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Die Rolle der Lüge in der Kriegs­ge­schichte

Historischer Längsschnitt und systematisierende Überlegungen

aus: Vorgänge Nr. 167 ( Heft 3/2004 ), S.56-64

Der am Anfang eines größeren militärischen Konfliktes regelmäßig zitierte und dem republikanischen Senator Hiram Johnson zugewiesene Ausspruch „Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit” verweist auf die intime Nähe von Lüge und Kriegsberichterstattung (vgl. Calließ 1997).‘ Im Krieg stellt die Täuschung des Gegners eine übliche, häufig notwendige militärische Handlung dar, um auf dem Gefechtsfeld erfolgreich zu sein (vgl. Kunczik 1995; Starkulla jr. 2002). Um die militärische Informationsdominanz zu erreichen, werden auch sog. Psychologische Operationen (PsyOps) durchgeführt. Die Geschichte der Kriegsberichterstattung handelt folglich von zahlreichen Inszenierungen, Manipulationen, Mythen und Lügen (vgl. Albrecht/Becker 2002; Löffelholz 2004).

Eine ganz andere politisch-moralische Qualität besteht aber dann, wenn aus Anlass oder zur Begründung eines Kriegsengagements von den politischen Akteuren nicht die Wahrheit gesagt wird. Auf diesen Aspekt konzentriert sich die folgende Analyse. Die Aussagen der Politiker müssen dabei im jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontext gesehen werden. Die Funktion der Kriegslegitimation ist gekoppelt an das politische System und an die Relevanz von Öffentlichkeit. Während totalitäre Regime auf unbedingte Gefolgschaft dringen, müssen die politischen Akteure demokratischer Gesellschaften in einer öffentlichen Debatte um Zustimmung und Unterstützung für ihr Anliegen werben. In beiden Fällen bedienen sich die Machthaber einer breiten Palette von persuasiven Methoden, wozu letztlich auch die Lüge gehört.

Problem­au­friss aus sozial­wis­sen­schaft­li­cher Perspektive

Die Thematik wird hier als ein Ausschnitt aus dem Problemfeld der politischen Kommunikation betrachtet. Kommunikationsprozesse finden demnach im Wechselwirkungsverhältnis zwischen Politik, Öffentlichkeit und den Medien statt (vgl. Jarren/Donges 2002). Die Herstellung und Steuerung von Öffentlichkeit durch die politischen Akteure mittels publizistischer Instrumente kann als (sicherheitspolitische) Informationspolitik bezeichnet werden.

Die sicherheitspolitische Informationspolitik bedient sich verschiedener Strategien, Instrumente und Methoden. Die Verwendung von Lügen zur Kriegsbegründung muss dabei in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden. Wichtige Abgrenzungen ergeben sich zur Propaganda und zur PR. Die Lüge ist „die bewusst unwahre, eine Täuschung beabsichtigende Aussage, im weiteren Sinn die absichtliche Entstellung der Wahrheit, die Verdrehung der Tatsachen, die gewollte Zweideutigkeit und Unbestimmtheit und Heuchelei. Das geläufige Verständnis von L. ist, mit Täuschungsabsicht die Unwahrheit zu sagen” (Regenbogen/Meyer 1998: 390). Propaganda kann als eine Form beeinflussender Kommunikation beschrieben werden, „die die Annahme von nahe gelegten Verhaltens-weisen durch die Konstruktion eines ideologischen Weltbildes, dessen umfassender Anspruch durch Wahrheit und Glaubwürdigkeit suggerierende Techniken aufgeladen wird, und durch das Versprechen von Sanktionen sichert” (Arnold 2003: 79). PR im umfassen-den Sinne entspricht nach diesem abstrakten Verständnis der Propaganda. Es geht jeweils um einen „Prozess zur Konstruktion wünschenswerter Wirklichkeit” (Merten 1999: 260). Somit stellt das Instrument der Lüge lediglich eine Methode im Spektrum von Propagandamaßnahmen dar. Andererseits können Manipulation bzw. Täuschung als Teilelemente jeder Lüge angesehen werden. Desinformation, ein Begriff der marxistisch-leninistischen Kommunikationstheorie, beinhaltet spezifische Täuschungsmodi, entspricht aber inhaltlich der Lüge. Eine trennscharfe Abgrenzung aller dieser Begriff ist allerdings sowohl im Alltags- als auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht erkennbar.

Die Lüge im Kontext der Kriegsbegründung kann hier als eine Form von Propaganda verstanden werden, um die Öffentlichkeit durch Täuschung über den Wahrheitsgehalt einer Aussage zur Zustimmung, Unterstützung oder Mitwirkung für militärische Handlungen zu bewegen. Diskussionen um Kriegslügen lassen sich insbesondere unter philosophischen, psychologischen, ethischen und politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten führen. Die politische Kommunikation fragt nach den Funktionen, Strukturen und Instrumenten dieser Kommunikationsform. Koppelt sie ihr Erkenntnisinteresse an die Frage nach der Realisierbarkeit von Öffentlichkeit als Chance jedes Individuums, sich umfassend über die Entscheidungen und Handlungen, die in der Sicherheitspolitik getroffen werden, zu in-formieren und seine Ziele und Interessen in den politischen Prozess einzubringen, so wird der normative Maßstab zur Bewertung der Informationspolitik vorgegeben.

Im folgenden sollen zunächst die Funktionen der Lüge im Laufe der Kriegsgeschichte identifiziert werden, dann die Akteure, Prozesse und Instrumente näher betrachtet werden, um abschließend zu einer Bewertung über Wirksamkeit und Erfolg der Lüge zu kommen. Dabei wird auf folgende bekannte Beispiele Bezug genommen (Bölsche 2003):

– Emser Depesche von Wilhelm I. (1870): Bismarck verzerrte die Veröffentlichung derart, dass Napoleon III. sie als Kriegserklärung bewertete.
– Vorgetäuschter polnischer Angriff auf den Reichssender Gleiwitz (1939): Adolf Hitler nahm die Inszenierung zum Anlass, den Zweiten Weltkrieg auszulösen.

Tonkin-Lüge (1964): Berichte über den angeblichen Überfall des US-Zerstörers Maddox durch Nordvietnamesen nutzte Präsident Johnson, um sich am Vietnam-krieg zu beteiligen.Brutkasten-Lüge (1990): eine durch die Werbeagentur Hill & Knowltou inszenierte öffentliche Anhörung einer „Augenzeugin” für vermeintliche Gräueltaten in Kuwait wurde von Präsident Bush sen. als eine Begründung für den Krieg gegen den Irak aufgegriffen.

Gräueltaten und systematische Vertreibungen durch Serben im Kosovo (1999): Die Ereignisse waren mit Anlass (Raczak) und Begründung (Rugova, Hufeisenplan) für westliche Politiker, mit NATO-Luftstreitkräften Ex-Jugoslawien anzugreifen.Massenvernichtungswaffen im Irak (2002): Sie dienten denSpitzen der US-Administration als Hauptargument für einen erneuten Krieg gegen den Irak.

Funktionen von Lügen

Die Bedeutung von Propaganda und speziell der Lüge hängt von der Stärke des Begründungszwanges für den Krieg ab. Im Laufe der Geschichte kann der Wandel in der Kriegslegitimierung nach historischen Phasen unterschieden werden (Reeb 1998: 4ff.). So wurde im Feudalismus auf die Lehre vom gerechten Krieg Bezug genommen, um die Durchsetzung des christlichen Weltgeltungsanspruchs mit militärischen Mitteln zu begründen. Der Absolutismus verknüpfte das staatliche Gewaltmonopol nach innen mit dem Kriegführungsrecht nach außen. Seit dem Zeitalter der Nationenbildung versuchen die Machthaber auch mittels des Militärs, eine Identifikation des Bürgers mit der Nation herzustellen. Das führte zu den Massenheeren und Vernichtungskriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Kontrahenten im Kalten Krieg stützten die Verteidigungsbereitschaft ihrer Bürger auf die jeweiligen Wertesysteme. Nach 1990 dienen allgemeinere Ideen wie Weltfrieden, Humanität, aber auch Sicherheit und Stabilität zur Begründung, notfalls mit militärischer Gewalt diese Werte durchzusetzen.

In Zeiten absoluter Definitionsmacht brauchte die Propaganda nicht kriegsbegründend eingesetzt zu werden. Sie erfüllte hauptsächlich militärische Funktionen im Krieg. Auch bestimmte die Geheimdiplomatie den Entscheidungsprozess über Kriegsfragen. Im weiteren Verlauf der Geschichte ist eine Zunahme an Öffentlichkeit in sicherheit sund außenpolitischen Angelegenheiten erkennbar. Sie hängt mit der Ausbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien zusammen. Diese Tendenzen zur Demokratisierung und Partizipation des Bürgers führten auch zu vermehrten Mitsprachansprüchen bei den Entscheidungen über „Krieg und Frieden”. Die öffentliche Meinung gewann als außenpolitischer Faktor an Bedeutung. Dabei wurde festgestellt, dass demokratische Gesellschaften militärischer Gewalt grundsätzlich skeptisch bis ab-lehnend gegenüber stehen. Diese „Kultur der Zurückhaltung” ist aufgrund der spezifischen Sozialisationserfahrungen in der deutschen Bevölkerung seit 1945 besonders aus-geprägt (Reeb 2003: 23). Die politischen Akteure müssen sich heute also um Zustimmung und Unterstützung in der Öffentlichkeit und — aufgrund des Budgetrechts — bei deren parlamentarischen Vertretern bemühen (Müller 2002: 2).

Die von Raum und Zeit zunehmend unabhängige Medienberichterstattung erhöht den Grad an Publizität von Informationen. Die politischen Akteure kennen die Auswirkungen beim „Kampf um Worte” und die „Macht der Bilder”. Dabei sehen sich die demokratisch gewählten Machthaber den totalitären Akteuren gegenüber, die ohne Rücksichtnahme auf gesellschaftliche und moralische Bindungen die medialen Mechanismen ausnutzen und dadurch den Begründungsdruck in pluralistischen Gesellschaften erhöhen.

Die politischen Akteure, die von der Richtigkeit und Notwendigkeit eines Krieges überzeugt sind, benötigen dafür Gründe. In totalitären Gesellschaften, in denen die Kommunikations- und Informationssysteme kontrolliert und gesteuert werden, die Bevölkerung über geringe politische Kenntnisse verfügt und keine Mitsprache besitzt, richtet sich diese Begründung eher nach außen. Die Vertreter demokratischer Gesellschaften müssen zunächst auf die eigene Öffentlichkeit einwirken. In beiden Fällen kann es zu Lügen kommen, wenn die „echten” Kriegsgründe gegenüber der Zielgruppe nicht akzeptabel oder zu komplex erscheinen und durch einfache Formeln bzw. Botschaften ersetzt werden können. Des weiteren werden Begründungen gesucht, die der Öffentlichkeit Orientierung und Entlastung bringen können („Wofür wir kämpfen“), d.h. die überzeugende Lüge dient als Verstärker, um die Massen zu mobilisieren und die Soldaten für den Kampf zu motivieren.

Die in der Kriegsgeschichte vor findbaren Muster für Kriegslügen lassen sich dem-nach in zwei Begründungsfelder zusammenfassen:
Ein beabsichtigter Krieg wird als Verteidigung getarnt bzw. der Gegner wird dazu durch Intrigen provoziert (Emser Depesche 1870, Reichssender Gleiwitz 1939, Tonkin 1964, Massenvernichtungswaffen im Irak 2002).

– Gräuelgeschichten und moralische Überhöhungen (Dämonisierung des Gegners) emotionalisieren die Öffentlichkeit zur Kriegsbereitschaft (Brutkasten-Lüge 1990, Gräueltaten im Kosovo 1999).

Diese korrespondieren mit Nutzenkalkül und Moral als den beiden Begründungspfeilern der Theorie vom demokratischen Frieden, um einen breiten Konsens für ein militärisches Engagement zu sichern (Müller 2002: 4). Während der Nutzen in der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Sicherheit und Stabilität gesehen werden kann („Kampf gegen den Terror“), besteht das moralische Gebot in der Wahrung oder Durchsetzung von Menschenrechten (humanitäre Intervention, z.B. Kosovo 1999).

Akteure, Prozess und Instrumente

Die Verbreitung einer Lüge zum Zwecke der Kriegslegitimation setzt ein prominentes, planmäßiges und wirkungsvolles Handeln voraus. Die Aussendung von Botschaften mit weitreichenden Folgen für die Existenz eines Staates ist in der Regel den führenden politischen Akteuren vorbehalten. Die Relevanz und Glaubwürdigkeit der Aussage wird erhöht, weil nur die obersten Repräsentanten der Exekutive den unbeschränkten Zugriff auf alle Ressourcen des Staatsapparates (Geheimdienste, Militär) besitzen. Außerdem erhält die Verlautbarung des Oberbefehlshabers zusätzliches legitimatorisches Gewicht gegenüber den auf Hierarchien und dem Befehl und Gehorsam-Prinzip fixierten Streitkräften.

Lügen mit einem solchen politischen Gewicht werden nicht unvorbereitet in die Welt gesetzt. Ihnen gehen Planungen voraus, um weitgehend sicher zu stellen, dass die Aussage plausibel und unangreifbar ist. Der Professionalisierungsgrad der sicherheitspolitischen Informationsarbeit hat sich im Laufe der Zeit immer weiter erhöht und den technologischen Bedingungen angepasst. Strukturen sind geschaffen worden, um Botschaften auf ihre Glaubwürdigkeit und Wirkung zu testen und in ein kommunikatives Netzwerk einzubetten. Dazu gehören PR-Berater (Spin-Doctors) und Planungsbüros. Sie haben die Kompetenzen und Kapazitäten, um Analysen und Kommunikationsstrategien zu erstellen. Auf der Grundlage von Tatsachenberichten und analytischen Einschätzungen kreieren sie Argumentationsstränge mit hoher Stringenz und Plausibilität. Der PR-Berater gibt in Kenntnis der Wirkungsmechanismen von Medienberichterstattung den Aussagen dann den entsprechenden Drall (sexed up). Das Planungsbüro plant schließlich den richtigen Zeitpunkt und die geeignete Kommunikationsform für den politischen Akteur, um seine Lüge zu verbreiten. Entsprechende Vorwürfe gingen an den PR-Berater des britischen Premierministers, Alaistar Campbell, im Zusammenhang mit dem Irak-Dossier vom 24. September 2002.

Mit einem Office for Strategic Influence wollte das Pentagon bereits Anfang 2002 eine Organisation schaffen, um mehr oder weniger wahrheitsgemäß die Gesellschaften außerhalb der USA zu informieren bzw. zu manipulieren. Nachdem die Pläne öffentlich gemacht wurden, musste aufgrund der Proteste das Projekt in der geplanten Form eingestellt werden (Christiansen 2004). Nach dem 11. September war auch im State Departement eine Staatssekretärin für Public Diplomacy and Public Affairs engagiert worden, um das Image der USA in der arabischen Welt verbessern zu helfen. Als weitere Koordinierungsstelle entstand per Dekret des Präsidenten vom 21. Januar 2003 ein Office of Global Communications, das direkt im Weißen Haus tätig sein sollte. Es hatte den Auf-trag, „wahrheitsgemäße, genaue und effektive Mitteilungen” herauszugeben, um so die US-Interessen im Ausland zu fördern bzw. Missverständnisse zu vermeiden. Das Office of Global Communications versuchte zunächst im Hinblick auf einen bevorstehenden Irak-Krieg mit der Studie Apparatur of Lies den Propaganda-Apparat von Saddam Hussein seinerseits zu entlarven. Weitere (geheimdienstliche) Organisationen arbeiten diesen PR-Büros im Hintergrund zu (Bussemer 2003).

Ein solches Handeln ist dann wirkungsvoll, wenn die technologischen, ökonomischen und publizistischen Bedingungen beachtet werden. Medien konstruieren die Wirklichkeit nach ihren eigenen Spielregeln. Eine Information wird erst dann zur Nachricht, wenn sie bestimmte Faktoren erfüllt. Das Ungewöhnliche und Interessante hat einen höheren Publizitätswert als das Alltägliche. Aktuelle Ereignisse, die sich außerdem personalisieren lassen, werden bevorzugt thematisiert. Eine auf Beschleunigung und Sensation fixierte Berichterstattung vernachlässigt das Hintergründige. Medien agieren dabei mit einem spezifischen Wahrheitsbegriff, der nur im Idealfall Objektivität beinhaltet. Gerade die Kriegsberichterstattung unterwirft sich in ausgeprägter Weise den Sachzwängen der Nachrichtenproduktion. Die politischen Akteure tragen durch ihre Informationssteuerung (Pseudo-Events, Verknappung, Zensur) dazu bei. In ihren Bemühungen, notfalls die Wahrheit zu verschweigen, kommen ihnen die Charakteristika des Ereignisjournalismus entgegen.

Außerdem greifen Journalisten in der politischen Berichterstattung regelmäßig und meist unreflektiert auf die Verlautbarungen der politischen Führer zurück. Die Ansprache an die Nation, eine Rede oder ein Fernsehinterview eines Regierungschefs finden problemlos Sendezeiten im Fernsehen und Platz in der Tagespresse. Der Verweis auf Dossiers oder Studien dient dazu, die für die Journalisten benötigten Hintergründe zu liefern. Aufgrund fehlender Eigenrecherche greifen sie gerne auf diese Papiere zurück. Nachdem zunächst die Botschaft breit publiziert wurde, hat es im nach hinein eine kritische Berichterstattung schwer, sie argumentativ zu widerlegen.

Ein besonders wirkungsstarkes Instrument stellen Sprachbilder und Visualisierungen dar. Sprachbilder werden im Stil von Werbeslogans kreiert und sind besonders einprägsam und eindringlich. Der Gegner wird dämonisiert (Hussein und Milosevic als Teufel oder zweiter Hitler). Bilder erscheinen authentisch und lösen Emotionen aus, insbesondere wenn bestimmte Motive gewählt werden (Babies in Kuwait, Frauen und Kinder im Kosovo, hilflose Tiere am Golf). Sie sind für Fälschungen besonders anfällig.

Schließlich tragen die Verschwörungstheorien und Manipulationen im Internet dazu bei, dass Realität und Fiktion immer schwieriger zu unterscheiden sind. Insgesamt begünstigen die Entwicklungen in der Medienberichterstattung die geschickte und versteckte Lüge des politischen Akteurs.

Wirksamkeit und Erfolg

Wirksamkeit und Erfolg einer Lüge sind von bestimmten sich wechselseitig beeinflussenden Bedingungen in der Öffentlichkeit, den Medien und im politischen Prozess der Akteure abhängig.Die Bevölkerung wird umso eher der unwahren Aussage zustimmen, je uninformierter sie über die Hintergründe des Konfliktes ist. Statt sich eine eigene Meinung bilden zu können, werden in der Öffentlichkeit Stereotype bedient und kognitive Harmonien erzeugt. Dem geht oft ein fehlendes oder geringes Interesse an der Konfliktbewältigung ein-her. Wenn der militärische Einsatz nicht auf dem Boden des eigenen Landes stattfindet und das Militär als Dienstleistungsagentur in einer arbeitsteiligen Gesellschaft angesehen wird, halten sich das Engagement und das Erregungspotenzial der Bürger in Grenzen. Schließlich sind die grundlegenden gesellschaftlichen Einstellungen zu „Krieg und Frieden” entscheidend. Eine patriotische und bellizistische Grundeinstellung fördert stärker eine unreflektierte Zustimmung zur unwahren Kriegsbegründung.

Die Medien haben in demokratischen Gesellschaften u.a. die Aufgabe, die politischen Akteure zu kritisieren und zu kontrollieren („vierte Gewalt“). Außerdem sollen sich Journalisten an berufsbezogene Kriterien wie Unabhängigkeit und Objektivität ausrichten. Ein solches journalistisches Aufklärungspotenzial und die Durchsetzung publizistischer Qualitätsstandards kann in der Praxis nicht uneingeschränkt vorausgesetzt werden. Aufgrund der Berücksichtigung von ökonomischen Gesichtspunkten fehlen Ressourcen, um die „Wächterfunktion” wahrnehmen zu können. Stattdessen macht sich in den Mainstream-Medien ebenso wie in der Bevölkerung eine Rally round the Flag-Mentalität breit, die zu einseitigen Sichtweisen führt.

Schließlich dürfte eine politische Debatte um vermeintliche Lügen der Exekutive dann ausbleiben, wenn ein großer Konsens unter den Eliten in außenpolitischen Angelegenheiten vorhanden ist.

Diese Bedingungen treffen vor Beginn und in der Anfangsphase des Krieges zu. Aber auch während der militärischen Auseinandersetzung versuchen dann die politischen Akteure wenn nötig durch weitere Lügen das positive Meinungsklima aufrecht zu erhalten. Sollten sich die suggerierten politischen und militärischen Erfolge nicht ein-stellen, sind durchaus Legitimationsdefizite in der Öffentlichkeit, in den Medien und im politischen Prozess feststellbar (Müller 2003:4). Erst jetzt beginnt eine breitere Debatte über die Kriegslüge. Die Opfer und Zerstörungen des Krieges lassen sich aber nicht mehr rückgängig machen.

Selbstkritik der Medien an ihrer Berichterstattung, die Gründe und den Verlauf eines Krieges nicht intensiv hinterfragt und erörtert zu haben, ist stets erst nach den Kampfhandlungen geäußert worden. Trotz eindringlicher Appelle seit dem Golfkrieg 1991 verbesserte sich die Berichterstattung weder vor bzw. während des Kosovo-Krieges 1999 noch des Irak-Krieges 2003. Die kriegsbegründenden Umstände für die Luftangriffe gegen Ex-Jugoslawien wurden zunächst im Frühjahr 2000 (Diskussion um den „Hufeisenplan”) und dann aufgrund des Monitor-Beitrages Es begann mit einer Lüge (WDR, Februar 2001) vor einem interessierten Publikum erörtert. Eine nachhaltige Wirkung hatte diese Debatte nicht.

Diese Diskussionen zeigen aber auch, dass es dem investigativen Journalismus schwer fällt, im nachhinein eine Lüge eindeutig als solche zu enttarnen. Meist bleiben die Umstände der inkriminierten Aussage unklar und widersprüchlich. Das „Massaker von Raczak” ist genauso wenig aufgeklärt worden wie die Existenz von irakischen Massenvernichtungswaffen. Die jüngste sicherheitspolitische Informationsarbeit der USA war in der eigenen Bevölkerung anfangs erfolgreich. Gemäß einer Studie der Universität Maryland hielten sechzig Prozent aller US-Bürger sowie sogar achtzig Prozent der regelmäßigen Zuschauer des Fernsehsenders Fox News (Murdoch) die drei Aussagen für richtig, im Irak wären Massenvernichtungswaffen gefunden worden, es bestehe eine nachweisliche Verbindung zwischen dem Baath-Regime und Al Qaida und die weltweite öffentliche Meinung hätte den Krieg im Irak befürwortet (Pipa 2003). Dies bestätigt die Wirkung von vertrauenswürdigen Quellen. Allerdings belegen die spätere Berichterstattung und Umfrageergebnisse, dass aufgrund der neuen Entwicklung (Anschläge, getötete Soldaten) ein Zugstimmungsumschwung zum Irak-Engagement eintreten konnte. Dazu haben die im Frühjahr 2004 veröffentlichten Bilder mit Aufnahmen von misshandelten Gefangenen durch amerikanische Soldaten maßgeblich beigetragen.

Bewertung

Die Anwendung militärischer Gewalt muss an enge sozialethische Bedingungen geknüpft sein. Sie setzt in pluralistischen Gesellschaften eine eingehende Erörterung im diskursiven Verfahren voraus. Öffentlichkeit stellt in der sicherheitspolitischen Kommunikation eine normative Bezugsgröße dar. Dabei handelt es sich um ein Prinzip des größtmöglichen Ausmaßes an Teilhabe an sicherheitspolitischen Angelegenheiten. Alle Individuen sollen die Chance haben, sich umfassend über die Entscheidungen und Handlungen, die in der Sicherheitspolitik getroffen werden, zu informieren und ihre Ziele und Interessen in den politischen Prozess einbringen zu können.

Diesen demokratischen Prinzipien widerspricht die Lüge von politischen Akteuren in eklatanter Weise. Eine solche Informationspolitik ist nicht nur undemokratisch, sondern besonders auch friedensfeindlich.

[1] Das Zitat datiert auf das Jahr 1917: „The first casualty when war comes is truth” (vgl. Artus 2003).

Literatur

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