Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 167: Politik und Lüge

Landschaften der Lüge

Ein aktueller Literaturbericht

aus: Vorgänge Nr.167 ( Heft 3/2004 ), 91-101

Umfängt der „Makel des Todes” die Lüge, der „Beigeschmack der Sterblichkeit”, s( wie es in Joseph Conrads Heart of Darkness heißt? Oder ist sie doch eher die „Muttersprache unserer Vernunft”, wovon Johann Georg Hamann seinen Königsberger Landsmann und Wahrheitsfreund Immanuel Kant 1759 offensichtlich vergeblich zu überzeugen versuchte? Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich die ideengeschichtliche Auseinandersetzung um die Bewertung der Lüge für Philosophie, Politik und Privatleben Maria Bettetini, Professorin für mittelalterliche Philosophie in Venedig, hat eine ebenso gelehrte wie überaus kurzweilige Einführung in die komplizierte Debattenlage verfasst:

Maria Bettetini: Eine kurze Geschichte der Lüge. Von Odysseus bis Pinocchio, Wagenbach: Berlin 2003, 142 S., ISBN 3-8031-2461-1; 10,90 Euro

In systematisch angelegten Kapiteln widmet sie sich den Lügendefinitionen von Aristoteles, Augustinus und vielen anderen, den White lies (den erlaubten Lügen), den Lügenbejahern (u.a. Schopenhauer) und -verneinern (u.a. Kant und Grotius) und der Lust an der Lüge. Ihre Streifzüge führen quer durch alle Jahrhunderte und Kulturen und bieten einen ausgezeichneten, problemorientierten und stilistisch brillanten Überblick über alle Gedanken, die es jemals zur Lüge gegeben hat – eine ideale Einstiegslektüre.

Die deutsche Lügenexpertin lehrt Philosophie in Düsseldorf: Simone Dietz hat in der Reihe Rowohlts Enzyklopädie im vergangenen Jahr einen Extrakt ihrer Habilitationsschrift Der Wert der Lüge (Paderborn 2002) vorgelegt:

Simone Dietz: Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Rowohlt Taschenbuch: Reinbek 2003, 174 S., ISBN 3-499-55652-9; 9,90 Euro

Ebenso wie der Band ihrer italienischen Kollegin ist dieser Problemaufriss sehr gut geschrieben, ebenso ist er mit vielen Beispielen aus Kunst und Literatur angereichert, die die verlogenen Fähigkeiten unserer Existenz veranschaulichen. Die Autorin nähert sich der Lüge auf drei Ebenen, ergänzt um einen kleinen Schlussteil zur Lüge im Privatleben und in der Politik: Im ersten Abschnitt stellt sie die Kommunikationsform Lüge in den Mittelpunkt, zwischen Missbrauch der Sprache und Grauzonen wie Höflichkeit und Werbung; im zweiten Teil geht es um den Zusammenhang zwischen dem in den letzten Jahren stark in Mode gekommenen Vertrauensbegriff (den sie geschickt relativiert) und der Idee von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, deren instrumentellen Charakter sie betont. Im dritten Teil deutet sie die Lüge als partielle Ermöglicherin von Freiheit. Simone Dietz betreibt eine sanfte Ehrenrettung der Lüge, die gegen allzu rasche normative Urteile wappnet.

Wann kommt es schon einmal vor, dass eine Dissertation 22 Jahre nach ihrem Erscheinen erneut aufgelegt wird? Herfried Münkler, Professor für Theorie der Politik an der Berliner Humboldt-Universität, hat das mit seinem Frühwerk geschafft. Es ist jetzt wieder in einer preiswerten Taschenbuchausgabe allen an Machiavelli interessierten Lesern zugänglich:

Herfried Münkler: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Fischer Taschenbuch: Frankfurt/Main 2004, 506 S., ISBN 3-596-16178-9; 16,90 Euro

Das Werk des Renaissancedenkers, von vielen immer noch als Apologie der politischen Amoral und Lüge missverstanden, wird hier in einen breiten ideengeschichtlichen Horizont eingebettet (vgl. auch den Beitrag von Marc Schweska in diesem Heft). Die heute leicht angestaubt wirkende Sozialgeschichte der italienischen Stadtrepubliken mit Pest, Bankenkrisen und Kriegen, die Antikenrezeption im Werk Machiavellis und seiner Zeitgenossen sowie seine politischen Rezepturen: Münkler denkt zusammen, was zusammengehört, in der Sache befördert durch eine stupende, sich in gelehrten Verweisen und Exkursen ergehende Kenntnis der Theoriegeschichte. Umso bedauerlicher ist es, dass der zuletzt vor allem als Kriegs- und Imperientheoretiker omnipräsente „Pulverkopf” (Frankfurter Rundschau) es nicht für nötig befand, dieser Neuauflage seines. Erstlings mit Klassikerpotenzial wenigstens einige geringfügige Überarbeitungen angedeihen zu lassen: Weder Personen  noch Sachregister erschließen das umfängliche Werk, die wissenschaftliche Literatur verharrt auf dem Stand von 1982 und ein neues, den einen oder anderen Aspekt kommentierendes Vor- oder Nachwort vermisst man ebenfalls.

Der noch nicht dreißigjährige Nietzsche verfasste 1873 seine zu Lebzeiten unveröffentlichte kleine Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, die in einem Insel-Bändchen wiederveröffentlicht wurde, ergänzt um zahllose Aphorismen und Notizen des Philosophen zum Thema Lüge und vom Herausgeber (selber Verfasser einer Kulturgeschichte der Lüge) mit einem klugen Nachwort versehen:

Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge. Ein Essay, Aphorismen und Briefe, hg. von Steffen Dietzsch, Insel: Frankfurt/Main 2000, 98 S., ISBN 3-458-19207-7; 11,80 Euro

Kalten Blickes verweist Nietzsche auf das Bewahrende und zugleich Zerstörende, das Lügen innewohnt. Handeln und Lügen liegen dicht beieinander – Nietzsches Sicht ähnelt darin der Hannah Arendts. Lüge und Wahrheit sind soziale „Relationen” zu ihrer Umwelt; als solche kann man sie nicht vorab als gut oder schlecht qualifizieren. Im Zarathustra findet sich Nietzsches Attacke auf den neuen Götzen: „Der Staat ist das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch […] Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt” – seine Prophezeiung aus dem 19. Jahrhundert, die im 20. Jahrhundert so oft Wirklichkeit wurde.

Den Kampf gegen die „Verneiner”, also diejenigen, „die die Idee der Wahrheit als Gegenstand der Forschung generell kassieren wollen”, den Kampf gegen diese gefährliche Bande also ficht der im vergangenen Jahr verstorbene Philosoph Bernard Williams in seinem letzten großen Werk:

Bernard Williams: Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2003, 429 S., ISBN 3-518-58369-7; 34,90 Euro
Williams, den seine akademische Karriere nach Oxford, Cambridge und Berkeley führte (und der daneben fast zwanzig Jahre lang die English National Opera leitete), ist für die Schlacht mit allen alteuropäischen Bildungsgütern gerüstet, die er in einer brillanten Sprache nach und nach präsentiert. Wahrheit bleibt für ihn allen gängigen Relativierungen zum Trotz ein zentraler Angelpunkt, um den sich Denken und Moral drehen. Die Kategorien Aufrichtigkeit, Genauigkeit, Vertrauen werden dafür ins Feld geschickt und schlagen sich wacker, unterstützt von Williams‘ Lektürefrüchten von Thukydides bis zum Menschlichen Makel Philip Roths. Der britische Humor des Autors trifft die Kommandeure der Gegenseite: Das pragmatische Philosophieren seines Kollegen Richard Rorty wird da schon mal als „Fahren mit leerem Tank” klassifiziert. Das ist kein intellektueller Antiamerikanismus, erklärt doch der Westernfan Williams in einer Fußnote, aus den besten Filmen dieses Genres eine Anthologie der politischen Philosophie zusammenstellen zu wollen. Es gibt sie noch, die wahren Dinge.

Vier Schweizer Autoren hatten im Anschluss an die Abschiedsvorlesung des Politikwissenschaftlers Alois Riklin die Idee, in vier gesellschaftlichen Subsystemen nach jener Wahrhaftigkeit zu suchen:

Alois Riklin (Hg.): Wahrhaftigkeit in Politik, Recht, Wirtschaft und Medien, Stämpfli/Wallstein: Bern/Göttingen 2004, 203 S., ISBN 3-89244-770-5; 24 Euro

Peter Studer, Vorsitzender der Schweizer Presserats und früherer Chefredakteur des Tages-Anzeigers, widmet sich der „wahren Information” anhand von Fallbeispielen aus der Praxis des Presserats; zuvor kommen bei ihm auch medienethische und rechtliche Aspekte zu Wort. Am interessantesten ist der Aufsatz zur ökonomischen Sphäre, den Peter Ullrich, Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen, verfasst hat. Die Betrugsskandale bei Enron, bei Schweizer Grossbanken und vielen anderen großen internationalen Firmen würden in der Wirtschaft einen Klimawechsel bewirken. Die amerikanische Börsenaufsicht forderte 2002 gar von den Chefs sämtlicher US-Unternehmern, bis zu einem bestimmten Stichtag einen persönlichen „Wahrheitsschwur” für die Korrektheit ihrer Bilanzen und Zahlen abzuleisten. Gemeinwohl und Gewinnmaximierung stünden im Konflikt, die der neoliberale Ökonomismus zugunsten des letzteren entscheiden wolle und dabei die Wahrhaftigkeit als betriebliche Norm bekämpfe. Nicht recht zu überzeugen vermag das Plädoyer von Alois Riklin, Wahrhaftigkeit dem Weberschen Politikerdtugendkanon aus Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß hinzuzufügen: zu sehr ist das menschliche Handeln — selbst in der Demokratie — eben auch eine Sache der Unwahrhaftigkeit.

Ringvorlesungen, noch dazu im Rahmen von Graduiertenkollegs, sind beliebter Anlass zur interdisziplinären Sammelbandproduktion — die Qualität der Beiträge ist zu-meist sehr unterschiedlich. Das Regensburger Graduiertenkolleg Kulturen der Lüge hat in kurzer Zeit gleich mehrere solcher Bücher zum Thema Lüge auf den Markt geworfen. Die Normalität von Lügen in Zweierbeziehungen erklärt zum Beispiel der Dresdner Soziologe Karl Lenz in einem Band mit leider etwas dramatisierenden Untertitel Robert Hettlage (Hg.): Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, UVK: Konstanz 2003, 327 S., ISBN 3-89669-736-6; 29 Euro,

in dem weitere 13 Beiträge zu finden sind. Von der italienischen Kultur der Omertä, des Schweigens unter der Herrschaft der Mafia, berichtet die Soziologin Anita Bestler in einem spannenden Aufsatz. Im Abschnitt über die politische Arena und deren Lügenanfälligkeit schaut der Kommunikationswissenschaftler Joachim Westerbarkey hinter die verschiedenen Masken, in denen Politik auftritt, Ulrich Sarcinelli versucht dem Wechselverhältnis zwischen Diskretion und Publizität in der Politik anhand des Umgangs zwischen Politikern und Journalisten auf die Spur zu kommen. Astrid Schütz, Daniela Gröschke und Janine Hertel präsentieren eine überzeugende Typologie des politischen Skandals: sie systematisieren und verallgemeinern die Abläufe und Ausdrucksformen von Skandalen von Uwe Barschel, Roland Koch, Helmut Kohl bis Bill Clinton.

Ein Jahr zuvor hatte eine Ringvorlesung an gleicher Stelle einen kulturgeschichtlich breiter aufgefächerten Blick auf die Lüge geworfen:

Mathias Meyer (Hg.): Kulturen der Lüge, Böhlau: Köln/Weimar/Wien 2003, 320 S., ISBN 3-412-05603-0; 32 Euro

Der schöne Schein der Goethezeit beschäftigt den Kunsthistoriker Jörg Traeger, der anhand von Landschaftsgärten, Wachsfigurenkabinetten, künstlichen Antikennlandschaften, Schattenrissen u.a. auf die Kunst der Illusionen und Täuschungen jener Zeit verweist. Der Jurist Friedrich-Christian Schroeder analysiert die Möglichkeiten des Staates, bei strafrechtlichen Ermittlungen in gewissen Fällen zu täuschen und zu lügen; und Jan-Wilhelm Beck beseitigt mit zahlreichen Beispielen die bisherige Schieflage in der Wahrnehmung der Antike: Nicht nur die Griechen, sondern auch die Römer pflegten die Lüge, von Cicero bis Sallust.

Soeben erschien ein Konferenzband, der die Ergebnisse einer Tagung des Graduiertenkollegs im Jahr 2003 dokumentiert:

Steffen Greschonig/Christine S. Sing (Hg.): Ideologien zwischen Lüge und Wahrheitsanspruch, Deutscher Universitätsverlag: Wiesbaden 2004, 288 S., ISBN 3-8244-4581-6, 35,90 Euro

Leider versammelt sich hier unter dem Oberbegriff „Ideologie” so ziemlich alles, was man assoziativ damit verbinden kann; stellenweise hat man den Eindruck, dass es vielen der Autoren nur darauf ankam, an einen der drei Termini, die der Tagung ihren Titel gaben, inhaltlich anzudocken. Verzichtet haben die Herausgeber in ihrer vierseitigen „Einführung” (sic!) auf jegliche definitorische oder begriffsgeschichtliche Herleitung — Ideologie scheint etwas zu sein, was sich von selbst versteht. Der rote Faden ist zwischen Aufsätzen beispielsweise über den Massenmord an den Armeniern im Spiegel der türkischen Presse, die bulgarische Lyrik unter dem Kommunismus, Gerüchteproduktion im KZ Sachsenhausen, Kanzler Schröders Fernsehinterviews zum Golfkrieg, Konstruktion nationaler Identitäten in der Sportberichterstattung und Karl Mannheims Klassiker Ideologie und Utopie nicht zu entdecken. Die Heterogenität, die man bei Ringvorlesungen meist in Kauf nimmt, wird bei Tagungsbänden leicht zum Ärgernis — zumal wenn man in ihnen auf weitgehend argumentationsfreie und unfreiwillig komische Texte wie hier über die Lügen- und Mythenkultur des rumänischen Kommunismus stößt. Dabei sind in diesem Potpourri von 15 Aufsätzen sehr viele dabei, die — wie der erwähnte Beitrag über Karl Mannheim — für sich genommen hochinteressant sind und breite Rezeption verdienen.

Es geht auch anders: Wer auf die Lügen in Lynchland neugierig ist, sollte einen sehr gelungenen Sammelband zur Hand nehmen, der ebenfalls dem Regensburger Gräduiertenkolleg entstammt:

Kerstin Kratochwill/Almut Steinlein (Hg.): Kino der Lüge, transcript: Bielefeld 2004, 194 5., ISBN 3-89942-180-9; 23,80 Euro
Verschiedene Filme und Regisseure werden in acht Beiträgen junger, kulturwissenschaftlich bestens ausgerüsteter Nachwuchswissenschaftler analysiert, u.a. David Lynchs Lost Highway (wer dieses Meisterwerk kennt, vermag die kongeniale Deutungskunst der beiden Autorinnen nicht hoch genug einzuschätzen), David Cronenbergs eXistenZ, Emir Kusturicas Schwarze Katze — Weißer Kater, Antonionis Blow Up und Kurosawas Rashomon. Das Spiel mit und die Darstellung von Unwahrheit und Täuschung wird zumeist virtuos vorgeführt, bereichert um eine Einleitung von Jochen Mecke, die auf die doppelte Perspektive des Bandes hinweist: es geht einerseits um erzählte Lügen im Film, andererseits um Filme mit Lügenstruktur. Und warum Good bye, Lenin!, der deutsche Erfolgsfilm des letzten Jahres, eine Apologie des Kinos der Lüge ist, erfährt man hier auch.

Was trennt die List von der Lüge? Mit seinen Forschungen über Theorie, Geschichte und Praxis der List dürfte es Harro von Senger zum meistgelesenen Sinologen im deutschsprachigen Raum gebracht haben. In einem Sammelband, ebenfalls basierend auf einer Ringvorlesung, hat Senger verschiedene Beiträge zur List von Wissenschaft-lern aller erdenklichen Fachrichtungen vereint:

Harro von Senger (Hg.): Die List, Suhrkamp: Frankfurt/Main 1999, 499 S., ISBN 3-518-12039-5;15 Euro

List und Lüge wird in theologischer Perspektive untersucht; auch Germanisten, Orientalisten, Ägyptologen, aber auch Biologen (Die listenreiche Evolution: Täuschung bei Tieren, Pflanzen, Bakterien und Viren) nehmen die List als Kategorie ernst. In einer 44seitigen Einführung bietet der Herausgeber einen detail- und beispielsatten Überblick über das, was man unter strategematischem Denken versteht, ausgehend von der jahrhundertealten chinesischen Denktradition der 36 Strategeme, in die Listen aller Arten rubriziert und klassifiziert worden sind.

Wer glaubt, die chinesische Strategemlehre praktisch fruchtbar machen zu können, kann einen Blick in Harro von Senger: Die Kunst der List. Strategeme durchschauen und anwenden, 4. Aufl., C.H.Beck: München 2004, 197 S., ISBN 3-406-47568-X; 9,90 Euro werfen. Der Leser wird mit Listen und Listbeispielen aller Art versorgt; er erfährt Grundlegendes über die Entstehung der chinesischen Listenlehre. Doch viele der von Senger ausgewählten Beispiele sind zu skurril und werden zudem einseitig nach dem listfixierten Denken des Autors hin ausgerichtet. Das ist insofern schade, als Sengers Ansinnen, den Westen mit der chinesischen Listenlehre vertraut zu machen, verdienst-voll ist und an einigen Stellen sicher anregend und fruchtbar sein kann für theoretische Anknüpfungspunkte.

Wo es um Politik und Lüge oder um politische Inszenierungen geht, rückt die Beziehung von Politikern und Journalisten schnell ins Zentrum des Interesses. Gestaltet sich deren Verhältnis als Kumpanei oder als Antagonismus? Über die wechselseitigen Interpenetrationen (also die gegenseitigen Durchdringungen der beiden Systeme) ist bislang wenig bekannt. Abhilfe schafft hier
Jochen Hoffmann: Inszenierung und Interpenetration. Das Zusammenspiel von Eliten aus Politik und Journalismus, Westdeutscher Verlag: Opladen 2003, 334 S., ISBN 3-531-13889-8; 34,90 Euro

Die Studie analysiert die Werthaltungen, Strategien und Rollenmuster, die dem Zusammenspiel von Politik und Journalismus zugrunde liegen. Grundlage sind 50 Interviews mit Politikern und Journalisten, die der Autor geführt hat. Die Studie zeigt auf, dass aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den beiden Bereichen eine Zone entsteht, die beiden Parteien gewisse Handlungsspielräume eröffnet (und freilich auch wieder begrenzt). Das Tauschgeschäft Information gegen Publizität lädt auf beiden Seiten zur Manipulation der Wirklichkeit ein, verfügt aber gleichzeitig über immanente Schranken, die diese Manipulationen limitieren.

Lügen in Zeiten des Krieges: Louis Begleys Romantitel hat in den vergangenen Jahren eine erschreckende, für alle erlebbare Konkretion erfahren. Es gibt gleichwohl noch wenig öffentlich zugängliche Quellen, in denen Militärs davon berichten, wie die Kriege flankierende Öffentlichkeitsarbeit (das Wort Propaganda gilt in diesen Kreisen längst als anrüchig) strategisch geplant und operativ implementiert wird. Für den Kosovo-Krieg liegt mit Walter Jertz: Krieg der Worte, Macht der Bilder. Manipulation oder Wahrheit im Kosovo-Konflikt, Bernard & Graefe: Bonn 2001, 140 S. m. zahlr. Abb., ISBN 3-7637-6210-8; 24 Euro jetzt ein solches Dokument vor. Jertz war während des Krieges als deutscher General in die Pressestelle des Nato-Hauptquartiers in Mons abkommandiert und hat dort selbst an der Medienstrategie der Nato mitgearbeitet. Mit erstaunlicher Offenheit berichtet er darüber, mit welchen Hürden die Nato-Propagandisten während der Kampagne zu kämpfen hatten und mit welchen Maßnahmen sie versuchten, die Deutungshoheit über den Konflikt und seinen Verlauf zu verteidigen. Als Quelle für alle Forschungen zur Kriegspropaganda im späten 20. Jahrhundert ist Jertz‘ Erfahrungsbericht von unschätzbarem Wert.

Und noch ein echter Schatz ist zu verzeichnen, wenn es um Krieg und Medien im 20. Jahrhundert geht:

Bernhard Chiari/Matthias Rogg/4Volfgang Schmidt (Hg.): Krieg und Militär im Film des 21. Jahrhunderts, Oldenbourg: München 2003 (=Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamts 59), 653 S., ISBN 3-486-56716-0; 49,80 Euro

Dieser opulente Sammelband vereint erstmalig eine Vielzahl von systematischen Überlegungen zum Verhältnis von Krieg und Film respektive deren interdisziplinärer Erforschung: Film als Massenmedium kann der Kriegs- oder Anti-Kriegspropaganda dienen, als Speichermedium bewahrt er Bilder des Krieges für die Nachwelt, als Informationsmedium transportiert er Bilder eines Krieges in Echtzeit rund um die Welt. Als Spielfilm prägt er die kollektive Wahrnehmung von Krieg (Vietnam!), als Dokumentarfilm kann er Kriegsverbrechen festhalten und zum Ende von Kriegen führen. All diesen Berührungspunkten und Überschneidungen wird in dem vorliegenden Band nachgegangen. Nach einer eher wissenschaftstheoretischen Einführung des Flensburger Historikers Gerhard Paul und verschiedenen anderen Beiträgen, die sich mit den Perspektiven einer interdisziplinären, vor allem kulturwissenschaftlichen Kriegsfilmforschung beschäftigen, folgen große Unterabschnitte über die Rolle des Films im Kalten Krieg, im Ersten Weltkrieg, zur Luftwaffe im nationalsozialistischen Propagandafilm und zu Krieg und Militär im deutschen Nachkriegsfilm. Auch wenn anhand einiger Beiträge deutlich wird, dass so manche methodische und wissenschaftstheoretische Frage an das Forschungsfeld Krieg und Film noch offen ist, so stellt der Sammelband doch einen immensen Fortschritt auf diesem Gebiet dar.

Wenn die Regierung von George W. Bush und Dick Cheney zu Verschwörungstheorien, intellektueller Dünnbrettbohrerei und unfreiwilligen kabarettistischen Einlagen neigt, so gilt dies für viele publizistische Bush-Kritiker leider nicht minder. In den vergangenen Monaten sind eine ganze Reihe von Verdammungen der Bush-Administration erschienen, die sich an den Lügen des Weißen Hauses abarbeiten und dabei vielfach unter analytischen Sehschwächen leiden. All diese Traktate folgen prinzipiell dem selben Muster: Der von Bush proklamierte hohe moralische Anspruch wird mit den Lügen seiner Regierungspraxis kontrastiert. Das ist zwar durchweg ehrenvoll, aber nicht sonderlich erkenntnisbefördernd – jedenfalls eine Übung, für die man nicht viel mehr als einen gefüllten Zettelkasten mit Zeitungsausschnitten braucht. Wirkliche Orientierungsgewinne sind nicht zu erwarten. Richtig ärgerlich ist Al Franken: Kapitale Lügner. Eine faire und ausgewogene Betrachtung von George W. Bush und seinen Neokonservativen, Riemann: München 2004, 414 S., ISBN 3-570-50054-3, 15 Euro

Schon der Titel (der nicht einer schlechten Übersetzung geschuldet ist, sondern auch auf englisch so lautet) macht deutlich, dass an dem Buch eben gar nichts fair und ausgewogen ist — sonst wäre diese merkwürdige Absicherung nicht nötig gewesen. Verfasst ist das Buch als kabarettistische Satire und soll laut Verlagswerbung „eine Attacke auf unsere Lachmuskeln” sein. Doch über den halbgaren Gaga-Stil Frankens und seine gerüchteweise kolportierten Innenansichten aus der Bush-Administration (die natürlich an keiner einzigen Stelle belegt werden) kann nur lachen, wer zu viele Comedy-Soaps gesehen hat.

Politisch schwergewichtiger ist da Richard A. Clarke: Against All Enemies. Der Insiderbericht über Amerikas Kampf gegen den Terror, Hoffmann und Campe: Hamburg 2004, 384 S., ISBN 3-455-09478-3; 19,90 Euro

Gegen die Grundthese Clarkes, dass sich die US-Regierung nach dem 11. September 2001 mit dem Irak auf den falschen Feind eingeschossen hat, und nun den Kampf gegen den Terror zu verlieren droht, ist wenig einzuwenden. Fraglos versteht Clarke als Anti-Terror-Beauftragter der Clinton-Regierung etwas von seinem Metier. Die interessanten Innenansichten der Macht werden jedoch durch Clarkes wichtigtuerischen Jargon und seine eitle Selbstdarstellung weitgehend unlesbar. Zudem wirkt der pseudodokumentarische Stil nicht sehr glaubhaft. Über den 11. September etwa schreibt Clarke: „Wir fuhren zwischen ihren Straßensperren hindurch – und dann durch menschenleere Straßen. Ein Humvee mit einem Maschinengewehr des Kalibers 50 war an der Ecke 17th/Pennsylvania Avenue postiert. […} Ich musste ins Weiße Haus zurück und an den Plänen arbeiten, die weitere Anschläge verhindern sollten. Ich fand meine Neun-Millimeter-Pistole aus den Beständen des Secret Service, stopfte sie in den Hosenbund und ging in die Nacht hinaus, zurück in den Westflügel.” (S. 55) So geht es das ganze Buch hindurch: Details werden kolportiert, die sowohl in ihrem Wahrheitsgehalt wie in ihrer Bedeutung schwer nachvollziehbar sind (trug Condy Rice wirklich eine weiße Bluse und schwitzte stark?); Analyse ist hinter den Schilderungen von Clarkes Heldentaten kaum mehr auffindbar. Schade: Es hätte ein interessantes und wichtiges Buch sein können, doch der larmoyanteitle Tonfall macht es zu extrem anstrengender Lektüre.

Das Wörtchen „ich” fällt auch zu oft in Joseph Wilson: Politik der Wahrheit. Die Lügen, die Bush die Zukunft kosten könnten, 5. Fischer: Frankfurt/Main 2004, 416 S., ISBN 3-10-049220-X, 19,90 Euro

Wilson ist derjenige Diplomat, der die Niger-Story der US-Regierung (vgl. den Beitrag von Thymian Bussemer in diesem Heft) widerlegte und damit zu einiger Popularität gelangte. Die Lektüre von über 400 Seiten Autobiographie rechtfertigt das noch lange nicht. Die erste Hälfte des Buches über seine Jahre in Afrika hat zumindest mit dem Buchtitel herzlich wenig zu tun. Im zweiten Teil rekonstruiert Wilson zwar die Niger-Lüge und deren Aufdeckung, doch auch dabei steht sein persönliches Wohlergehen und Empfinden zu sehr im Mittelpunkt. Wer etwas über das Leben drittklassiger amerikanischer Diplomaten erfahren will, wird hier fündig.

Weniger selbstgefällig, aber trotzdem nicht viel hilfreicher ist David Corn: Die Lügen des George W. Bush: Über Dichtung und Wahrheit in der amerikanischen Politik, Heyne: München 2004, 375 S., ISBN 3-454-87831-0; 20 Euro

Das Buch dekliniert die Lügen und Halbwahrheiten, mit denen George W. Bush seine Karriere bestritt, systematisch durch — was in diesem Falle über enzyklopädisch und steif wirkt. Corn, der als Washingtoner Büroleiter der Zeitschrift The Nation einer der erklärten Feinde Bushs ist, will partout nachweisen, dass man mit einer Untersuchung von Bushs Lügen das Wesen seiner Präsidentschaft erfassen könne (S. 21). Dafür bedürfte es freilich einer Klärung der Bedeutung von Lügen für die Politik. Doch Corn bietet nur langweilige und kleinteilige Aufzählungen: Widersprüche zwischen Aussagen Bushs von 1978 und 1994 werden zum Beweis für einen laxen Umgang des Präsidenten mit der Wahrheit. Ambivalenzen sind dem Autor fremd, jeder Sinn für Hintergründiges fehlt. Da Corn seine diversen Behauptungen nicht oder nur unzureichend belegt, sind seine Nachweise zumeist schlicht unbrauchbar.

Um einiges solider daher kommt dagegen das Buch des ehemaligen ZDF-Korrespondenten in Washington daher:
Elmar Theveßen: Die Bush-Bilanz. Wie der US-Präsident sein Land und die Welt betrogen hat, Droemer: München 2004, 349 S., ISBN 3-426-27327, 18 Euro.

Die Thesen sind die selben wie in den anderen Büchern: es geht um die geheime Machtübernahme der Neokonservativen, den Feldzug der Bush-Administration gegen die Clintonsche Sozialpolitik, die Lügen und moralischen Fragwürdigkeiten der Regierung. Einzig der Stil ist hier besser, die Behauptungen sind überwiegend sogar durch Quellenangaben belegt, die systematische Gliederung des Stoffes überzeugt. Doch auch hier geht es einmal mehr um eine „faire, aber harte Abrechnung”. Es stellt sich die Frage, warum niemand erklären will, was in Amerika in den vergangenen Jahren vor sich gegangen ist, sondern alle Autoren die vergleichsweise einfache Übung des Anprangerns vorziehen.

Theveßens Kollege von der Süddeutschen Zeitung, der immer noch als einziger deutscher investigativer Journalist von Rang geltende Hans Leyendecker, hat mal rasch nebenbei zusammengefasst, was dies- und jenseits des Atlantiks über Politik und Personal der Regierung Bush in den letzten Jahren geschrieben wurde:
Hans Leyendecker: Die Lügen des Weißen Hauses. Warum Amerika einen Neuanfang braucht, Rowohlt: Reinbek 2004, 224 S., ISBN 3-498-03920-2; 14,90 Euro

Mit einer Fülle weitgehend bekannter Fakten und Details wird die lügen satte Vorgeschichte des Irakkriegs seit dem 11. September 2001 noch einmal nacherzählt, dann ein bisschen historischer Hintergrund beigemischt: fertig ist ein Bestseller, der gnadenlos bis in Wortwahl und Stil hinein Komplexität reduziert. Interessante Einzelheiten finden sich zwar viele, so in seinen Porträts der führenden Figuren von Cheney, Wolfowitz bis Condoleezza Rice – doch bastelt Leyendecker, dessen Recherchierkunst sich zuletzt u.a. auf das russische Adoptivkind des Ehepaars Schröders konzentrierte, daraus ein Bild des politischen Washington auf Kippschulniveau. Gute jahrzehntelange Freunde, ehemalige Studienkollegen (natürlich mit Leo Strauss als Doktorvater), Verschwörer, die schon als 25jährige damals das wollten, was sie heute umsetzen – wer mehr als diese „Analysen” will, sucht hier leider vergebens.

Der einzige Autor, bei dem der allseits gepflegte dokumentarische Stil nach wie vor nicht peinlich wirkt, ist das alte Schlachtross Bob Woodward, der schon 1972 mit Carl Bernstein die Watergate-Affäre enthüllte:

Bob Woodward: Der Angriff. Plan of Attack, DVA: München 2004, 512 S., ISBN 3-421-05787-7; 24,90 Euro

Zwar wird auch bei Woodward ständig „gebrüllt”, „mit der Faust auf den Tisch geschlagen” und „angestrengt auf die Landkarte gestarrt”, doch erfährt man neben diesen eher störenden Details immerhin noch, dass Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz unmittelbar nach dem 11. September 2001 mit der Planung des Irak-Feldzuges begonnen haben und sich durch nichts davon abbringen ließen. Auch lernt man einiges über den Verlauf des Krieges und die ihn begleitenden politischen Diskussionen; es entsteht ein lebendiges Bild vom Meinungsbildungsprozess in der US-Administration. Auch wenn Woodwards Stil ebenfalls auf die Nerven gehen kann, bietet sein Buch mehr als die meisten anderen Titel.

Einen Schuss Nachdenklichkeit bringt auch der ehemalige republikanische Abgeordnete und Nixon-Berater John Dean in die Debatte:
John Dean: Das Ende der Demokratie. Die Geheimpolitik des George W. Bush, Propyläen: Berlin 2004, 300 S., ISBN 3-549-07209-0; 22 Euro

Dean hat zumindest eine klare These: Die Bush-Administration mit ihrer Geheimniskrämerei, ihrer übersteigerten Paranoia und ihrem Hang zur Arkanpolitik gleiche der Regierung Nixon. Durch immer neue Antiterror-Gesetze und den Wildwuchs geheimer Büros und Agenturen seien die Freiheitsrechte der Bürger bedroht und werde der american dream beschädigt. Neben wirklich klugen Passagen stehen leider aber auch sehr platte: So begründet der Autor den Vergleich Bush-Nixon damit, dass beide übervolle Terminkalender hätten – als ob andere US-Präsidenten den ganzen Tag Golf gespielt hätten (S. 26). Gleichwohl ist dies unter der publizistischen Anti-Bush-Produktion des letzten Jahres noch das brauchbarste Buch. Auf die definitive Interpretation des Weges, den Amerika unter George W. Bush genommen hat, müssen wir aber leider noch warten.

Szenenwechsel zum Schluss: Gesellschaftskritik auf der Bühne wird hierzulande heute routiniert absolviert. Allabendlich ist das an deutschen Stadttheatern zu erleben – ob nun durch die regelmäßige Darstellung von Obdachlosen oder mit Hilfe von Videoschnipseln der CNN-Kriegsberichterstattung. Doch dass aus dem verdunkelten Bühnenraum heraus die stumpf gewordene Waffe der Kritik immer noch unerwartet scharf werden kann, beweisen die gesammelten Reden, Artikel und Offenen Briefe des Essayisten und Theaterkritikers Ivan Nagel, entstanden und größtenteils veröffentlicht zwischen April 2002 und Februar 2004:

Ivan Nagel: Das Falschwörterbuch. Krieg und Lüge am Jahrhundertbeginn, Berliner Taschenbuch Verlag: Berlin 2004, 139 S., ISBN 3-8333-0105-8; 7,50 Euro

Ekel und Entsetzen über den Lügenapparat der Bush-Regierung seit dem 11. September führen Nagel die Hand; hinzu kommt die Empörung über die Sprache der Lüge, die er im politischen Alltag der Gegenwart verstärkt anzutreffen meint (vgl. auch seine Diskussion mit Peter Bender, Giovanni di Lorenzo und Gustav Seibt in diesem Heft). Kopf-schüttelnd liest man viele seiner Interventionen, in denen Einfalt und Finesse eine eigentümliche Symbiose eingehen: seine scharfe Antwort an den Irakkriegs-Befürworter György Konräd in der FAZ, seine Attacken gegen die Kriegslügen in der Süddeutschen Zeitung, seine Entlarvung des Vokabulars, mit der hierzulande die Sozialstaatsreformen verschleiert werden – der subtilen Simplizität seiner Worte kann man sich schwer entziehen, auch wenn ihr zugleich wilder Furor irritiert. In seiner ebenfalls hier abgedruckten Laudatio auf Susan Sontag anlässlich der Friedenspreisverleihung des deutschen Buchhandels 2003 findet sich die Erklärung: „Fühlen und Denken derer, die um 1930 in Europa geboren wurden, begann mit der Tötung von 50 Millionen Anderen.” Diese Erfahrung des 1931 geborenen Nagel verleiht seinen Pamphleten gegen die Lüge als „Makel des Todes” (Joseph Conrad) ihre Legitimität – für die Nachgeborenen zur lügen kritischen Mahnung.

nach oben