach London oder Paris, sondern auch nach Poznati oder Warschau. Dann würde aus der Kierunek Berlin und der Kierunek Polska auch eine Richtung ins neue Europa sichtbar, ein Aufbruch, an dem nicht nur die polnischen Europäer beteiligt sind, sondern auch die deutschen.
„Risiken der Zwischenzeit“: Zur Zukunft des neuen Europas
Die Konturen dieses neuen Europas sind bereits sichtbar. Nicht nur am Bahnsteig in Poznan wo die Fahrgäste inzwischen immer öfter in den Express nach Berlin als in den nach Warschau einsteigen. Das neue Europa zeigt sich auch dort, wo es sich tatsächlich begegnet: im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Dort hat sich, allen geschilderten Rückschlägen zum Trotz, in den letzten vierzehn Jahren beinahe im Zeitraffer eine Annäherung vollzogen, für die Deutsche und Franzosen oder Deutsche und Niederländer fünfzig Jahre gebraucht haben.
Es ist kein leichter Weg in dieses neue Europa. Das hatte schon der Osteuropahistoriker Karl Schlögel prophezeit, als er vor allem den Westen warnte, ihm stünde bevor, was der Osten längst bewältigt habe. Im neuen Europa, so Schlögel, heiße es, „sich auf die Risiken der Zwischenzeit einzulassen, in der ein alter Zustand unhaltbar geworden ist, ein neuer sich aber noch nicht verfestigt hat; im Provisorium leben zu können, ohne dass dies als Weltuntergang empfunden würde; nicht in Panik und Hysterie zu verfallen, wenn die Selbstverständlichkeiten einer Lebensform aufhören, selbstverständlich zu sein“ (Schlögel 1999).
Die Pioniere, die sich in diesem neuen Europa auf den Weg gemacht haben, wissen es: Eine Alternative zur Kierunek Europa gibt es nicht. Eine Kierunek Washington würde in Polen ebenso wenig Zukunft haben, wie in Berlin ein Richtungswechsel zum Kerneuropa aus Deutschland und Frankreich.
Literatur
Diehl, Anne/Lehmann, Kathrin/Naydenova, Sascha 2000: Nichts liegt näher als Polen; in: Lindner, Rolf/Kumpe, Christian (Hg.): Durch Europa. In Berlin, Berlin
Cyrus, Norbert 1997: Grenzkultur und Stigmamanagement; in: Schriften des polnischen Sozialrats Berlin, April
Standke, Klaus-Heinrich 2000: Die Rolle Berlins innerhalb der Ost-West-Kompetenz der Bundesländer. Rückblick auf ein Jahrzehnt; in: Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, Heft 12
Schlögel, Karl 1999: Berlin und das Städtenetz im neuen Europa; in: Bollmann, Stefan (Hg.), Kursbuch Stadt. Stadtleben und Stadtkultur an der Jahrtausendwende, Stuttgart