Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 167: Politik und Lüge

Editorial

aus: Vorgänge Nr. 167 ( Heft 3/2004 ), S.1

Vom Trojanischen Pferd des Odysseus bis zum Truthahn aus Kunststoff, den George W. Bush seinen Soldaten im Irak zu Thanksgiving darbot: Die Politik hat im Verlauf der Jahrtausende immer wieder Symbole für Täuschung, Betrug, List und Lüge produziert. Kanzler Kohls Falschaussage vor dem Flick-Untersuchungsausschuss, hernach als Blackout kaschiert, gilt hierzulande als klassisches Beispiel für die Lüge in der Politik, ebenso wie das laut tönende (und teuer bezahlte) „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich wiederhole: mein Ehrenwort” des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, oder wie die angeblichen jüdischen Vermächtnisse der Hessen-CDU im Zuge des Parteispendenskandals. Politik und Lüge sind zwei Seiten einer Medaille, so möchte man meinen — und so beklagt sich der Steuerhinterzieher jeden Abend an seinem Stammtisch.

Ein moralisierender Blick auf die Politik ist zumeist ein Produkt der Heuchelei. Denn als Spiegel der menschlichen Leidenschaften verweist die Sphäre des Politischen auf uns selbst: Immerhin lügen wir laut seriösen psychologischen Untersuchungen durchschnittlich alle acht Minuten; wirklich schlimm ist das nur in wenigen Fällen. In der Politik wird die Lüge aber immer dann zur Gefahr für die Demokratie, wenn eine Atmosphäre der „Entwirklichung” (Hannah Arendt) entsteht und die Selbsttäuschung der Akteure über ihr eigenes Handeln alles andere dominiert. In ihrem Aufsatz. Die Lüge in der Politik, einem Meisterwerk politischer Essayistik, hat Hannah Arendt vor über dreißig Jahren auf diesen Zusammenhang verwiesen. Anhand der Pentagon-Papers, jener großangelegten internen Untersuchung der US-Administration über deren Fehler während des Vietnamkriegs, die via New York Times an die Öffentlichkeit gelangte, beschrieb Arendt die Gemengelage aus Selbsttäuschung, Ideologisierung, Imagepflege, PR-Fixiertheit und Lüge, die in der amerikanischen Regierung in Kriegszeiten herrschte. Umso erstaunlicher, dass dieser prophetisch anmutende Essay, den die vorgänge in einer gekürzten Version drucken, heute in kritischen Betrachtungen zur Politik der Bush-Regierung keine Rolle zu spielen scheint. Viele Passagen mit verblüffenden und erschreckenden Parallelen zur Gegenwart sind um einiges hellsichtiger als alle momentan eilig herunter geschriebenen Pamphlete.

Diese Ausgabe der vorgänge stellt die Frage nach der Lüge in der Politik aus aktuellem Anlass noch einmal: Auf Hannah Arendt folgt Hauke Brunkhorsts Auseinandersetzung mit ihrem Essay sowie mit ihrem einige Jahre zuvor entstandenen Text Wahrheit und Politik. Claus Offe wirft einen nüchternen Blick auf die politische Lüge und zeigt, wozu sie dient und wie man sie dennoch beschränken kann. Den „unmoralischen” Blick verficht Gerit Hoppe, der sich an einer philosophisch fundierten Rehabilitierung der Lüge versucht. Als theoretischer Stammvater von Lüge und Unmoral in öffentlichen Angelegenheiten gilt immer noch Machiavelli: Marc Schweska sieht jedoch den Meisterdenker der Renaissance eher über die soziale Ordnung rätseln. Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit: HansJoachim Reeb unternimmt einen systematisierenden Streifzug durch die Geschichte der Kriegsbegründungslügen. Minutiös seziert Thymian Bussemen die Kriegslügen, PR- und Propagandastrategien der Bush-Regierung vor und während des Irakkriegs. Peter Bender, Giovanni di Lorenzo und Gustav Seibt diskutieren mit Ivan Nagel dessen im Frühjahr erschienenes Falschwörterbuch, das vor der zersetzenden Wirkung der Lüge in der politischen Sprache warnt. Ein Literaturbericht rundet wie immer den Thementeil ab.

Der Essay von Gesine Schwan würdigt die 2002 verstorbene Grande Dame des deutschen Journalismus, Marion Gräfin Dönhoff. In den Kommentaren und Kolumnen lotet Stephan Klecha die Chancen einer neuen Linkspartei aus. Im Anschluss an den Rezensionsteil dokumentieren wir den Protest Hamburger Professorinnen und Professoren gegen die mittlerweile abgesagte Verleihung der Ehrendoktorwürde an den russischen Präsidenten Putin.

Täuschungsfreie Lektüre  wünscht Ihnen

Alexander Cammann

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