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Politik und öffentliche Meinung in Polen, Die Legiti­ma­tion des Beitritts zur EU

Der bevorstehende Beitritt der osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union erfährt in Deutschland wachsende Aufmerksamkeit. Vergleicht man die Zahl der Beiträge in deutschen Printmedien zum EU-Beitritt Polens, dem größten Integrationsland, lässt sich die in den letzten Jahren stark zunehmende öffentliche Beachtung dieses Themas nicht übersehen.[1]

Bemerkenswert ist, dass all diese Presseberichte fast ausschließlich von dem Problem der Integration Polens in die Strukturen der erweiterten EU handeln, während die innenpolitischen Probleme, die in Polen im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt ausgetragen werden, in der bundesdeutschen Wahrnehmung so gut wie keine Rolle spielen.[2] Selbst die Tatsache, dass die Regierung von Leszek Miller unlängst an unterschiedlichen europapolitischen Positionen zerbrochen ist, hat die Aufmerksamkeit nicht auf den innerpolnischen Europa-Diskurs gelenkt. Dies verwundet um so mehr, da in Polen das Referendum über den EU-Beitritt des Landes am 7. und 8. Juni 2003 unmittelbar bevorstand und spätestens dann die öffentliche Meinung der Polen von zentraler Bedeutung für die Legitimation der polnischen Europapolitik war – wenn auch möglicherweise nicht ausschlaggebend für die Entscheidung zum Beitritt, weil der Sejm die Bedeutung des Referendums kürzlich eingeschränkt hat. Dies in Rechnung gestellt, erscheint eine Analyse der öffentlichen Meinung in Polen im Hinblick auf Europa und den EU-Beitritt des Landes eine vordringliche Aufgabe.

Ein ökono­mi­sches Modell der Politik

Um mit einer theoretischen Überlegung zu beginnen: Die ökonomische Theorie der Politik modelliert das Verhältnis zwischen Politikern und Bürgern als Markt, auf dem sowohl die Produzenten wie auch die Kunden als Anbieter und Nachfrager zugleich auftreten. Die Produzenten (Politik) bieten „Produkte“ an und fragen Unterstützung nach. Die Kunden (Bürger) bieten Unterstützung, verlangen dafür aber entsprechende Gegenleistungen. Einerseits müssen sich die Anbieter an die Bedürfnisstruktur der Nachfrager anpassen, andererseits versuchen sie jedoch, diese zu beeinflussen. Ebenso verfahren die Nachfrager: sie treten mit bestimmten Erwartungen an die Anbieter heran, lassen sich aber durchaus Alternativen unterbreiten. Die ökonomische Theorie der Politik ist als analytisches Instrument weit verbreitet. Sie kann auch bei der Klärung der Frage helfen, ob die politische Steuerung der öffentlichen Meinung durch die politische Klasse erfolgt (top-down) oder aus der Gesellschaft heraus Interessenpräferenzen durchgesetzt werden (bottom-up).

Vor allem bei den außenpolitischen Fragen, die in der Regel unübersichtlich und kompliziert sind, ist es wahrscheinlich, dass die Bevölkerung sich stark an den Vorgaben der Politik orientiert, da ihr unmittelbare Erfahrungen in diesem Bereich meist fehlen. Dies eröffnet der politischen Klasse die Möglichkeit, auf die Ausbildung von Präferenzen und kollektiven Stimmungen einzuwirken. Dabei entfalten die vorhandenen Informationsasymmetrien Wirkung, denn die Politik verfügt nicht nur über Herrschaftswissen; auch die Kosten der Informationsgewinnung sind für die Bürgerinnen und Bürger in der Regel unangemessen hoch. Den unterschiedlichen politischen Parteien kommt deshalb die Aufgabe zu, im Wettbewerb verschiedene Standpunkte anzubieten, die den Bürgern dann als Orientierungsmarken dienen können. Dies setzt allerdings voraus, dass die Politik entsprechende Positionen als Angebote an die Öffentlichkeit kommuniziert. Wird das von einer Seite vernachlässigt – etwa weil das in Frage stehende Thema als nicht stimmenergiebig eingeschätzt wird – können andere auf diesem Themenfeld mehr oder minder uneingeschränkt agieren. Dies war beispielsweise bei dem Referendum über die Nizza-Beschlüsse in Irland der Fall. In die Passivität der politischen Elite hinein hatten die Gegner eine ausgezeichnet vorbereitete Kampagne für die Ablehnung des Vertrages lanciert. Nach der Mobilisierung der Erweiterungsbefürworter und mittels einer massiven Informationskampagne wurde dagegen bei der zweiten Abstimmung die Zustimmung erreicht. In Polen wird man möglicherweise einen ähnlichen Vorgang beobachten können, allerdings sind die legislativen Grundlagen des Prozesses hier komplizierter.

Europa – in Polen kein Thema?

Eine Analyse der kommunikativen Vermittlung der polnischen Europapolitik in die polnische Gesellschaft hinein zeigt, dass die Regierung das Thema EU-Beitritt lange Zeit der Opposition überlassen hat und nun – in einer Art Aufholjagd – versucht, die öffentliche Stimmung pro Europa zu beeinflussen. Nachdem die Zustimmung zur europäischen Integration von 80 Prozent im Mai 1996 (CBOS 7-10 XII 2001) auf 47 Prozent im Oktober 2000 (OBOP 28-30 X 2000) gesunken war, wurde eine intensive Informationskampagne gestartet. Damit versuchte man, den einmal angerichteten Schaden wieder gutzumachen, denn die nachlassende Zustimmung zu Europa ist vor allem die Folge einer bewussten politischen Entscheidung der Regierung Buzek, die Beitrittsverhandlungen zur ausschließlichen Regierungsdomäne zu machen [3] und die Gesellschaft von diesem Prozess weitgehend auszuschließen.

Nur dem nationalistisch-katholischen Flügel der mitregierenden Partei AWS (Akcja Wyborcza Solidarnosc/Wahlaktion Solidarnosc) war von vorneherein bewusst, dass mit dem Thema EU-Beitritt auch Wähler zu gewinnen sind. Die anderen Regierungsparteien gingen offensichtlich davon aus, dass eine unmittelbar vor dem Referendum gestartete Informationskampagne ausreichen werde, die nötige Zustimmung zu erzielen. Während Ungarn bereits 1995 eine Informationsstrategie zum EU-Beitritt entwickelte und Tschechien ab Januar 1998 ein Programm zur Bürgerinformation umsetzte, hat Polen erst ein Jahr nach der Verhandlungsaufnahme solche Maßnahmen vorgestellt.

Die Tatsache, dass die polnischen Regierungsparteien das Thema EU-Beitritt nicht zur Mobilisierung von Stimmen und Unterstützung benutzt haben, lässt sich durch das außerordentlich geringe Interesse der Bürger an europäischen Fragen erklären. Nur 4 Prozent der Bevölkerung versprachen sich im Jahr 2000 einen persönlichen Vorteil vom Beitritt zur EU (Kucharczyk 2000/2001: 78). Wie das Institut für Öffentliche Angelegenheiten (ISP) im Juni 2000 erhob, interessierten sich 50 Prozent der Polen überhaupt nicht für die Integration (CBOS: 11-14 X 2002), wobei das mangelnde Interesse vermutlich mit der Erwartung zusammenhing, dass der EU-Beitritt nur geringe Auswirkungen auf die persönliche Lebenssituation haben werde. Noch im Mai 2001 sagten nur 50 Prozent der Befragten, dass sie über den Integrationsprozess mit Freunden und Verwandten gesprochen hätten (Roguska/Strzeszewski 2001). Im März 2001 war die Zahl derjenigen, die die Bedeutung der EU-Integration als für sie persönlich niedrig einschätzten, im Vergleich zum September 2000 sogar noch um 2 Prozentpunkte auf 50 Prozent gestiegen (CBOS 2-5 III 2001). Der Zusammenarbeit Polens mit der EU wurde von der Hälfte der Befragten nur geringe Bedeutung beigemessen (ebd.). Die Integration, so die Erwartungen, werde sich kaum auf Familien (CBOS 11-16 V 2000), Kultur (ebd.) und Religion (Zagorski/Strzeszewski 2000: 227) auswirken. Ob der Beitritt mehr Vor- oder Nachteile bringen würde, konnten auch 1998 30 Prozent der Bürger nicht beantworten (Strzeszewski 2001: 85-123). Aber 22 Prozent gaben damals an, die EU-Mitgliedschaft werde ihre persönliche Situation entscheidend beeinflussen (Rzeczpospolita v. 18.03.1998). Ein Jahr später konnten weiterhin 29 Prozent nicht beurteilen, ob die Konsequenzen der Integration positive oder negative Auswirkung auf ihre persönliche Lage hätten (Zagorski/Strzeszewski 2000: 221). Bei der Frage nach dem wichtigsten Ereignis des vergangenen Jahres haben 1998 nur 5 Prozent die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen genannt (CBOS 3-8 XII 1998). Ähnlich geringe Bedeutung wurde den Verhandlungen auch in den nächsten Jahren zugeschrieben, in denen lediglich 2 Prozent (2000) und 3 Prozent (2001) den polnischen Weg zur Mitgliedschaft für besonders- wichtig erachteten (CBOS 1-4 XII 2000; 7-10 XII 2001).

Die folgende Tabelle illustriert, dass im Jahr 2001 darüber hinaus die politischen Kernfragen des Beitrittsprozesses (aquis communautaire, Schengen-Abkommen, Strukturfond) der polnischen Bevölkerung mehrheitlich unbekannt waren (vgl. Roguska/Strzeszewski 2001).

Unsicherheit bestimmte gleichzeitig die erwarteten Folgen des EU-Beitritts (Kosela 2002: 204 u. 210). Darüber hinaus wussten im Mai 2000 43 Prozent der Befragten nichts über den Fortgang der Verhandlungen zu sagen (CBOS 11-16 V 2000). Noch Mitte 2002 wussten 53 Prozent der Befragten nicht, wer für die Verhandlungsführung in Polen verantwortlich ist (GfK Polonia VI 2002). 69 Prozent gaben außerdem an, nichts über den Europäischen Konvent gehört zu haben (CBOS 1-4 III 2002). Darüber hinaus konnten 30 Prozent keine Gründe für die Integration angeben (GfK Polonia VII 2002/UKIE).Da der Regierung gleichzeitig pauschal vorgeworfen wurde, die polnischen Interessen bei den Beitrittsverhandlungen nur unzureichend zu vertreten, ergaben sich hier Legitimationsdefizite, die durch ein insgesamt instabiles Meinungsbild und parteipolitische Kampagnen von EU-Gegnern noch verstärkt wurden. Zum zentralen Thema wurde dabei die Frage des Grunderwerbs durch Ausländer. Bereits im Juli 1999 wurde ein Regierungspapier über den Grunderwerb präsentiert. Man einigte sich intern auf eine Übergangsfrist von 18 Jahren für den Erwerb von Agrarboden (Rzeczpospolita v. 15.07.1999). Zwei Monate später, während einer parlamentarischen Debatte über den Integrationsprozess, wurde der Übergangsfrist für den Bodenerwerb die oberste „Priorität in den polnischen Verhandlungen mit der EU“ [4] eingeräumt. Hier wurde wahlpsychologisch geschickt nach der Maxime vorgegangen: „Wem es gelingt, in der Öffentlichkeit als Beschützer der Individualrechtsgüter wahrgenommen zu werden, wird tendenziell Wählerstimmen hinzugewinnen.“ (Silier 2000: 16) Die weit verbreiteten Befürchtungen vor einem Ausverkauf des Landes an die Deutschen wurden nun von der Regierung aufgegriffen und zur Legitimierung ihrer Politik eingesetzt. Ansonsten aber tat die Regierung nicht viel. So war die Frage der Erweiterung zwar nicht ganz aus der Öffentlichkeit verschwunden, aber vor allem der nationalistischen Rhetorik der Europagegner überlassen. Die Regierung Buzek hatte nicht nur versäumt, die Öffentlichkeit bei den Europaentscheidungen einzubeziehen, sondern auch übersehen, dass sie die Europadebatte mittlerweile den Integrationsgegnern überlassen hatte.

Souve­rä­nität, Identität, Boden

Politische Parteien, die Wählerstimmen gewinnen wollen, konzentrieren sich in allen Demokratien auf diejenigen Fragen, die eine gesellschaftliche Resonanz erzeugen können. Wenn ein Thema hoch oben auf der öffentlichen Agenda steht, kommt es oft vor, dass Lücken bei den Informationen die Neigung zum Ausgleich dieses Defizits durch Emotionen verstärken. Auf diesem Ansatz basierte auch die Strategie der polnischen Beitrittsgegner. In der Berufung auf nationale Symbole und Mythen, kollektive Erinnerungen und die Vergangenheit wurde vor allem eine nationalistische Rhetorik als besonders taugliches Mittel eingesetzt, wobei vor allem die Fragen des Souveränitäts- und Identitätsverlustes sowie des Ausverkaufs polnischen Bodens thematisiert wurden. Die in Polen verwurzelte Assoziation von Souveränität und Territorium, die Gleichsetzung von Landverteidigung und Patriotismus, die Verknüpfung von Boden und staatlicher Unabhängigkeit wurden von den Beitrittsgegnern erfolgreich instrumentalisiert. Nicht nur die katholisch-nationalistischen Gruppierungen, sondern auch die Selbstverteidigung und die Bauernpartei nutzten diese Stimmung. Denn die Mehrheit der Landbevölkerung ist weiterhin überzeugt, dass die Gefahr besteht, die Deutschen könnten das Land systematisch aufkaufen (Rzeczpospolita v. 15.7.1999).

Ihren Höhepunkt erreichte die politische Instrumentalisierung des Landverkaufs im November 2001, als eine neue elastische Regierungsposition bezüglich der Übergangsfristen verlautbart worden war. Eine um sechs Jahre verkürzte Kaufbeschränkung für den Agrarboden und der Verzicht auf eine Übergangsfrist beim Grundkauf für Investitionszwecke wurde durch die Beitrittsgegner als Affront gebrandmarkt.[5] Im selben Monat wurde von der nationalistischen LPR (Liga Polskich Rodzin./Liga polnischer Familien) und der populistischen Selbstverteidigung ein Referendum über den EU-Beitritt beantragt, wonach sich die polnische Nation noch vor dem Verhandlungsabschluss für oder gegen die Mitgliedschaft aussprechen sollte. Begründet wurde dies damit, dass der Ausverkauf polnischen Eigentums und der daraus resultierende Souveränitätsverlust bereits eingesetzt habe.[6] Darüber hinaus werde mit dem Referendum der polnischen Gesellschaft die Chance gegeben, eine Entwicklung zu verhindern, die zur Herabwürdigung Polens zu einem Absatzmarkt und einer Müllhalde führe.[7]

Die Ablehnung ihres Antrags im Sejm hinderte die LPR-Abgeordneten nicht, im Januar 2002 einen neuerlichen Antrag zu stellen. Die polnische Bevölkerung sollte diesmal darüber abstimmen, ob sie für oder gegen das Verbot, Land- und forstwirtschaftliche Flächen an Ausländer zu verkaufen, sei. Hätte eine solche Abstimmung tatsächlich stattgefunden, hätten die Europagegner wohl ihren großen Sieg feiern können, denn Meinungsumfragen zufolge waren 76 Prozent der Polen nicht mit der Kompromissposition der Regierung einverstanden (Estymator 5-7 III 2002). Obwohl über den Landverkauf letztlich nicht abgestimmt wurde, hatten die Integrationsgegner zumindest ein Ziel erreicht: in der polnischen Gesellschaft wurde erneut mit nationalistischen Parolen über den Landverkauf diskutiert. Die Auseinandersetzung um eine möglichst lange Übergangsfrist und die Angst vor einer Rückkehr der deutschen Vertriebenen wurden politisch derart laut instrumentalisiert, dass kaum eine parlamentarische, die Westbindung Polens thematisierende Debatte stattfand, in der diese Fragen nicht diskutiert wurden. Fraglich aber ist, ob die „Verteidigung des Bodens“ wirklich die wichtigste Frage in Polen war oder ob sie nur besonders große Resonanz erfahren hat.[8] Muss die Debatte tatsächlich als Folge tief verwurzelter Ängste und traumatischer Erfahrungen aus der Teilungs- und Kriegszeit verstanden werden oder wird die Vergangenheit von einigen Akteuren politisch geschickt instrumentalisiert?

Gemessen wird mit zweierlei Maß

Eine Antwort auf diese Frage kann ein Vergleich von Umfrageergebnissen erbringen, wenn nämlich zwischen direkt und indirekt auf das Bodenproblem bezogenen Fragen unterschieden wird. Die Ergebnisse zeigen, dass bei direkten Fragen nach der Erlaubnis zum Bodenkauf durch Ausländer eine eindeutige Ablehnung geäußert wird, während bei anders formulierten, nicht direkt das Thema berührenden Fragen der Komplex nicht einmal unter den drei wichtigsten Beitrittsproblemen aufgelistet wird.

Im Jahr 2000 glaubten 64 Prozent der Befragten, der Landverkauf sei als Folge der EU-Integration zu erwarten (Strzeszewski 2001: 85-123). Im Januar 2002 waren 37 Prozent der Auffassung, der Erwerb des Agrarbodens durch Ausländer solle völlig verboten werden. Sie dürften, so 27 Prozent der Befragten, ebenso kein Recht auf Landkauf für Investitionszwecke eingeräumt bekommen (Ipsos-Demoskop 12 I 2002). Eine große Mehrheit der Polen (74 Prozent) vermutete, dass eine kürzere Übergangsregelung für den Bodenerwerb durch Ausländer einen Zerfall kleiner und mittlerer Unternehmen verursachen würde, wobei 50 Prozent davon überzeugt waren, dass eine Aufhebung der Übergangsfrist negative Folgen für die polnische Wirtschaft zeitigen würde (OBOP 517 IV 2000). Dass eine Sonderregelung für den Grunderwerb notwendig sei, gaben 82 Prozent der Polen an (CBOS 7-10 XII 2001), wobei 60 Prozent den EU-Beitritt ablehnten, wenn dieser unbeschränkte Erwerbsmöglichkeiten polnischen Bodens mit sich bringe (Ipsos-Demoskop 13-16 X 2000).

Bei offen gestellten Fragen verliert das Thema dann drastisch an Bedeutung. Dies stellte sich zum Beispiel kurz vor den letzten Parlamentswahlen heraus, als nach den Prioritäten der Regierungsarbeit gefragt wurde. Innenpolitische Aufgaben dominierten und lediglich 3 Prozent waren der Ansicht, die neue Regierung solle sich vor allem mit dem „Ausverkauf Polens“ beschäftigen (CBOS 13-15 IX 2001). Darüber hinaus war dieses Thema einer im Juli 2001 durchgeführten Befragung zufolge nur für 1 Prozent und der Souveränitätsverlust für 2 Prozent der Befragten das Hauptmotiv für die Ablehnung des Beitritts (CBOS 6-9 VII 2001). Auf die im Jahr 2000 gestellte Frage, welche Verhandlungsthemen am wichtigsten seien, antworteten 80 Prozent „Hilfe für die Bauern“ und lediglich 17 Prozent wiesen auf den Bodenverkauf hin (Jaworski 2001: 135149). Nur 6 Prozent der Polen erklärten, über den Bodenverkauf an Ausländer mit Freunden oder der Familie gesprochen zu haben; die Souveränitätsfrage als Gesprächsgegenstand wurde überhaupt nicht genannt (Roguska/Strzeszewski 2001).

Ebenso auffällig sieht eine Zusammenstellung von Antworten aus, die zweimal auf die Frage „Über welche Verhandlungsthemen wollen sie informiert werden?“ erhoben wurden. Beim ersten Mal, als die Befragten selbstständig ihre Antworten gaben, wollten nur 4 Prozent über die Bodenfrage Informationen bekommen, während bei vorgelegten Antworten 10 Prozent dieses Thema auswählten. Ähnlich bei der Frage nach der polnischen Souveränität: bei der offenen Frage wurde sie überhaupt nicht genannt, bei vorgelegten Antworten wollten 17 Prozent über den Status der staatlichen Souveränität nach dem Beitritt informiert sein (Roguska/Strzeszewski 2002).

Überraschend ist dabei die Einstellung der Befragten gegenüber der Identitäts- und Souveränitätsfrage, deren Gefährdung vermeintlich unmittelbar mit dem „Ausverkauf der Heimat“ und der „Rückeroberung der Grenzgebiete“ zusammenhängt. In einer 1999 durchgeführten Befragung glaubten 41 Prozent, Polen werde mit dem Beitritt seine Souveränität stärken, 25 Prozent waren anderer Meinung, und 21 Prozent erwarteten keine Änderung (OBOP 11-16 V 2000). Ein Jahr später wurde gefragt, wie sich die EU-Mitgliedschaft auf die nationale Identität auswirken werde. 43 Prozent waren auch jetzt der Ansicht, dass die nationale Identität nach der Aufnahme intensiver werde, 25 Prozent befürchteten, ihre Identität zu verlieren, und 26 Prozent erwarteten keine Änderungen.

Erstens kann man aus den Daten erkennen, dass der behauptete dominierende Zusammenhang zwischen dem Verkauf von Agrarland an Ausländer und den Befürchtungen des Souveränitätsverlustes nicht besteht. Zweitens wird deutlich, dass die beiden Themen in der polnischen Gesellschaft keine genuine Priorität haben, aber sehr wohl mobilisierend genutzt werden können. Drittens schließlich ist zu erkennen, dass diese Themen Mehrheiten mobilisieren können, wenn sie die politischen Diskurse dominieren.

Die Reaktion der Regierung

Diese Beispiele zeigen, wie stark die polnische Bevölkerung als Kollektiv für emotional mit der Vergangenheit verbundene Fragen empfänglich und zur Übernahme der von Europaskeptikern geäußerten Meinungen bereit ist. Werden sie jedoch mit Fragen konfrontiert, die die persönliche Situation unmittelbar betreffen, erweist sich das Bedrohungsgefühl als oberflächlich oder sogar fiktiv. Daraus wurde auf Seiten der Regierung geschlussfolgert, dass konkrete Informationen über den erwartbaren Nutzen und die Kosten der EU-Mitgliedschaft sowie über die Auswirkungen auf die soziale und ökonomische Lage der Bürgerinnen und Bürger zwar nicht notwendig die Zustimmung zum EU-
Beitritt begründen, aber sehr wohl die nationalistischen Diskurse zurückdrängen können. Zudem brachten die Parlamentswahlen im September 2001 erstmals auch jene Parteien in den Sejm, welche die EU-Integration offen kritisieren. Ihre ablehnende Stimme ist seitdem noch lauter zu hören. Die Befürchtung, dass die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft weiter sinkt sowie der starke Wunsch einer Mitregierungspartei (der SLD), durch den Beitritt Polens zur EU ihre kommunistische Vergangenheit im Gedächtnis der Bürger endgültig zu begraben, führten dazu, dass das Integrationsthema im Wettbewerb zwischen den Parteien nunmehr ernsthaft bearbeitet wurde.

Obwohl die Erwartungen an die neue Regierung wenig mit europäischen Fragen zu tun haben (CBOS: 13-16 IX 2001), hat die SLD beschlossen, eine Informationskampagne als Strategie zur Stimmenmaximierung einzusetzen. Diesem Anliegen folgten alle Parteien im Sejm. Nachdem die Parteien nun endlich den EU-Beitritt thematisierten, schlossen sich die Medien an. Um das Interesse an der EU zu wecken, sollte vor allem die persönliche Lebenssituation der Menschen angesprochen werden. Im Mai 2002 startete der erste Teil einer neuen Informationskampagne, welche die Menschen davon überzeugen sollte, „dass die EU das Beste ist, was in den letzten Jahrzehnten auf unserem Kontinent passieren konnte.“[9] Die gesellschaftlichen Ängste und Stereotype sollen abgebaut werden, indem auf konkrete Anliegen und Befürchtungen der Bürger eingegangen wird (Rzeczpospolita v. 15.01.2003). Dies werde, so die Erwartung, das Interesse an den Europafragen wecken und die Partizipationsbereitschaft am EU-Referendum erhöhen.

Fazit

Welche Resultate hat die massive Informierung der polnischen Gesellschaft seither erbracht? Im Vergleich zum Juni 2000 ist im Oktober 2002 das Interesse an der EU-Integration um 19 Prozentpunkte auf 69 Prozent gestiegen. Nur 19 Prozent der Polen geben an, sich für den Beitritt nicht zu interessieren; 2000 waren es noch 50 Prozent (CBOS 11-14 X 2002). Die Zahl derer, die sich in Europafragen gut informiert fühlen, hat sich in den letzten Monaten auf niedrigem Niveau leicht erhöht, von 7 Prozent im März 2001 auf 12 Prozent im Oktober 2002 (ebd.), wobei nicht übersehen werden darf, dass sich 72 Prozent der Landbevölkerung immer noch schlecht über die Beitrittsprobleme informiert fühlen (Rzeczpospolita v. 12.03.2002).

Die führenden polnischen Meinungsforschungsinstitute erwarteten nun auch eine erhöhte Partizipationsbereitschaft für das EU-Referendum. 74 bis 78 Prozent der Bevölkerung wollten sich am Referendum beteiligen. Von diesen beabsichtigten 69 Prozent dem Beitritt zuzustimmen (CBOS 1-4 III 2003). Sollte beim Referendum das Quorum (50 Prozent der Wahlberechtigten müssen an der Abstimmung teilnehmen) erreicht werden – was noch ungewiss ist -, scheint eine Zustimmung ziemlich sicher.[10]

Die politische Klasse Polens hat in letzter Minute auf die Möglichkeit reagiert, dass das Quorum im Referendum nicht erreicht werden könnte (denn dies hätte bis Mitte April 2003 bedeutet, dass der Beitritt damit abgelehnt worden sei): Auf Initiative des Präsidenten verabschiedete das Parlament am 14. März 2003 ein Gesetz [11], das es dem Sejm zuweist, über das weitere Verfahren abzustimmen, sollte die Volksabstimmung nicht genügend Beteiligung erfahren. Dann besteht die Möglichkeit, ein zweites Referendum anzusetzen oder aber die Entscheidung in die beiden Parlamentskammern zu verweisen, wo eine Mehrheit von zwei Drittel der Stimmen bei mindestens 50 Prozent Abstimmungsbeteiligung erforderlich ist (und für den EU-Beitritt sicher scheint). Das bedeutet, dass das Referendum nur dann materielle Bedeutung haben wird, wenn die fünfzigprozentige Beteiligung erreicht wird. Nach allen vorliegenden Daten ist für diesen Fall zwar ein zustimmendes Votum zu erwarten. Gleichwohl ist das antizipierte und präventive Rückholen einer plebiszitären Entscheidung ein demokratisch heikles und – um das mindeste zu sagen – missliches Verfahren.

  1. 1994 erschienen 9 Beiträge, 1995 nur 4, 1996 gar nur 2, 1997 dann 12, 1998 8, 1999 5, 2000 dann 39, 2001 42, 2002 167 und im 1. Quartal 2003 75 (Zahlen bis 4.04.2003; Daten nach LexisNexisDatenbank).
  2. Verbindet man in der LexisNexis-Datenbank die Suche nach innenpolitischen Diskursen über den EU-Beitritt mit dem Referendum, erscheinen pro Jahr zwischen keinem und einem Artikel.
  3. Über Verhandlungen mit EU war nicht nur die Öffentlichkeit kaum informiert; sie waren teilweise auch nicht mit dem Sejm abgestimmt.
  4. Aussage des Chefs des Komitees für Europäische Integration Ryszard Czarnecki.
  5. Solche Äußerungen u. a. von Abgeordneten der LPR, der Bauernpartei, von PiS und Selbstverteidigung (12. Sejmsitzung, 24.01.2002; 6. Sejmsitzung 29.22.2001, Sitzung der Kommission für Außenpolitik 04.12.2001).
  6. Jan Lopuszanski, Vorsitzender der LPR, in: Gazeta Wyborcza v. 11.01.2002.
  7. Andrzej Lepper, Chef der Selbstverteidigung, in: Gazeta Wyborcza v. 11.01.2002.
  8. Aleksander Malachowski, Abgeordneter der UP in der Sitzung der Kommission für Außenpolitik, 04.12.2001.
  9. Leszek Miller, Ministerpräsident Polens. Zitiert nach dem Zentrum der Regierungsinformation: www.kprm.gov.p1/1433_1760.htm.
  10. Erwartet wird, dass die reale Partizipationsbereitschaft um 15-10 Prozent unter der von der Bevölkerung in Umfragen deklarierten Bereitschaft liegen wird. Im Privatisierungsreferendum 1996 waren 52 Prozent der Polen bereit, sich zu beteiligen; letztendlich gingen 43,5 Prozent wählen. Am Verfassungsreferendum nahmen 42,9 Prozent teil, während die Prognosen bei 65-67 Prozent lagen.
  11. Veröffentlicht in Dziennik Ustaw, 2003, Nr. 57, poz 507, das am 17.4.2003 in Kraft getreten ist.

Literatur

CBOS [Zentrum für die Erforschung der öffentlichen Meinung]: http://www.cbos.com.pl/cbos_pl.htm. Verwendete Analysen: CBOS 3-8 XII 1998; CBOS 11-16 V 2000; OBOP 28-30 X 2000; CBOS 14 XII 2000; CBOS 2-5 III 2001; CBOS 6-9 VII 2001; CBOS 13- 15 IX 2001; CBOS 7- 10 XII 2001; CBOS 7-10 XII 2001; CBOS 1-4- III 2002; CBOS 11- 14 X 2002; CBOS 1-4 III 2003

GfK Polonia [Meinungsforschungsinstitut]: http://www.ukie.gov.pliuk.nsf/2/index. Analyse für das Amt des Ausschusses für die Europäische Integration (UKIE): GfK Polonia VII 2002/UKIE

Jaworski, Piotr 2001: Negocjacje Polski z Unia Europejska; in: Kolarska-Bobinska, Lena (Hg.): Polacy wobec wielkiej zmiany, Warschau, S. 135-149

Kosela, Krzysztof 2002: Eurofoby, Eurofile wszyscy pozostali; in: Ders./Szawiel, Tadeusz/Grabowska,
Miroslawa/Sikorska, Malgorzata: Tozsamosc Polakow a Unia Europejska, Warschau, S. 195-228

Kucharczyk, Jacek 2000/2001: Polens Weg nach Europa in den Augen der polnischen Öffentlichkeit;
in: Transit (20), Winter, S. 73-86

OBOP [Meinungsforschungsinstitut]: http://www.obop.com.pl/. Verwendete Analysen: OBOP 5-17 IV 2000; OBOP 11-16V 2000

Roguska, Beata/Strzeszewski, Michal 2002: Zainteresowanie spoleczne, wiedza i poinformowanie o integracji Polski z UE [Rapport des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (ISP)], Warschau

Roguska, Beata/Strzeszewski, Michal 2001: Zainteresowanie spoleczne, wiedza i poinformowanie o integracji Polski z UE [Rapport des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (ISP)], Warschau

Strzeszewski, Michal 2001: Dostosowanie do UE: nadzieje, obawy, koszty; in: Kolarska-Bobinska,
Lena (Hg.): Polacy wobec wielkiej zmiany, Warszawa 2001, S. 85 — 122

Zagorski, Krzysztof/Strzeszewski, Michal (Hg) 2000: Nowa Rzeczywistosc. Oceny i opinie 1989-1999, Warschau

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