Tschechien und der EU-Beitritt: Kaum drin, schon ist alles vorbei?
Die tschechische Gesellschaft scheint auf Grund ihrer — teils selbstgemachten, teils aufgezwungenen – Traumata überdurchschnittlich für Witze anfällig zu sein. Es sei dabei dahingestellt, wie es um deren jeweilige Qualität bestellt ist. Hauptsache, man kann darüber lachen. Noch in der Ära der so genannten realsozialistischen Normalisierung [1] entstand ein Witz, in dem einem Hellseher die Frage gestellt wird, wann man endlich bessere Zeiten erwarten könne. Seine Antwort fällt nüchtern aus: „Die guten Zeiten hat es bereits gegeben.“ Im Lichte des hier durchscheinenden Fatalismus stimmt es einen schon optimistisch, wenn die Tschechen bei Meinungserhebungen den EU-Beitritt ihres Landes mehrheitlich bejahen und damit einhergehend eine klare Verbesserung ihres Lebensstandards erwarten.
Die Zeit der Witze hat damit jedoch keinesfalls ausgedient. Angesichts der Weltlage, der gestörten euro-atlantischen Kommunikation sowie den ungeregelten Umverteilungsproblemen innerhalb der größer werdenden EU könnte bald eine neue Version des Normalisierungswitzes auftauchen. Ob man dann noch lachen wird, bleibt unklar. Es mag zwar zutreffen, dass es – einmal abgesehen von den grundsätzlich optimistisch eingestellten US-Amerikanern – in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nirgendwo eine größere Zukunftsgläubigkeit als in den Ländern der EG bzw. EU gegeben hat. Doch damit scheint es nun vorbei zu sein. Die Perspektiven sind düster. Allerdings kann man zu der Zukunft auch eine durchaus ambivalente Einstellung haben, ohne dass man wüsste, wie die Weichen anders gestellt werden sollten. Dies gilt ganz besonders für die EU – und zwar nicht nur in Bezug auf ihre Mitgliedstaaten, sondern europaweit. Man kann in Europa durchaus über die eigenen Defizite lachen, doch besagt die tschechische Erfahrung, dass es besser ist, zunächst einmal die Probleme zu bekämpfen. Ansonsten droht der EU eine hausgemachte Normalisierung, bei der die Gegenwart zusehends einem Witz gleicht.
Das aber will sicherlich niemand. Vor allem hat es die EU nicht verdient. Doch wie kann die Erfolgstory des 20. Jahrhunderts namens „europäische Integration“ im 21. Jahrhundert genauso erfolgreich fortgesetzt werden? Aus der Perspektive eines Beitrittslandes – welches allerdings seine bisherige zukunftsoptimistische Außenperspektive hoffentlich schon bald gegen diejenige eines Mitgliedsstaates eintauschen wird – lässt sich vielleicht der Bruch in den vor kurzem noch gültigen Grundsicherheiten, für welche die EU stand, am besten wahrnehmen. Tschechien galt zwar nie als musterhaft hinsichtlich der Begeisterungsfähigkeit der Bevölkerung für einen Beitritt zur Gemeinschaft. Aber vielleicht stand dahinter ein perspektivenbedingtes Missverständnis: die tschechische Gesellschaft wollte und will der EU beitreten, sie wünscht das sogar leidenschaftlich – der einzige Haken ist, dass sich dieser Wunsch auf die EU der 1980er bzw. 90er Jahre bezieht, in der die europapolitischen Energien noch ausschließlich auf die Verwirklichung von Wirtschafts- und Währungsunion konzentriert waren.
Das waren noch Zeiten, mag es bei einem solchen Gedanken auch einigen nicht-tschechischen Politikern durch den Kopf schießen: Die Hauptsorgen galten in den Jahren ab 1985 (Bekräftigung des Binnenmarktsprojekts in der „Einheitlichen Europäischen Akte“) bis zur Einführung des Euro am 1. Januar 1999 der umständlichen und kostspieligen Verteilungspolitik, vor allem im Agrarbereich, sowie den potenziellen psychischen Blessuren, die man im Zusammenhang mit der Abschaffung der traditionellen Währungen befürchtete. Parallel dazu gab es noch eine bequeme, für intellektuelle Geister als Kriegsnebenschauplatz höchst lukrative Ablenkung in Gestalt der Auseinandersetzungen über die künftige Vergemeinschaftung der EU (sprich: Erweiterung, Vertiefung und eventuelle Verfassung). Der Rekurs auf diese im Unverbindlichen schwebenden Projekte schien immer wohltuend zu wirken, da er gegenwärtige Unstimmigkeiten als ein vorübergehendes Kapitel auf dem Wege zur grundlegenden Neugestaltung Europas erscheinen ließ. Ende der 1980er Jahre kamen für die happy few der EU dann noch einige unverhoffte Glücksmomente hinzu, etwa die Selbstauflösung des Ostblocks oder die deutsche Vereinigung. Gegen eine solche Traumkonstellation konnten nicht einmal die so genannten tschechischen Eurorealisten[2] (die in Wahrheit eher Europessimisten sind) Einwände erheben.
Doch diese glückseligen Zeiten sind jetzt vorbei. Die Diskussion über die politische Vergemeinschaftung der EU ist längst aus der verträumten Zukunft in die Niederungen der realpolitischen Positionskämpfe herabgesunken. Entscheidend sind hierfür nicht einmal die ungelösten Umverteilungsmaßnahmen. Das zentrale Problem der EU muss ganz woanders ausgemacht werden: Mit der Einführung des Euros hat sich die EU unter Zugzwang gesetzt, der ökonomischen Integration nun zwingend die politische folgen zu lassen. Denn die ganze Konstruktion eines vereinten Europas könnte furchtbar gefährdet werden, wenn nun die weitere Entwicklung ins Stocken geriete. Die Einführung des Euros, so Joschka Fischer 1999 vor dem Europäischen Parlament, „würde sich aber dann als ein großes Risiko erweisen, wenn in der Logik dieses kühnen Schrittes durch die EU nicht weitere, ähnlich kühne Schritte zur Vollendung der Integration – und das umfasst auch zwingend die schnellstmögliche Erweiterung der EU nach Ostmitteleuropa – folgen würden“. Noch vor kurzem hieß es auch in der Europapolitik, dass Träume Wirklichkeit und die Zukunft die Gegenwart werden können. Spätestens seit der Einführung des Euros geht der Satz andersrum: die Träume müssen Wirklichkeit werden, denn die Zukunft spielt sich schon in der Gegenwart ab. Dass dieser Perspektivenwechsel dabei auch mit dem Jahrhundertwechsel einhergeht, mag zwar Zufall sein, kann aber trotzdem als Omen gewertet werden. Die Europäer sitzen so in einer gemeinsamen, wenn nicht gar gemeinschaftlichen Falle: um das vollbrachte Werk nicht zu entwerten, muss man unvermindert in die Zukunft streben, auch wenn viele glauben, dass es die besseren Zeiten bereits in der Vergangenheit gab. Für ein in historischen Schizophrenien geschultes tschechische Auge kaum ein Problem, aber ob die anders sozialisierten „traditionellen“ EU-Bürger eine solche mentale Akrobatik so ohne weiteres hinkriegen?
Man hat übrigens eine ähnliche Situation kürzlich schon einmal erlebt. Es ging um die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder aus dem einstigen gegnerischen Lager des Warschauer Paktes. Auch da sollte ein Akt vollzogen werden, welcher lange Zeit der träumerischen Zukunft zugerechnet worden war. Doch die wirklich historisch zu nennende NATO-Vergrößerung fand ähnlich wie die anstehende EU-Erweiterung unter keinem gutem Stern statt: Damals, 1999, stand der NATO gerade das Bombardement von Milosevics Jugoslawien bevor, eben befand sich die Weltgemeinschaft in einem brisanten Konflikt mit Saddams Irak. Gerade Bündnisse, die auf gemeinsamen Werten basieren, haben zu solchen Zeiten einen äußerst schwierigen Stand. Statt ein Hort für Stabilität und harmonische Konfliktbeilegung zu sein und als Leuchttürme in die Welt hinaus zu strahlen, wirken die beiden traditionsreichen Zusammenschlüsse NATO und EU im Moment besonders anfällig für die eigene Destabilisierung. Dem tschechischen Spottmund mag dies in Anbetracht der gegenwärtigen Kurzschlüsse, welche sich nun auch innerhalb der einstigen Träger der musterhaften Kunst des Interessenausgleichs abspielen, diesmal eher einen resignierten Seufzer entlocken: kaum sind wir drin, scheint es wieder vorbei.
So weit ist es aber bei weitem noch nicht. Weder in Bezug auf die NATO, in der wir Tschechen drin sind, noch im Hinblick auf die EU, wo wir noch eine Weile draußen bleiben müssen. Noch ist das Porzellan weder entlang der transatlantischen Achse noch innerhalb der EU völlig zerdeppert. Es besteht eine Rest-Chance, dass man den einstigen Zukunftsträumen kein Begräbnis der dritten Klasse ausrichten muss, und dass die Verantwortlichen stattdessen lieber an einer gemeinsamen Auffangposition für die vorübergehend ramponierte Zukunftsgläubigkeit arbeiten werden. Wie es die transatlantische Partnerschaft innerhalb der NATO hinkriegen wird, die Konflikte zu kalmieren, ist nicht nur ein Thema für die Europäer. Hier sind vor allem die Amerikaner gefragt, ihre Position zu überdenken. Das aufziehende Knirschen im Gebälk des einst als Vision so pathetisch beschworenen und inzwischen Realität werdenden Europäischen Hauses müssen aber die Europäer selber abstellen. Das einzige der fälligen Reparatur angemessene Werkzeug ist dabei die EU selbst.
Dass dies so ist, haben die erfahreneren Politiker der EU-Mitgliedstaaten längst erkannt. Rat aus Tschechien und anderen Beitrittsländer brauchen sie hierfür nicht. Es ist sogar womöglich egal, welchen formalen Weg man bei den Reparaturversuchen in der Praxis gehen wird. Offen stehen der Weg der Reformen innerhalb der bisherigen Verträge, der Weg der Änderungen bzw. Ergänzungen dieser Verträge, der Weg der so genannten Konsolidierung, d.h. Bereinigung der Verträge, der Weg eines neuen Verfassungsvertrags oder gar der Weg einer gemeinsamen EU-Verfassung. Doch diese Wege an sich sind nicht das Ziel, sondern bloß das Mittel, welches sicherzustellen hat, dass das Ziel nicht aus den Augen verloren wird.
Worauf es tatsächlich ankommt, ist dagegen das Vorhandensein eines gemeinsamen Ansatzes, der sicherstellt, dass diese EU ihren Mitgliedstaaten – inklusive der im Jahre 2004 hoffentlich zu verzeichnenden Neuzugänge – trotz allen Unannehmlichkeiten und Einbußen an Attraktivität jede Mühe wert bleibt. Doch dies wird allein mit den Restvisionen und dem Restpathos der alten Mitgliedstaaten genauso wenig zu schaffen sein, wie mit dem Altwitz und der angewöhnten Abhärtung der Neuzugänge. Es stellt sich auch die Frage, ob diese unterschiedlichen mentalen und visionären Grundausstattungen der Alt-und Neumitglieder der künftigen EU überhaupt harmonieren können. Das gemeinsame „Europäertum“ kann offensichtlich kaum die Rolle eines universal einsetzbaren Schlichtungsmittel erfüllen, mit dem sich jeder Konflikt überdecken lässt. Es ist zwar richtig, dass wir alle Europäer sind. Die unterschiedlichen Lebenswege haben uns jedoch allzu unterschiedlich sozialisiert. Dieser Zustand hält noch an. Der beste Beweis dafür ist das Maß, in dem der Erweiterungsprozess an Ansehen verloren hat und damit den bereits erwähnten Perspektivenwechsel „weg von der Zukunftsgläubigkeit“ europaweit eingeleitet hat.
Die schlichtende Kraft muss also woanders getankt werden. Die EU-Bürger, die alten wie die neuen, dürfen ihre Suche nach der entsprechenden Quelle nicht lediglich auf die verwaltungstechnischen bzw. herkunftsspezifischen Fragen beschränken. Der beständige Wille zu einem institutionalisierten und auch für die komplizierteren Zeiten gewappneten Miteinander sollte von einer gemeinsamen Lebenseinstellung bzw. Erwartungshaltung zehren. „Für totale Begründungen und Änderungen, für absolute Sprünge eines die Geschichte autonom beherrschenden Tätermenschen, seien sie revolutionär oder reaktionär, sterben wir zu früh“, bemerkte zu dieser Problematik der deutsche Philosoph Odo Marquard in einem Spiegel-Interview. Gerade dieses Wissen sollte den Menschen erleichtern, sich ein „Ja zum Unvollkommenen“ abzugewinnen, ohne dabei auf Visionen gleich ganz zu verzichten. Dieses Wissen könnte die EU-Bürger zu einer neuen Loyalität gegenüber „ihrer“ EU motivieren. Gerade dieses Wissen mag uns auch mit einer abgeänderten Zukunftsperspektive wieder versöhnen.
Mein Beitrag über die EU von morgen und zur Überwindung der kriselnden Zukunftsgläubigkeit schließt also mit den Gedanken eines deutschen Philosophen ab. Es mutet nicht unbedingt besonders tschechisch an. Doch auch dies mag nur als ein weiterer Perspektivenwechsel gelten. Oder als ein neuer Witz.
- Die Zeit seit dem Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes im Jahre 1968 bis zum Systemsturz im Jahre 1989.
- Doch auch die tschechischen „Eurorealisten“, wie das jüngste Beispiel ihres Anführers und erst vor kurzem gewählten neuen Präsidenten des Landes, Václav Klaus, bewies, geben sich durchaus entwicklungsfähig: sie bleiben zwar weiterhin von der schädlichen Auswirkung einer weiteren Vertiefung des Integrationsprozesses innerhalb der EU-Strukturen überzeugt, doch sie stellen den Nutzen einer EU-Mitgliedschaft nicht mehr in Frage. Die EU-Mitgliedschaft ist dabei nicht bloß eine historisch bedingte Notwendigkeit, da es dazu keinerlei Alternativen gibt; sie ist inzwischen auch zu einer Art Prestigefrage geworden und als solche durchaus wettbewerbsfördernd.