Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 167: Politik und Lüge

Eine kleine Rehabi­li­tie­rung der Lüge

aus: Vorgänge Nr. 167 ( Heft 3/2004 ), S. 39-46

„Der Ruf des Tadelnswerten eilt der Lüge voran, während der Leumund ihrer sauberen Schwester, der Wahrheit, als unbefleckt gilt. Es scheint an der Zeit, eine Rehabilitierung der Lüge voranzutreiben.” (Sommer 1992: lOf.) So schreibt der Anthropologe Volker Sommer zu Beginn seines Buches Lob der Lüge, in welchem er vielfältige Verschleierungen und Täuschungsmanöver im Tierreich dokumentiert. Es ihm gleich zu tun und nun alle Lügner in Menschengestalt loben zu wollen, wäre provokant. Denn gemeinhin halten wir das Lügen nicht für rühmlich, sondern für tadelnswert. Viele Lügen richten erheblichen Schaden an, sind moralisch verwerflich und kaum entschuldbar. Manche Lügen sind sogar gesetzlich verboten, und kein Apologet der Lüge sollte diese gutheißen oder auch nur versuchen, sie zu rehabilitieren. Wird aber gefragt, ob sich die einseitig negative Konnotation des Begriffs ,Lüge` argumentativ stützen lässt, ob dem Lügen nicht auch positive Seiten zuzusprechen sind, und wann eine Lüge erlaubt oder gar geboten ist, dann kann dies zumindest zu einer kleinen Rehabilitierung der Lüge führen. Ein schlaglichtartiger Blick auf die Geschichte der Lüge und ihrer Bewertung mag dies verdeutlichen.

Historische Bewertungen der Lüge

Theologische Reflexionen

Dass die Lüge durch und durch abscheulich sei, empfand bereits König David. Zu Gott betend wünschte er im fünften Psalm, die Lügner mit dem Tode zu bestrafen: „Du vernichtest die Lügner. […] Aus ihren Mäulern kommt kein wahres Wort […]. Und wie sieht es drinnen aus? Dort ist das Reich der Verderbnis. Ihr Rachen ist ein offenes Grab. Auf ihrer Zunge rutscht man aus. Lass sie es büßen, oh Herr”. Woher die Lüge stamme, darüber lässt die Bibel keinen Zweifel: Ihr Vater sei der Satan selbst (vgl. Johannes 8,44). Und so käme jede Lüge einem teuflischen Abstammungszeugnis gleich: Alle Lügner wären Ausgeburten des Leibhaftigen – und jeder Fürsprecher der Lüge ein Advocatus Diaboli. Auch das Dekaloggebot bestätigt die Verderbtheit der Lüge. In der Luther-Übersetzung des Alten Testaments lautet es: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“(2 Mose/Ex20; 5 Mose/Dtn 5) Umso erstaunlicher ist es da, dass dieses Gebot gar nicht vom Ideal der Ehrlichkeit an sich handelt, sondern ursprünglich nur auf spezifische Aussagen vor Gericht Bezug nahm. Hervorgegangen ist es aus der alten israelitischen Rechtsprechung, die keinen Staatsanwalt kannte, der offiziell Anklage erhob. Stattdessen war jedermann in der Lage, ein Verfahren in Gang zu bringen. Unter diesen Umständen war es leicht, ungerechtfertigter Weise in Rechtsstreitigkeiten verwickelt zu werden, und ein falsches Zeugnis konnte viel schneller mit der Verurteilung eines Unschuldigen enden, als dies heutzutage der Fall ist. Das Dekaloggebot gewährte hier Rechtsschutz im elementaren Sinne, denn es forderte die Ehrlichkeit vor Gericht. Ein universelles Lügenverbot jedoch war ursprünglich nicht intendiert. Die Ausweitung vom spezifischen Wahrheitsgebot vor Gericht hin zur allgemeinen Aufforderung, niemals zu lügen, trieb vornehmlich Kirchenvater Aurelius Augustinus voran. Ihn interessierten zunächst epistemologische Aspekte der Lüge. Denn die Reflexionen antiker griechischer Denker über die Unwahrheit, auf die seine Arbeit an den beiden Monographien Über die Lüge und Gegen die Lüge hätte zurückgreifen können, waren von der Tatsache bestimmt, dass die altgriechische Sprache keine unmissverständlichen Begriffe für ,Lüge`, ,lügen`, ,lügnerisch` etc, besitzt. So wird unter pseudos zugleich Irrtum und Lüge verstanden, und das Verb pseudesthai steht gleichermaßen für ,sich täuschen‘ und ,lügen`. Das moralische Problem der Lüge jedoch entsteht vollends erst durch die lateinische Scheidung von error (Irrtum) und mendacium (Lüge), da ein Lügner in der Absicht zu täuschen handelt, die dem Irrenden typischerweise fehlt. Der altgriechische Meister der Lüge, Odysseus, war seiner Zeit offenbar weit voraus.

Augustinus wegweisende Definition der Lüge, die sich heute in allen philosophischen Begriffswörterbüchern findet, akzentuiert eben diese Täuschungsabsicht als maßgebliches Charakteristikum: „Eine unwahre, mit der Absicht zu täuschen gemachte Aussage ist unstreitig eine Lüge” (Augustinus 1953: 7). Ihre moralische Verwerflichkeit erklärt der Kirchenvater aus der göttlichen Bestimmung der Sprache. Da diese nicht geschaffen sei, um Menschen zu täuschen, sondern damit der eine dem anderen seine Gedanken vermitteln könne, vergehe sich der Lügner nicht bloß am Angelogenen, dem er die Wahrheit vorenthält, sondern vor allem an der Vollkommenheit Gottes. Denn er verwendet Sprache nicht zum Zwecke, zu dem sie geschaffen ward und versündigt sich folgerichtig. In Augustinus‘ Augen wäre es sogar verboten zu lügen, wenn dies das einzige Mittel wäre, um Unschuldige vor der ungerechten Hinrichtung durch Bösewichte zu retten. Denn: „Der Tod […] tötet ja nicht die Seele, sondern den Leib, […] der lügenhafte Mund hingegen tötet nicht den Leib, sondern die Seele” (Augustinus 1953: 15). Demnach wäre es nur allzu unklug, das kurze irdische Leben durch eine Lüge retten zu wollen und dies mit dem Verlust der unsterblichen Seele zu bezahlen. Die Ambivalenz von rigoroser theoretischer Verdammung und gelegentlicher praktischer Zufluchtnahme zur Lüge blieb freilich auch Augustinus nicht verborgen. In seiner Autobiographie Bekenntnisse gesteht er freimütig, dass auch er in jungen Jahren das eine oder andere Mal gelogen habe (vgl. Augustinus 1979: 53, 92, 151f., 237f., 316f.), distanziert sich später aber ausdrücklich von diesen Taten.

Lockerungen des Wahrheitsgebotes

Es fiel mitunter schwer, völlig ohne Lügen zu leben, sodass verschiedentlich versucht wurde, das Wahrheitsgebot aufzuweichen und den säkularen Bedürfnissen anzugleichen. Bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung des Verbots der Lüge wurden so manche Lügen als verzeihlicher angesehen und nachsichtiger bewertet als andere. Doch mit der tendenziellen Verzeihbarkeit von Lügen ergaben sich neue Probleme: Wie oft wurden Lügen vergeben? Durfte die Vergebung mit in ein Täuschungsmanöver eingeplant werden? Da ein Irrtum in solchen Fragen die ewige Bestrafung nach dem Tode bedeuten konnte, waren diese Fragen durchaus interessant. Ein anderer Versuch, das Lügenverbot zu umgehen, bestand in der Zulassung von Mantelreservationen. Hiernach ist eine Lüge entschuldbar, wenn der Lügner im Stillen, in Gedanken, seiner Aussage eine Einschränkung hinzufügt, die die Lüge entschärft. Dies war besonders vor Gericht von Belang, wo Schwüre in Gottes Namen abgelegt wurden. Denn jedermann musste Angst haben, dass Gott diejenigen erschlagen werde, die in seinem Namen Lügen deckten. Wer aber im Geiste eine Einschränkung machte, die nur der Allwissende erfuhr, nicht jedoch der Richter, der brauchte sich nicht zu fürchten. Also konnte ein Mörder ruhig schwören, die Tat nicht begangen zu haben, wenn er in Gedanken eine falsche Orts- oder Zeitangabe anfügte. Noch heute wird sich gelegentlich der Mentalreservation bedient, z.B. wenn ein leicht fiebriger Hypochonder nach seiner Temperatur fragt. Dann wird ein verständiger Arzt antworten, sie sei ganz normal, und in Gedanken hinzufügen: „für dieses Krankheitsbild”. Da auf diese Weise alle Lügen insgeheim zurechtgebogen werden können, eignet sich diese Methode offenbar nicht, um gute und böse Lügen zu trennen.

Philosophische Reflexionen

Auch Niccolö Machiavelli bemühte sich kaum um die Unterscheidung von guten und weniger guten Lügen. Weltlich nüchtern sah er in der Selbsterhaltung und Machtsteigerung des Staates das vorderste Ziel des politischen Handelns, zu dessen Erreichen sich der versierte Staatsmann aller Mittel bedienen müsse, also moralischer ebenso wie unmoralischer. Eingedenk der Schlechtheit und Einfältigkeit der Menschen könne und dürfe ein kluger Herrscher Treu  und Glaube nicht halten, sofern ihm Nachteile daraus erwüchsen, oder die Gründe nicht mehr vorhanden sind, aus denen er ein Versprechen ablegte. Gleichwohl rät er dem Fürsten, die Rolle des Lügners geschickt zu bemänteln und im Heucheln und Verstellen erfahren zu sein (vgl. Machiavelli 1841: 102f.; zu Machiavelli vgl. den Beitrag von Marc Schweska in diesem Heft). Hierin kommt er dem Pseudochäus erstaunlich nahe, mit dem Erasmus von Rotterdam einen durchweg unsympathischen Lügner zeichnet. Pseudochäus treibt es auf die Spitze und empfiehlt seinem wahrheitsliebenden Dialogpartner kaltschnäuzig, mit der lumpigen Wahrheit ein schiefes Maul zu ziehen, derweilen er selbst durch seine Lügen ein angenehmes Dasein führen werde. Auf dessen Einwand, dem Menschen sei die Zunge gegeben, damit dieser die Wahrheit rede, erwidert Pseudochäus: „Vielmehr das zu reden, was ihm etwas ein-bringt, und es schaut meistens nicht viel dabei heraus, wenn man die Wahrheit sagt.” (Erasmus 1947: 54) Auch der französische Staatsmann Charles Maurice de Perigord-Talleyrand zeigte sich wenig überzeugt, dass die Funktion der Sprache genuin in der Übermittlung der Wahrheit liege. Als der spanische Gesandte Iszquierdo ihn an frühere Versprechen zugunsten Karls IV, von Spanien erinnerte, verdutzte ihn der Franzose bekanntlich mit dem Hinweis, dass der Mensch die Sprache erhalten habe, um seine Gedanken verbergen zu können. Träfe dies zu, und alle Menschen wären tatsächlich Lügner, so wie Psalm 116 uns lehrt, dann wären Aussagen in hohem Grade unzuverlässig, und niemand könnte sich auf die Informationen seiner Mitmenschen verlassen. Nicht einmal überlebensnotwendigen Botschaften wie Warnungen vor verseuchtem Trinkwasser könnte getraut werden. Und auch die Gewissheit, einem Lügner ausgesetzt zu sein, würde kaum ausreichen, um die Wahrheit indirekt erschließen zu können. Denn die Kehrseite der Wahrheit sind hunderttausend Erscheinungsformen, sodass nicht schlicht das Gegenteil der Lüge angenommen werden könnte, wie Michel de Montaigne betont. Er schreibt über die Lügner: „In Wahrheit ist das Lügen ein verfluchtes Laster. […] Wenn uns Schwere und Abscheulichkeit dieses Lasters bewusst wären, würden wir es berechtigter mit Feuer und Schwert verfolgen als andere Schandtaten.” (Montaigne 2002: 56) Doch sogleich schränkt er sein Werturteil ein: „Wenn ich freilich jemals in die Lage käme, mich aus einer offenkundig tödlichen Gefahr durch eine dreiste, in aller Form vorgebrachte Lüge retten zu können, bin ich nicht sicher, ob ich stark genug wäre, dieser Versuchung zu widerstehn.” (ebd.: 57)

Montaigne war sich bewusst, dass das Wahrheitsgebot mit anderen Geboten konfligieren und durch sie eingeschränkt werden kann. Dies sei bereits immer dann der Fall, so Hugo Grotius, wenn dem Gegenüber das Recht fehlt, die Wahrheit zu erfahren. Dann sei es nicht verwerflich, ihn mit einer Falschaussage zu täuschen (vgl. Dietz 2002: 134-139). Zu diesem Schluss kommt auch Benjamin Constant. Er behauptet, der moralische Grundsatz, immer die Wahrheit sagen zu müssen, mache jedes menschliche Zusammenleben unmöglich. Dennoch sei es eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Doch was sind Pflichten? Constant: „Die Idee der Pflicht ist von der des Rechts nicht zu trennen. Eine Pflicht ist das, was in dem einen Wesen den Rechten des anderen Genüge tut. Wo es keine Rechte gibt, gibt es auch keine Pflichten. Die Wahrheit zu sagen, ist eine Pflicht also nur denjenigen gegenüber, die ein Recht auf Wahrheit haben. Nun aber hat kein Mensch ein Recht auf die Wahrheit, die einem anderen schadet.” (Constant 1986: 24) Mit diesem Gedanken erregte Constant insbesondere Immanuel Kant, einen der wortmächtigsten Gegner der Lüge. Dieser zitiert in einer seiner Schriften anfangs Chrysippos „in seiner stoischen Kraftsprache: ,Die Natur hat dem Schwein statt Salzes eine Seele beigegeben, damit es nicht verfaule”. (Kant: Verkündigung A485) Kant ergänzt: „Die Lüge […] ist der eigentlich faule Fleck in der menschlichen Natur” (ebd.: A504). Was einen Mensch auszeichnet, der eine Seele besitzt, lässt sich folglich erahnen: Er lügt nicht. Kant vermutet katastrophale Folgen, falls geringste Ausnahmen des Lügenverbotes zugestanden würden. Wahrhaftigkeit sei eine formale Pflicht, und ihre Nichtbefolgung führe zwangsläufig zum Anwachsen der Unglaubhaftigkeit bis schließlich „Aussagen (Deklarationen) überhaupt keinen Glauben finden, mithin auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird”. (Kant: Vermeintes Recht A305) Nicht einmal jemand, der offensichtlich ein Verbrechen verüben möchte, dürfte durch eine Lüge daran gehindert werden, so Kant. Denn der Lügner wäre sonst für sämtliche Folgen seines Tuns verantwortlich. Und es könnte ja gerade so sein, dass durch die Lüge das Verbrechen erst ermöglicht wird. Fragt ein Mörder etwa, ob sein Opfer in spe zu Hause sei, und es wird ihm ehrlich mit Ja geantwortet, dann kann das Opfer doch unbemerkt ausgegangen sein und so seiner Ermordung entgehen. Wird jedoch gelogen, dass es nicht zu Hause sei, und es ist tatsächlich unbemerkt ausgegangen und läuft dem Mörder nun in die Arme, dann sollte der Lügner als Urheber des Verbrechens, dass er durch seine Lüge ermöglicht hat, angeklagt werden, so fordert Kant. Kein edelmütiges Motiv und nicht einmal lebensbedrohliche Situationen könnten in seinen Augen eine Lüge entschuldigen. Diese Position hat den Vorteil der Klarheit und Eindeutigkeit, doch werden wir ihr nur ungern zustimmen.

Wider den Rigorismus

Denn offensichtlich ist es nicht unter allen Umständen richtig, die Wahrheit zu sagen, und es ist nicht immer verkehrt zu lügen. Häufig gilt es zu berücksichtigen, dass Wahrhaftigkeit mit anderen Werten und Normen kollidieren kann, so etwa mit der in westlichen Gesellschaften allgemein anerkannten Pflicht, nach Möglichkeit unschuldige Personen vor großen Schäden zu bewahren. Eine exponierte Stellung der Ehrlichkeit ließe sich dort nicht rechtfertigen. Denn schließlich enthielte die Bereitschaft, alle anderen Werte der Wahrhaftigkeit zu opfern, implizit eine Hierarchie, nach der die Lüge schlimmer wäre als der Tod. Vor allem Arthur Schopenhauer wandte sich gegen Kant und dessen rigorose Ablehnung der Lüge: „Kants bei jeder Gelegenheit zur Schau getragener, unbedingter und grenzenloser Abscheu gegen die Lüge beruht entweder auf Affektation, oder auf Vorurteil: in dem Kapitel seiner ,Tugendlehre` von der Lüge schilt er diese zwar mit allen ehrenrührigen Prädikaten, bringt aber gar keinen eigentlichen Grund für ihre Verwerflichkeit bei; welches doch wirksamer gewesen wäre.” (Schopenhauer 1988: 582) Schopenhauer hielt es für vernünftiger, in manchen Situationen dem Menschen ein Recht zur Lüge zuzusprechen. So sei das Lügen vorzugsweise dann gestattet, wenn es gelte, eine List zu kontern, unbefugte Fragen abzuwehren oder einer Notwehrlage zu entkommen. Mit Friedrich Nietzsche erreicht die Apologie der Lüge schließlich ihren Höhepunkt. Anstelle jedoch Vorzüge der Lüge zu preisen, stellt er vollends die Wahrheit und deren Wertschätzung in Frage: „Der Intellekt, als ein Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung [.,.]. Im Menschen kommt diese Verstellungskunst auf ihren Gipfel: hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im er borgten Glanzes Leben, das Maskiert sein, die verhüllende Konvention, das Bühnenspiel vor Anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, das fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte.“ (Nietzsche: KSA 1.876) Nietzsche ist ebenso extrem wie Kant, doch genauso wie jener vermag dieser uns nicht zu überzeugen. Denn auch Nietzsche geht zu weit, etwa wenn er behauptet, dass Wahrheiten nichts anderes wären als Illusionen, von denen man nur vergessen habe, dass sie Illusionen seien (vgl. KSA 1.880f.). Demnach gäbe es überhaupt keine Wahrheit. Dieser Satz jedoch („Es gibt keine Wahrheit!“) muss falsch sein. Denn entweder ist der Satz wahr, so dass es offenbar doch Wahrheit geben muss. Oder aber er ist falsch, so dass es erst recht Wahrheit gibt.

Gute und schöne Lügen

Diskrepanz des Wahren, Schönen und Guten

Die Wahrheit muss nicht beseitigt werden, um die Rehabilitierung der Lüge voranzubringen. Den Wert von wahrhaftigen Botschaften zu schmälern genügt völlig. Vielleicht reicht es schon aus zu sehen, dass das Wahre nicht per se mit dem Schönen und Guten zusammenfällt und auch nicht wie jene intrinsisch wertvoll ist. Zwar bewundern wir das Schöne ob seiner Schönheit und das Gute, weil es gut ist. Das Wahre aber, wie es uns die täglichen Schreckensmeldungen der Nachrichten nahe bringen, halten wir häufig weder für schön noch für gut. Das Wahre um seiner Wahrheit willen positiv zu bewerten ist also unangebracht (vgl. Rott 2003: 19f.). Nicht die Wahrheit führt häufig zu et-was Schönem und Gutem, sondern die Lüge. Manche Patienten z.B. werden von Medizinern mit Placebo-Medikamenten versorgt, die nichts anderes enthalten als Kochsalzlösung. Der Arzt aber erzählt, es handle sich um hocheffiziente Wirkstoffe — und den Patienten geht es sogleich viel besser. Mit Placebos kann der Arzt Ergebnisse erzielen, die normalerweise ausschließlich durch die Gabe aktiv wirksamer Medikamente erreicht werden. Starke Schmerzen, heftige Beschwerden und andere Symptome können auf diese Weise gelindert werden. Placebos können sogar zu Erfolgen führen, wo es keine wirklich effektive Therapie gibt: Sie können Gefühle wie Zuversicht und Geborgenheit hervorrufen und dazu beitragen, Ängste, Hoffnungs- und Hilflosigkeit zu bekämpfen. Wer wollte solche Täuschungsmanöver verteufeln?

Makel der Ehrlichkeit

Ehrlichkeit kann äußerst rücksichtslos und verletzend sein. Viele Lügen dagegen wer-den in bester Absicht getan, z.B. um jemanden glücklich zu machen, den die Wahrheit betrübt, um Sorge und Kummer zu vertreiben, um Kränkung zu ersparen oder angeknackstes Selbstbewusstsein zu schonen. Paradigmatische Fälle solcher Lügen sind beschönigende Antworten auf die Frage „Wie gefällt dir meine neue Frisur?”, ein beruhigendes „Ich bin mir sicher, es wird alles gut gehen”, wenn das Kind vor dem morgigen Mathe test nicht einschlafen kann, unrealistische Ermutigungen von Kranken etc. Andere Lügen er-möglichen Privatsphäre oder sichern ein Geheimnis, wo bloßes Schweigen schon die Antwort wäre, z.B. wenn die schwatzhafte Nachbarin fragt, ob wir wirklich so wenig verdienen oder tatsächlich so viel Bargeld in der Wohnung haben. Wieder andere Lügen sind der sozialen Intelligenz geschuldet, denn viele Menschen möchten in Gesellschaft gar nicht wissen, was die anderen tatsächlich von ihnen halten und über sie denken. Hier gilt das kaukasische Sprichwort: Wer die Wahrheit sagt, sollte die Pferde gesattelt lassen.

Der Wert der Lüge[1]

Wer auch solche gute Lügen verurteilen will, muss auf abstrakte Schädigungen zurück-greifen: Enttäuschte Erwartungshaltungen, der Missbrauch von Vertrauen und die Beschränkung der Selbstbestimmung des Belogenen sind aussichtsreiche Kandidaten, um noch die beste aller Lügen zum Wohle der Menschheit zu diskreditieren. Warum aber sollte man erwarten, unter allen Umständen die Wahrheit gesagt zu bekommen? Wieso halten wir auch völlig fremde Menschen, die uns einen Gebrauchtwagen verkaufen oder immer famosere Wahlversprechen geben, für vertrauenswürdig? Ein Blick auf die evolutionären Ursprünge von Ehrlichkeit und Verlogenheit mag da helfen: In kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern war es überlebenswichtig, dass jeder Zugehörige adäquate Informationen lieferte. Wenn ein Lügner seine Kumpane über Ort, Anzahl und die offenbare Kampfkraft von Tieren oder Feinden belog, dann konnte dies fatale Konsequenzen haben und womöglich den Tod vieler Angehöriger bedeuten. Die Existenz der eigenen Gruppe wurde also umso besser gesichert, je mehr ehrliche Informationen über potenzielle Gefahren und Nahrungsquellen weitergegeben wurden (vgl. Wuketits 1993: 208f.). Da aber Menschen unterschiedlichen Gemeinschaften angehören, die ganz unterschiedliche Arten und Ausprägungen der Kooperation, des Konflikts und der Konkurrenz ausbilden, wäre das Aufkommen eines Gebotes nach blinder Ehrlichkeit völlig unverständlich. Zwar ist die Forderung nach Wahrhaftigkeit ohne weiteres nachvollziehbar im Rahmen von Freundschaft und Zusammenarbeit. Keineswegs aber wäre es verständlich, warum ich auch meinem Gegner oder gar Feinde die Wahrheit schulden sollte (vgl. Mackie 1983: 233f.). Nicht umsonst betrachtet die Entwicklungspsychologie die Lüge als eine Art Intelligenztest. Denn die Fähigkeit zu lügen gilt dort als Indikator für Abstraktionsvermögen vom eigenen Wissen. Die moderne Evolutionsbiologie geht sogar einen Schritt weiter und konstatiert, dass Lügen und andere Täuschungsmanöver einen enormen Selektionsdruck für die Entwicklung von Bewusstsein, Intelligenz und Moralität dargestellt haben. Ein Großteil der psychischen Grundausstattung von Menschen, z.B. die Neigung zu Vorurteilen, Misstrauen, Sympathie und Antipathie, Schuldgefühle und Dankbarkeit, scheint durch die natürliche Auslese in unseren Gehirnen herangezüchtet worden zu sein, damit wir Betrüger entlarven und selber besser vermeiden können, bei Betrugsmanövern aufzufallen (vgl. Dawkins 2001: 303). Demnach wäre die Lüge eine treibende Kraft zur Entwicklung von Geist, Sprache und Kultur. Benutzen wir also unsere geistige Grundausrüstung und lernen aus unseren Erfahrungen. Es lohnt sich, auf der Hut zu sein, vor gemeinen Lügnern, die uns schaden und übertölpeln wollen. Ihnen wird niemand einen Freibrief für ihre Hinterhältigkeiten ausstellen wollen. Gehen wir aber auch davon aus, dass es um uns herum viele aufgeklärte Kulturwesen gibt, die ihre Intelligenz dazu verwenden, um gute und schöne Ziele zu verwirklichen, was ihnen zuweilen nur mit einer Lüge glücken kann. Solche Lügen undifferenziert als Erzübel abzuurteilen würde bedeuten, eventuell heilbringende Wirkungen von Lügen und gleichfalls eventuell schaden bringende Wirkungen von Wahrhaftigkeit zu übergehen. Deshalb müssen bei der moralischen Beurteilung kontextuelle Faktoren, wie Motiv und Konsequenz der Lüge verrechnet werden. Einige Vorschläge zur tendenziellen Evaluierung der Lüge: Je hochwertiger die konkurrierenden Werte sind, mit denen das Wahrheitsgebot kollidiert, desto eher ist es erlaubt zu lügen. Je weniger Schaden eine Lüge hervorruft, desto eher ist sie akzeptabel. Je weniger Anspruch auf Ehrlichkeit der Kommunikationspartner besitzt, desto weniger verwerflich ist die Lüge. Je trivialer die Situation ist, je weniger ernst, desto verzeihlicher ist es zu lügen. Je weniger Alternativen zur Lüge zur Verfügung stehen, desto eher ist die Lüge erlaubt. Manche Lüge wäre auf diese Weise rehabilitiert.

[1] Diese Überschrift wurde entlehnt bei Dietz 2002.

Literatur

Augustinus, Aurelius 1953 [395/420 n. Chr.]: Die Lüge und Gegen die Lüge, Würzburg Ders. 1979 [ca. 400 n. Chr.]: Bekenntnisse, Stuttgart
Constant, Benjamin 1986 [1797]: Über politische Reaktion; in: Geismann, Georg/Oberer, Hariolf (Hg.): Kant und das Recht der Lüge, Würzburg, S. 23-25
Dawkins, Richard 2001: Das egoistische Gen, Reinbek
Dietz, Simone 2002: Der Wert der Lüge. Über das Verhältnis von Sprache und Moral, Paderborn Erasmus von Rotterdam 1947 [1519]: Die Kunst zu lügen; in: Ders.: Vertraute Gespräche, Köln, S. 53-59 Kant, Immanuel 1968 [1796]: Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden
in der Philosophie; in: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 6, Frank-
furtlMain, S. 403-416
Ders. 1968 [1797]: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen; in: Ders.: Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Frankfurt/Main, S. 635-643
Machiavelli, Niccolö 1841 [1532]: Der Fürst, Darmstadt
Mackie, John Leslie 1983: Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, Stuttgart Montaigne, Michel de 2002 [1580]: Über die Lügner; in: Ders.: Essais, Bd. 1, Frankfurt/Main, S. 52-60 Nietzsche, Friedrich 1999 [1873]: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne; in: Ders.:
Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA) hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari,
Bd.l, München, S. 873-890
Rott, Hans 2003: Der Wert der Wahrheit; in: Mayer, Mathias (Hg.): Kulturen der Lüge, Köln, S. 7-34 Schopenhauer, Arthur 1988 [1840]: Preisschrift über die Grundlage der Moral; in: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, hg. v. Gerd Haffmanns, Bd. 3, Zürich, S. 459-632
Sommer, Volker 1992: Lob der Lüge, München
Wuketits, Franz M. 1993: Verdammt zur Unmoral? Zur Naturgeschichte von Gut und Böse, München

nach oben