Editorial
Die Vorzeichen hätten schlechter kaum sein können: Die Erweiterungsentscheidung der Europäischen Union fiel im April 2003 mitten in der vielleicht schwersten Krise der Gemeinschaft seit ihrer Gründung. Die Frage nach dem Sinn und der Legitimität des Irak-Kriegs spaltete in diesen Monaten die Europäer so tief, wie es Milchquotenkonflikte nie vermocht hatten. Auf die Frage, ob sich denn ein Land wie Spanien langfristig ins europäische Boot zurückholen lasse oder nunmehr ausschließlich die transatlantische Nachbarschaft zu den USA pflege, antwortete Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker: Er wisse nicht mehr, in welches Boot man jemanden zurückholen solle, es gäbe davon zu viele. „Und bald ist jeder im Wasser und niemand mehr im Boot.“
Die dramatische Uneinigkeit der Union in der Irak-Frage drohte auch den Quantensprung zu überschatten, den die Osterweiterung für das Projekt Europa bedeutet: Noch nie ist die Gemeinschaft auf einen Schlag um so viele neue Mitglieder gewachsen. Die damit verbundenen Probleme sind auch ohne außenpolitische Zerwürfnisse konfliktträchtig genug: Es geht nicht nur um finanzielle Transfers im Zuge der Erweiterung, sondern auch um die innere Ausgestaltung des vergrößerten Europas. Hier gibt es ein realpolitisches Governance-Problem, aber auch ein normatives Demokratie-Defizit. Setzen sich die Staats- und Regierungschefs durch, bleiben die Regierungen der Nationalstaaten die eigentlichen Machthaber in Europa, die sich ungestört und abgeschirmt den Agrarsubventionen widmen können, während die EU-Grundrechte-Charta ohne größere Folgen bleibt.
Doch trotz allem Geschacher um Quoten, Quoren und Verteilungsschlüssel: Die Erweiterung der EU ist ein eminent politisches Projekt. Mit ihr ist die Spaltung Europas fast fünfzehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer endgültig an ein Ende gekommen. Die ostmitteleuropäischen Beitrittsstaaten stehen nach einer Phase rapider gesellschaftlicher Transformation vor ihrer europäischen Zukunft. Allerdings kann von einer ungetrübten Heimkehr der ost- und mitteleuropäischen Brüder und Schwestern nach dem Ende der kommunistischen Diktatur nicht die Rede sein. Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész hat auf die fortdauernde Existenz der „zwei Europas“ hingewiesen: „Es gab einmal einen Marshallplan, aber es gab auch ein Jalta-Abkommen, und diese beiden bestimmten lange Zeit das Bild unseres Kontinents, ja der Welt. […] Westeuropa befand sich in dieser Zeit in einer ziemlich bequemen Situation: Es hatte unter dem Schutz der Vereinigten Staaten ’nur‘ die eigenen Probleme zu lösen, den Wohlstandsstaat zu schaffen und die Demokratie aufrecht zu erhalten. […] Aber diese trügerische Sicherheit Westeuropas stand auf einer amoralischen Grundlage – sofern wir unter Amoralität hier die Missachtung der eigenen, sich selbst gesetzten moralischen Normen verstehen. Denn von hier aus betrachtet, der östlichen Seite der Mauer oder des Eisernen Vorhangs, nahm sich der Mangel an Solidarität, wie die hiesigen kleinen Staaten ohne Bedingungen dem großen Freibeuter des Ostens, der stalinistischen Sowjetunion, hingeworfen wurden und wie diese Tat danach in selbstgefälliger Konformität zur unverrückbaren Grundlage der Weltstabilität, des Weltfriedens erklärt wurde, wie Unmoral aus. Seinen Garten im Schatten eines schändlichen Paktes zu bestellen, mag zwar eine angenehme, sogar nützliche Beschäftigung sein, aber dass in einem solchen Garten der europäische Gedanke nicht gedeiht, daran können wir nicht zweifeln. In welchem Maße nicht, zeigt die nun schon fast zehn Jahre dauernde besorgte Herumrechnerei, wie viel die Europäische Union eine Osterweiterung kosten würde, was zwar von nüchternem Verstand, jedoch von einem verkalkten Gefäßsystem und steinhartem Herzen zeugt.“
Bestätigt Kertész damit nicht im Grunde die Rumsfeldsche Dichotomie Old Europe versus New Europe? Auch wenn der Falke in Washington mit seiner polemischen Attacke auf die Demütigung der Kriegsgegner aus war: Beide verweisen jeweils auf die überwunden geglaubten mentalen Gräben, die in Europa auch nach der Erweiterung fortwirken. Diese gilt es jetzt zu überwinden, um eine attraktive Mischung aus Neu und Alt zu bekommen. Und selbst in den schlechten Vorzeichen lassen sich Hoffnungsschimmer entdecken: Schließlich wäre es nicht das erste Mal in der Geschichte der europäischen Einigung, dass am Anfang eines erfolgreichen Weges eine schwere Krise als Geburtshelfer gestanden hätte.
Diese vorgänge-Ausgabe macht die EU-Osterweiterung zum Thema. Der Schwerpunkt liegt dabei auf unseren Nachbarn Polen und Tschechien. In einer tour d’horizon informiert Wolfgang Ismayr über die institutionellen Wandlungsprozesse, die die politischen Systeme der Beitrittsländer seit 1989 hinter sich haben – es sind vielfach ähnliche, allesamt erstaunlich weite Wege, die diese Staaten in diesen vierzehn Jahren zurückgelegt haben. Uwe Radas Essay kontrastiert die politische Großwetterlage mit dem deutsch-polnischen Beziehungsalltag: Noch ist hier unter Nachbarn leider das Interesse am Westen weitaus größer als umgekehrt. Daria Dylla und Thomas Jäger untersuchen detailliert die öffentliche Meinung in Polen hinsichtlich Europas und vor allem des europäischen EU-Beitritts. Sie hinterfragen, weshalb die polnische Regierung – anders als andere Beitrittsländer – darauf verzichtet hat, frühzeitig eine Informationskampagne zu starten und weshalb so das Thema EU zum Spielball diverser europaskeptischer Populisten werden konnte. Gesine Schwan stellt am Beispiel der Europa-Universität Viadrina dar, welche Rolle Wissenschaft für die Völkerverständigung und das Zusammenwachsen Europas spielen kann. Tomás Kafka schildert die Erwartungen an Europa in der tschechischen Gesellschaft und kommt zu dem Schluss, dass sein Heimatland liebend gerne der EU der 1980er Jahre beigetreten wäre. Immer wieder wurden die sogenannten Beneg-Dekrete als Hindernis für den tschechischen EU-Beitritt bezeichnet: Samuel Salzborn verweist auf die hinter dieser Propaganda stehenden Vertriebenenverbände, die hier ihre vielleicht letzte Schlacht geschlagen haben. Folgt man Lutz Mez, steht der erweiterten EU energiepolitisch viel Ärger ins Haus: In Ostmitteleuropa setzen die meisten Regierungen noch immer auf die Kernkraft. Welche Reaktoren besonders bedrohlich erscheinen und was die EU unternommen hat, um die von ihnen ausgehenden Risiken zu mindern, ist Gegenstand seines Beitrags. Martin Frenzel analysiert, warum sich die europäische Sozialdemokratie in die Euro-Falle begeben hat und wie eine Wiederbelebung sozialdemokratischer Politik auf EU-Ebene eingeleitet werden könnte. Wie immer rundet der Literaturbericht den Thementeil ab.
Im Essay skizziert Joachim Raschke ein Szenario für die Zukunft der Grünen nach Fischer: Für die Partei könnte ein Wechsel des heimlichen Vorsitzenden in das Amt eines EU-Außenministers durchaus Chancen bergen und nicht nur für die innerparteiliche Demokratie positive Folgen haben – wenn sie sich weiterhin als rot-grüne Lagerpartei versteht und von schwarz-grünen Experimenten ablässt.
In den Kommentaren und Kolumnen untersucht Stephan Lanziger die Gründung, Konsolidierung und publizistische Ausrichtung des qatarischen Senders Al-Jazeera, der auch im jüngsten Irak-Krieg wieder eine exponierte Rolle gespielt hat – die erste systematische Arbeit über diesen Sender in Deutschland. Michael Koß analysiert die Parteienfinanzierungsfalle, in die die Parteien Frankreichs und England – bald auch Deutschlands? – mehr und mehr gedrängt werden. Wie es um die erneuerbaren Energien in den USA gegenwärtig bestellt ist, erfährt man im Beitrag Carsten Ruhnaus: er verweist auf politische Rahmenbedingungen der letzten Jahrzehnte, Förderinstrumente und Gefährdungen des weiteren Ausbaus. Ulrich Finckh beschäftigt sich einmal mehr mit der Zukunft der Wehrpflicht. Seine Analyse bestätigt: Kehrt die Bundeswehrführung wirklich zu den Vorgaben der Weizsäcker-Kommission zurück, kommt die Wehrpflicht bald an ihr definitives Ende, da sich dann nicht einmal mehr die Fiktion von Wehrgerechtigkeit aufrecht erhalten lässt. Rezensionen und eine Dokumentation runden das Heft am Ende ab.
Noch ein Hinweis in eigener Sache: Unser Redaktionsmitglied Prof. Dr. Jürgen Seifert ist am 18. April 75 Jahre alt geworden. Redaktion und Verlag gratulieren ihm herzlich.
Thymian Bussemer und Alexander Cammann