Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 167: Politik und Lüge

Sprach­kritik als Lügen­schutz?

über Bushs Kriegslügen, deutsche Sozialreformen und Ivan Nagels Falschwörterbuch*

aus: Vorgänge Nr. 167 ( Heft 3/2004 ), S.78-90

Ivan Nagel: Der Auslöser meiner Reden, Aufsätze und Briefe, die seit Anfang 2002 entstanden sind und die ich in meinem Falschwörterbuch versammelt habe, war der 11. September – im Erschrecken, im Nachdenken über das, was sich da verändert hat. Die Aufsätze sind zum großen Teil polemisch. Sie richten sich gegen Missbräuche der Sprache, der Intelligenz, der politischen Macht. Aber ihr Impuls ist trotzdem nicht polemische Empörung, sondern Trauer. Es ist die Trauer darüber, dass die Welt, die reiche Welt und die arme Welt, seit 1989 zwölf Jahre lang versäumt haben zu versuchen, ein menschlicheres, ein besseres Leben auszuprobieren. Statt dessen wurde in Machtstreben und Elendslähmung die Katastrophe abgewartet – die Katastrophe, in deren Konsequenz es nun für das Bessere, Menschlichere vielleicht zu spät ist.

Zu spät: Das ist ein Problem des Buches. Als ich diese Aufsätze schrieb, fand ich es fast unverständlich, dass sie als etwas Neues, als etwas Mutiges begrüßt wurden. Ich fand, dass das, was in ihnen steht – Analyse, Diagnose und Polemik –, dem normalen Menschenverstand längst sichtbar war. Warum haben es damals, als das Falsche vielleicht noch zu verhindern war, nicht alle gesagt? Heute dagegen ist vieles von den Prophetien dieses Buches langweilig geworden – weil es leider genau so gekommen ist. Die Prophetien, die nicht langweilig erscheinen: Es sind die, die nicht eingetreten sind. Die Evergreens unter den Propheten sind die unkontrollierbaren: immer noch die Johannes-Apokalypse, der Nostradamus. Keiner kann sie kontrollieren, viele glauben an sie. Dieses Buch ist keine Prophetie in diesem Sinn. Es ist der schlicht staatsbürgerliche Versuch, das zu sagen, wozu man damals verpflichtet war und heute verpflichtet ist, zu sagen.

Bettina Gaus: Herr Nagel, Sie haben „Falschwörter” in ganz unterschiedlichen Bereichen entlarvt, also nicht nur im Bereich der Kriegsberichterstattung, sondern beispielsweise auch im Bereich der Ökonomie. Über George W. Bush schreiben Sie: „Die Person ist nichts als die Rolle. Ganz hohl, füllt sie sich mit den eigenen Lügen. Bush scheint dumm genug, um Bush fast alles zu glauben.” Gilt das als Faustregel für die allermeisten Urheber von „Falschwörtern”? Glauben diese an das, was sie sagen?

Nagel: Es geht hier nicht nur um die Urheber von „Falschwörtern”, sondern um uns. Wir sind es, die die „Falschwörter” hören und nach einiger Zeit ziemlich hemmungslos benützen. Das Buch ist keine Presse-Kritik, sondern Politik-Kritik – und damit Kritik an uns selbst. Gott sei Dank bestehen wir nicht aus lauter George W. Bushs; wir sind nicht zur Lüge entschlossen. Aber es gibt in uns einen Grad der Abstumpfung durch öffentliche Phrasen, durch oft wiederholte Lügen. Plastischer noch als im Falle des Irakkriegs ist das bei den neoliberalen Phrasen von den „Sozialreformen” erkennbar, die uns monatelang, jahrelang wiederholt wurden und an die wir anfangen zu glauben. Bush dagegen ist kein Konsument von Propaganda: Er hat eine Mission und produziert die Falschwörter selber.

Gaus: Aber Bush glaubt an seine Falschwörter?

Nagel: Wahrscheinlich mit größter Überzeugung. Wir aber lassen sie durch Gewöhnung und Abstumpfung zu. Weil nicht Glaube sondern Stumpfheit unsere Krankheit ist, haben wir seine Kriegslügen schon fast vergessen – während wir die Reformlügen hinnehmen, uns verlassend auf deren immer noch tägliche Wiederholung durch irgendwelche Autoritäten aus Wissenschaft oder Politik.

Gaus: Sie reden jetzt über die Rolle des Publikums. Doch sind Sie der Meinung, dass beispielsweise die Verfechter der Agenda 2010 an das glauben, was sie sagen? Die Gewerkschaftsführer, die Wirtschaftsführer – glauben sie an das, was sie sagen?

Nagel: Diese Leute sind selber in einer ähnlichen Lage wie wir, ihr Publikum: Nach einiger Zeit fangen wir gemeinsam an, die Meinung, die uns als autoritative und einzig wirkliche, wichtige, richtige präsentiert wird, zu glauben. Ich vermute, dass Bush seine Propaganda nicht als Lüge, sondern als falsche Überzeugung produziert. Er hält das Gute für das Böse und das Böse für das Gute: den Krieg für Wohltat, Amerikas Herrschaft für Befreiung. Und das ist eine Katastrophe für die Welt.

Peter Bender: Die Frage ist ja ganz alt. Wir haben sie in den letzten Jahrzehnten oft diskutiert, wenn wir uns fragten, wieweit die kommunistischen Herrscher ihre eigenen phantastischen Reden selbst wirklich glauben konnten. Vieles war so absurd, dass sie es nicht glauben konnten. Aber wenn man es hundertmal sagt, dann glaubt man es – diesem Hinweis von Ivan Nagel stimme ich zu. Zeit und unablässige Wiederholung spielen dabei eine große Rolle. Man kann dann fast nicht mehr anders, als das zu glauben, was man sagt. Noch ein anderer Punkt scheint mir wichtig. Um bewusst fortwährend zu lügen, um bewusst permanent das Gegenteil der Wahrheit zu sagen, brauchen sie das Format eines Zynikers. Dieses Format haben nur sehr wenige Politiker.

Gustav Seibt: In Washington, da bin ich mir ziemlich sicher, sitzen überwiegend Überzeugungstäter. Ich habe nur einen von ihnen einmal persönlich kennen gelernt, Richard Perle, der nicht in der ersten Reihe sitzt, aber doch als neokonservativer Vordenker der Administration gilt. Mein Eindruck nach einem Abendessen, bei dem ich an seinem Tisch saß: Perle hat ein echtes Sendungsbewusstsein, so wie offenbar viele dieser Leute.

Er glaubt, Amerika müsse die Welt retten vor einer „dritten Welle des Totalitarismus”, jene bei den Neocons vorherrschenden Deutung des Terrorismus. Andererseits ist Perle ein hartgesottener Bursche, der weiß, was für Schrecknisse sich hinter collateral damage verbergen und wie „weiche Ziele” wirklich aussehen. Darüber gibt er sich keinen Illusionen hin. Im Zweifelsfall würde er sich sogar gegen eine bestimmte Form von politisch korrekter Redeweise wehren und sagen: Wir brauchen eine streitbare Demokratie, die auch den Schrecklichkeiten ins Auge sieht, die im Kampf anfallen. Daneben gibt es in Washington die religiös aufgeladenen Argumentationen bei verschiedenen Politikern. Allerdings würde ich vermuten, dass Donald Rumsfeld eher dem Zynikertypus näher kommt, von dem Peter Bender glaubt, er sei schwierig durchzuhalten.

Nagel: Es gibt mittlerweile, gerade weil die Lüge in der amerikanischen Politik eine so zentrale Rolle gespielt hat, eine Art von „Kremlinologie” der Washingtoner Verhältnisse. Das ist für eine freie Gesellschaft ein erschreckender Befund. Die Experten, die Journalisten und die Berichterstatter aus Washington rätseln auf dieselbe Weise, wie sie es früher in Moskau taten: Welche Intrigen laufen zwischen welchen Fraktionen, Gruppierungen und Gegenspielern tatsächlich hinter den Kulissen ab? Früher deutete man, weil man wusste, dass der Kreml sich in Lügen hüllt. Aus dem gleichen Grund ist man heute gezwungen, eine „Washingtonologie” zu betreiben.

Seibt: Bei dem „Falschwörterbuch” der Sozialreformen im Nagelschen Sinne haben wir, glaube ich, eine völlig andere Situation. Unsere Interessenvertretungsöffentlichkeit bedarf offenbar dieser Vokabeln: das „Steuervergünstigungsabbaugesetz” beispielsweise, diese völlig inhaltsleeren Label wie „Agenda 2010” oder „Hartz I”. Sie besagen ja im Grunde nichts anderes als die Zahnbürstenwerbung „Dr. Best klinisch getestet”. Das verrät eine ungeheure Not. Diese Bundesregierung täte ja nichts lieber, als die Reformen nicht durchzuführen. Da sie es jedoch nun schon muss, denkt sich eine Runde solche Sprachregelungen aus, gleichsam in Analogie zu „Dr. Best klinisch getestet”. Ich schätze einerseits den Grad des Zynismus im linguistischen Detail dieser Politik höher ein, andererseits aber auch den subjektiven Glauben an das „Wir müssen da jetzt durch” – gerade bei jüngeren Leuten in der SPD, die sehen, was mit ihrer Partei passiert.

Ich muss hier ehrlich sagen: In diesem wunderbar kristallin und fast unangreifbar formulierten Buch von ivan Nagel, das literarisch einfach faszinierend ist, habe ich am meisten Probleme mit dem bei uns in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel über das Sozialreform-Wörterbuch gehabt. In diesem Fall kann vielleicht ein sinnvoller Genbrationengegensatz formuliert werden. Nagels Frage ist schon richtig: Wie viel Spannung zwischen arm und reich verträgt eine Demokratie? Aber es gibt auch eine andere Frage, die sich ebenso dringlich stellt: Wie viel Schulden verträgt eine Demokratie auf Dauer? Denn diese Schulden müssen spätestens unsere Kinder bezahlen. Und wenn sie nicht bezahlt werden, dann bekommen wir eine Vermögensvernichtung: Dann gibt es eben wieder eine Inflation – was bekanntlich der Demokratie auch nicht so gut bekommt. Es gibt da also schwere objektive Probleme, die unterschiedliche Altersgruppen unterschiedlich betreffen.

Ivan Nagel sagt, es gebe keinen Überfluss in dieser Gesellschaft. Das ist eine hochgradig relative Aussage. Es hat eine ungeheure Wohlstandssteigerung in den 1980er Jahren gegeben, und zwar in allen Schichten. Wenn ich sehe, wer heute alles mit dem Handy herum bimmelt auf der Straße, was die Leute an Kleidung tragen und was das eigentlich alles kostet; wenn ich mir dann das Wohlstandsniveau schon 100 Kilometer weiter östlich in Polen ansehe – dann gewinnen solche Aussagen etwas Schöngeistiges.
Gerade Berlin ist eine Stadt – und das empfinde ich durchaus als Vorzug –, in der man mit sehr wenig vergleichsweise gut leben kann, wesentlich besser als in München zum Beispiel. Also schon innerhalb Deutschlands sehen die sozialen Verhältnisse ganz unterschiedlich aus. Noch einmal zu den Schulden: Wenn man diese Frage ernst nimmt, dann muss man einfach feststellen, dass der weitaus größte Teil unseres Schuldenberges durch Sozialstaatsverpflichtungen entstanden ist, die ich gar nicht Schlechtreden will. Es ist gut, dass es diesen Ausgleich in Deutschland gibt. Zum Problem ist er dennoch geworden.

Nagel: Ich muss Ihnen widersprechen: Es geht auch im Falle des Sozialstaats um Lügen. Die Unhaltbarkeit von bestimmten sozialen Errungenschaften muss ohne Zweifel ausgesprochen werden. Wenn der deutsche Arbeiter dreimal teurer ist als der polnische (zwanzigmal teurer als der chinesische), wenn daher die Gefahr eines kontinuierlichen Arbeitsplatzexports in andere Länder entsteht, so muss man das diskutieren und Lösungen suchen. Aber wenn man billigere Arbeitsplätze in die Praxis schmuggeln will, in-dem man von „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes” spricht, wo man Kündbarkeit nach hire and fire meint, indem man von „Differenzierung der Lohnstrukturen” redet, wo man Niedriglöhne erzwingen will – dann entsteht eine verlogene Öffentlichkeitsstruktur: publizistisch wie politisch, in der Presse wie im Bundestag. Gerade weil die Probleme akut sind, darf man sie nicht mit einer verlogenen Sprache verschleiern.

Seibt: Vielleicht lohnt es ja, auf das allgemeine Problem der politisch korrekten Redeweise einzugehen. Ursprünglich entstand das einmal aus einer Form mit bürgerlicher Rücksichtnahme: Der Neger wurde nicht mehr „Neger” genannt…

Gaus: … wobei natürlich ein Unterschied darin besteht, ob ich einen Neger nicht mehr „Neger” nenne oder einen Angriffskrieg als „Entwaffnung” bezeichne…

Seibt: Selbstverständlich, der Unterschied ist enorm. Ich will aber nur auf den sprachlichen Mechanismus hinweisen. Es gibt in allem eine Tendenz der „Weichspülung”: Der Dieb ist der Unusual shopper, den Faulenzer nennt man „den schwächer Motivierten” und so weiter. Die Öffentlichkeit, nicht nur die Politiker, sondern wir alle, driften in diese Richtung.

Bettina Gaus: Im Tagesspiegel stehen natürlich auch viele „Falschwörter”. Manchmal, wenn auch extrem selten, stehen sie sogar in der taz. Wie oft fällt Ihnen das auf, Herr di Lorenzo?

Giovanni di Lorenzo: Jedenfalls bemühen sich die meisten Kollegen, darauf zu achten. Sie fallen aber immer wieder darauf herein, worüber es dann große Diskussionen in der Konferenz gibt. Wir fallen übrigens auch gelegentlich auf falsche Bilder herein, die dann zu Wörtern werden. Am Tag nach dem Angriff auf Afghanistan haben wir den Kriegseintritt der Amerikaner gemeldet, und haben, weil uns das besonders dramatisch erschien, einen verstümmelten Afghanen gezeigt. Darunter schrieben wir, dass das die ersten Opfer der amerikanischen Luftangriffe sind. Wir mussten diese Meldung korrigieren: Es waren Opfer von russischen Minen, die so verstümmelt worden waren. Wir waren so programmiert darauf, dass alles Unrecht jetzt von den Amerikanern kommt, dass wir auf dieses Bild reingefallen sind. Wir haben den Text der Textagentur Reuters übernommen. Aber der war falsch. Und so etwas passiert uns nicht nur an dieser Stelle.

Ich bin trotzdem ein bisschen skeptisch, was die Frage nach Falschwörtern in der heutigen Zeit betrifft. Ich glaube zwar, dass es in Amerika und auch, wenn Sie sich Europa anschauen, in Italien auf Zeit Manipulationsmaschinerien gibt, die auch Wirkung zeigen. Die führen auch – siehe Italien – in gewisser Weise zu postdemokratischen Regierungsformen. Diese müssen gar nicht alles unterdrücken, wenn sie die Leitmedien beherrschen. Wenn Berlusconi ein Immunitätsgesetz durchpeitscht, verstehen Sie in den Nachrichtensendungen des staatlichen italienischen Fernsehens eine Meldung darüber praktisch nicht mehr, weil dort nur das Faktum vermeldet wird, so viele stimmen dafür, so viele dagegen. Mehr erfährt man nicht. Das hat sicher für eine bestimmte Zeit eine sedierende Wirkung. Diese ist aber, glaube und hoffe ich, nicht sehr nachhaltig: die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes könnte die Leute Repolitisieren. Und Amerika: Heute ist es keinesfalls sicher, dass Bush trotz der rhetorischen Aufrüstung die Wahlen gewinnen wird. Das sind immer wieder Signale der Hoffnung.

Eine weitere Relativierung sei gestattet: Wenn wir so sehr Opfer dieses Sprachirrsinns aus Washington wären, dann könnte die Ablehnung von Bush, der amerikanischen Regierung und zum Teil auch von Amerika als Ganzem, nicht der kleinste gemeinsame Nenner sein, der im Moment in Deutschland zu finden ist. Das hat Einzug gehalten in alle erdenklichen Niederungen. Wenn Sie sich am Freitagabend, nichts Böses ahnend, eine Fernsehsendung anschauen wie Sieben Tage, sieben Köpfe, wo die plattesten Kalauer geklopft werden, dann können Sie sehen, dass eine intellektuelle Leuchte wie Mike Krüger den besten Lacher mit dem Satz hatte: „Amerika war nicht eine Entdeckung, sondern ein Unfall.” Es gab riesige Lacher. Wenn zwei Tage später auf Pro 7 die hundert peinlichsten Menschen der Welt gekürt werden, dann rangiert vor irgendwelchen Busenstarlets von der Seite 3 englischer Boulevardblätter und Dieter Bohlen auf Platz 1 George W. Bush. Und von den Juroren, die dieses Ergebnis beurteilen sollten, kamen nur Sätze, die Bush als „ganz schrecklich” oder „ganz furchtbar” in dieser Abstimmung als korrekt eingeordnet fanden. Das ist im Moment der kleinste gemeinsame Nenner und somit scheint mir diese Propaganda so wirkungsvoll nicht gewesen zu sein.

Gaus: Das korrespondiert aber meines Erachtens mit einer insgesamt wachsenden Verachtung für die politische Klasse. Und da Bush der mächtigste Politiker ist, bin ich nicht sicher, ob das Beispiele für kritische Einsicht in die Mechanismen einer Verdummungsmaschinerie sind. Aber hat eigentlich die Desinformation in den letzten Jahren tatsächlich zugenommen oder war es zu Zeiten der bipolaren Welt eigentlich schlimmer? Herr Bender, Sie haben sich seit den frühen 1960er Jahren mit Ostpolitik und dem Kalten Krieg beschäftigt und zudem im vergangenen Jahr das Buch Weltmacht Amerika. Das neue Rom veröffentlicht, das sich mit der Hegemonialpolitik der USA beschäftigt. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Ende des Wettstreits der Systeme und der öffentlichen Akzeptanz von „Falschwörtern?”

Bender: Ich neige dazu zu sagen, dass es früher genauso schlimm war. Die Verbissenheit der Ost-West-Auseinandersetzung im so genannten Kalten Krieges – in unterschiedlichen Zeiten mal stärker, mal schwächer – lässt sich durchaus vergleichen mit der gegenwärtigen Erbitterung über den Terrorismus und umgekehrt. Damals gründeten beide Seiten, die sowjetische wie die amerikanische, auf festen Ideologien, die sich in der Auseinandersetzung immer weiter verfestigten. Dabei verspann man sich zusehends in die eigene „Falschwörter“-Ideologie.

Nagel: Das Erschreckende in der jetzigen Situation ist ein verändertes, sogar offiziös umformuliertes und propagiertes Verhältnis zum Krieg. Wenn wir vom Kalten Krieg reden, dann sagen wir schon damit, dass wir fünfzig Jahre lang überlebt haben, weil es ein kalter Krieg war. Lust am Krieg und an der gewaltsamen Abschaffung des Gegners gab es, trotz aller Phrasen von der „Weltrevolution” dort und von der „Freien Welt” hier, nicht.

Dass das heute nicht mehr so ist, sollte uns zutiefst erschrecken. Mich hat es erstmals erschreckt, als ich zwei Tage nach dem 11. September 2001 hörte, wie Verteidigungsminister Rudolf Scharping darüber spekulierte, auf welche Weise man bei einer Entscheidung für den Krieg den Bundestag umgehen könnte – nämlich mit den Argumenten „Gefahr im Verzug” und „Selbstverteidigung”. Diesen Schrecken gab mir auch Schröders Erklärung der „uneingeschränkten Solidarität”; man konnte nicht ahnen, dass diese Solidarität so bald vernünftigerweise eingeschränkt werden wird.

Ich erschrak auch, man soll sich dessen nicht schämen, als alter Mensch, der heute inmitten von Generationen sitzt, die nicht mehr wissen, was der Krieg ist. Unsere Politiker schienen keine Scheu mehr vor fremder und eigener Kriegspropaganda zu haben. Sie schienen Amerikas Privilegien zu akzeptieren: erstens das Recht auf Präventivkrieg, zweitens den vertragslosen Zustand, was Atomwaffen und deren Abwehr betrifft, drittens die Immunität gegen einen Internationalen Strafgerichtshof. Man schien bereit, mit einem Spezialvölkerrecht, das nur für Amerika gilt, in einen gemeinsamen Krieg, in eine Kette von gemeinsamen Kriegen einzusteigen. Ich glaube, dass das ein riesiger qualitativer Sprung war. Jeder Sprung vom Frieden zum Krieg ist riesig und entsetzlich.

di Lorenzo: Die Gewöhnung an den Krieg und die Verharmlosung des Krieges sehe ich auch als Gefahr, da gebe ich Ihnen Recht. Zumal es auch wieder die Versuchung gibt, den Leuten einzureden, es gibt „sauber geführte Kriege” mit so genannten chirurgischen Eingriffen. Doch ich muss sagen: So schlimm die Lage heute ist, ich habe mich schon bedrohter gefühlt in meinem Leben. Mitte der 1970er Jahre, erst recht 1977, war ich, politisiert in linken Schülergruppen, empört über die „Faschisierung” der Bundesrepublik durch die staatlichen Repressionen gegen die Baader-Meinhoff-Gruppe. Wenn Sie sich heute mit der Materie befassen, können Sie sehen, wie sehr zum Beispiel die vermeintliche Isolationshaft von der Linken instrumentalisiert und aufgebauscht worden ist, gerade auch von Intellektuellen, die eigentlich immer die Aufgabe hätten, gegen den Strom zu schwimmen.

Es kamen dann viel schlimmere Bedrohungs- und Untergangsszenarien: die Nachrüstung. Kann es etwas Schlimmeres geben, als in einem Atomkrieg unterzugehen? Dann gab es das „Waldsterben”. Auch ich habe gedacht: Nur noch ein paar Jahre und es gibt keine Natur mehr in Deutschland. Und schließlich kam durch Tschernobyl die – berechtigte – Angst vor einem GAU, der die ganze Welt erfasst. Glücklicherweise trat er nicht ein, obwohl die Tschernobylschäden schlimm genug waren. Wenn ich also zurückdenke an meine eigene Sozialisation, dann sind wir von Horrorszenario zu Horrorszenario gelangt, die alle nicht eintraten. Bedrohter als heute habe ich mich allemal gefühlt. So ist meine Hoffnung diesmal, dass es genug Widerstandskraft gibt in unseren Gesellschaften: Wir fallen nicht auf das Platteste rein und auch nicht für alle Zeiten.

Gaus: Herr Seibt, Sie gehören derselben Generation an wie Giovanni di Lorenzo. Stimmen Sie ihm prinzipiell zu? Sie haben ja der „Spaßgesellschaft” den Kampf angesagt…

Seibt: Ich habe nie zu denen gehört, die der „Spaßgesellschaft” den Kampf angesagt haben. Eine ganz alberne Vorstellung.
Gaus: Zumindest haben Sie sich einigermaßen fassungslos über die von Ihnen als unpolitisch empfundene „Generation Golf” geäußert…

Seibt: Das Unpolitische hat mich weniger gestört als der neue Standesdünkel, der sich in der „Generation Golf” manifestiert.
Gaus: Ist die Akzeptanz von dem, was Ivan Nagel „Falschwörter” nennt, auch ein Generationenproblem?

Seibt: Das halte ich für abwegig. Die „Generation Golf”, auch die so genannten „Popliteraten”, wer auch immer sich dazu zählt: Sie schmeicheln sich ja, einen besonders illusionslosen Durchblick zu haben, eine Mischung aus Desillusion und Dandytum und einer gewissen Coolness und Abgebrühtheit. Sie würden auch im Wunsch, politisch in-korrekt zu sprechen und so bestimmte alt linke Bedenklichkeiten abzustreifen, sich vermutlich auch sprachlich ganz anders verhalten wollen. di Lorenzo: Für die gibt es nichts Schöneres, als ein Podium wie unseres zu ärgern. Das ist deren größte Genugtuung.

Seibt: Genau. Sie wollen gut meinende Langweiler ärgern, die da aus den seriösen Redaktionen kommen und sich recht uncool den Kopf zerbrechen. In diesen Kreisen gibt es völlig andere Aggregatzustände psychischer und sozialpsychologischer Natur. Wenn es das Bedürfnis gibt, die Welt sich schön zu reden, dann, so mein Verdacht, eher in einem protestantischen Gesinnungsmilieu.

Ich möchte den Beispielen von Herrn di Lorenzo noch eines hinzufügen: das so genannte „Berufsverbot”. So scheußlich der „Radikalenerlass” war: der Begriff „Berufs-verbot” zitierte eine nationalsozialistische Maßnahme, die den Leuten nicht etwa den Eintritt in den Staatsdienst untersagte, sondern überhaupt die Ausübung der Tätigkeit auch hinter verschlossenen Türen. Ein Maler, der Berufsverbot hatte, durfte 1933 auch zu Hause nicht malen. Der durfte überhaupt nicht malen, der durfte nicht einmal Ölfarben erwerben. Dagegen bedeutete der „Radikalenerlass”, dass jemand nicht Zeichenlehrer werden durfte, also nicht verbeamtet worden ist. Das ist ein kategorialer Unter-schied. Hier sehen wir eine dieser semantischen Verschiebungen, die niemandem mehr aufgefallen sind. Ich war damals auch und bin es bis heute ein wirklich überzeugter Gegner dieses „Radikalenerlasses”, den Willy Brandt angestoßen hatte, was er später sehr bereute. Und ich habe mich als Student bei unzähligen Unterschriftenlisten gegen diesen „Radikalenerlass” ausgesprochen. Trotzdem habe ich es als Historiker immer als eine ziemliche Dreistigkeit empfunden, hier das Wort „Berufsverbot” zu verwenden, das ja eine völlig andere historische Konnotation hatte.

Gaus: In den Schilderungen von Ihnen beiden entsteht der Eindruck, dass wir in den 1970er und 80er Jahren in einem Meinungsklima gelebt haben, das von einer bestimmten Form des Linksradikalismus vollkommen überwuchert war. Das deckt sich allerdings nicht mit meiner Erinnerung an diese Zeit; übrigens auch nicht mit den Besitzverhältnissen, die damals in der deutschen Medienlandschaft geherrscht haben. –

Bender: Herr Nagel, Sie meinten, die Kriegspropaganda habe jetzt ein Maß erreicht, das es früher nicht gegeben hat. Nun, die Kriegspropaganda, von der jetzt die Rede ist, geht gegen Schwächere. Die erledigt man militärisch in drei Wochen. Und zu den Privilegien, die sich die Amerikaner herausnehmen: Sie gab es immer schon. Die Russen haben sie sich 1956 in Ungarn herausgenommen. Die Amerikaner haben sie sich in kleinerem Format, sei es Grenada oder Panama, auch herausgenommen. Was wir jetzt an gesteigerter und natürlich empörender und manchmal ziemlich unverschämter Art, Krieg für nötig und möglich zu erklären, erleben, ist aus der Situation geboren, dass die Amerikaner glauben, sich als die einzig verbliebene Weltmacht alles leisten zu können. Aber sie zielen immer auf Schwächere. Und das haben, solange das Ost-West-Gleichgewicht es zuließ, beide Seiten auch getan, gegen irgendwelche Satelliten, die ihnen nicht passten.

Gaus: Sie üben in Ihrem Buch, Herr Nagel, auch sehr scharfe Kritik an der Missachtung des Völkerrechts im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg. Dort finden sich aber auch Passagen, die den Kosovo-Krieg demgegenüber verteidigen. Wenn Sie die Bereitschaft zur Missachtung des Völkerrechts seitens der USA für besonders verwerflich erklären – warum dann ein„Ja“ zum Kosovo-Krieg und ein „Nein” zum Krieg gegen Irak?

Nagel: Zum Kosovo-Krieg habe ich gewiss eine zwiespältige Einstellung. Ich weiß nicht und ich kann es nicht genau kontrollieren, ob Völkermord schon vor Beginn des Krieges angefangen hatte. Nach der bosnischen Analogie musste man annehmen, dass es nicht nur die Vertreibung war, die Serbiens Regierung vorhatte. Aber mehr noch: Ich glaube, dass wir im eigenen Bereich Europa auch für den Balkan mit verantwortlich sind. Ob wir im Kosovo die richtige oder die falsche Entscheidung trafen: Da schwanke ich. Aber im Kosovo, anders als im Irak und bei Saddams Völkermord vor zehn Jahren, ging es dringlich um unsere eigene Sache.

Gaus: Ich habe mich nur auf den Völkerrechtsaspekt bezogen.

Nagel: Ich saß nicht im Hirn von Milosevic, um zu wissen, wie weit das Schlimmste vorbereitet war. Nur gibt es eine Art geopolitischer Vernunft, derzufolge es einen Unterschied macht, ob man sich, wie Amerika, weltweit anmaßt, ungeliebte Regime zu beseitigen, oder ob man es als Europäer für unerträglich hält, dass in nächster Nähe Völkermord schon, wie in Bosnien, stattfindet oder im nächsten Augenblick, wie im Kosovo, stattfinden kann.

Ich glaube nicht, dass es irgendeine krankhafte Altersempfindlichkeit von mir ist, die jetzige Situation für besonders schlimm zu halten. Wenn die Nachrüstung, um das Beispiel von Herrn di Lorenzo aufzugreifen, mit der Erklärung begründet worden wäre, es sei eine Verteidigungsmaßnahme, wir aber monatelang vorher gewusst hätten, dass diese Nachrüstung keinen anderen Zweck als einen präventiven Atomkrieg gegen Russland hat – dann hätte auch ich damals mit wilder Empörung reagiert. Ich glaube, es war auch den Gegnern der Nachrüstung klar, dass Amerika und der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht bloß vorgaben, die Nachrüstung aus Gründen des militärischen Gleichgewichts zu betreiben, in Wahrheit jedoch in absehbarer Zeit einen Krieg planten.

Noch etwas anderes ist mir wichtig: Ich schäme mich überhaupt nicht, wenn ich von Amerika, vor allem nach dem Fall der Sowjetunion, mehr erwarte und etwas anderes erwarte, als ich von Amerika im Kalten Krieg erwartet habe. Amerika hat die Zeit seiner Alleinherrschaft seit 1989 nicht dazu benützt, die Welt menschenwürdiger einzurichten – obwohl in dieser Welt zum ersten Mal keine konstitutive, nicht zu beseitigende Konfrontation mehr hinderlich in Kauf zu nehmen war. Im Gegenteil: Indem Bushs Regierung jeden Gegner als „Terroristen”, als „das Böse” anklagt, schafft sie eine neue, schlimmere Konfrontation – neu und schlimm, eben weil der Gegner weder geografisch noch ideologisch definiert und eingeschränkt wird.

Erst aus diesen Gründen wird die Grundfrage meines Buches notwendig und aktuell: Bei der ständigen Kriegsbereitschaft der einzigen Weltmacht, bei der Flut von „Falschwörtern” ihrer vorbereitenden Kriegspropaganda in allen privaten und nichtprivaten Medien: Ist bei diesem Bündnis von Krieg und Lüge eine Demokratie, die Herrschaft eines urteilsfähigen Volkes, noch möglich? Und wenn sowohl die Demokratie als auch der Frieden durch aggressive Politik und massive Falschinformation gefährdet sind – was tun wir dagegen?

di Lorenzo: Wie gehen wir mit der terroristischen Bedrohung um? Diese Frage existiert nun mal; sie ist, ohne ein Weltuntergangsszenario malen zu wollen, gravierend. Die Amerikaner, da sind wir uns einig, geben die falschen Antworten. Trotzdem müssen wir auf die Frage eine Antwort finden. Und manchmal ist in der Kritik an der amerikanischen Administration und deren Vokabular auch die Verdrängung der Frage enthalten. Das sage ich, auch wenn es vielleicht eine unbequeme Wahrheit ist.

Bei aller Kritik an Amerika habe ich ein ungutes Gefühl. Wenn die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen – die unter einem besonderen Druck stehen, weil deren Ab-schneiden bei der kommenden Wahl entscheidend für die Bundesregierung ist – erwogen haben, am 8. Mai, dem Tag der Befreiung durch die Amerikaner, in Aachen eine große Veranstaltung gegen die amerikanische Politik zu organisieren – dann ist das eine Verschiebung unserer ideellen Grundlagen, die mir Sorge bereiten.

Es gibt auch unbequeme Wahrheiten in der deutschen Innenpolitik: In letzter Zeit habe ich nur deutsche Spitzenpolitiker erlebt, die, wenn das Tonband abgeschaltet ist, sagen: Das, was wir eigentlich an wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen in Deutschland leisten müssten, hält keine Regierung der Welt in einer Demokratie durch. Und das sagen Sozialdemokraten, Liberale, Christdemokraten und Grüne gleichermaßen. Auch hier gibt es das Bedürfnis, die Öffentlichkeit über Einsichten zu täuschen.

Seibt: Man sagt ja, die Heuchelei sei die Verbeugung des Lasters vor der Tugend. – Ich glaube, dass die systematischen Lügen, die wir vor allem von amerikanischer Seite er-lebt haben, auch eine Folge einer Inkomplettheit des Völkerrechtes sind. Das mag jetzt apologetisch klingen, ist aber eigentlich nicht so gemeint. Das Völkerrecht rechnet mit autonomen Subjekten souveräner Staaten und ist auf neue Formen asymmetrischer Kriege oder failed states, also gescheiterter Souveränitäten, nicht wirklich vorbereitet. Der Kernsatz des Völkerrechts ist doch nach wie vor das Selbstbestimmungsrecht, also im Grunde der Nationalstaat; daraus wird die internationale Ordnung abgeleitet. Zum Beispiel haben während der Vorgeschichte des Irak-Krieges die Informierten aller Beteiligten von Anfang an vielleicht an die Existenz von Massenvernichtungswaffen geglaubt – aber niemand hat geglaubt, dass es das wirklich zentrale Kriegsmotiv ist. Denn die Überlegungen, was man mit dem Irak macht, lassen sich bis in die Clinton-Administration zurückverfolgen. Doch man hat einfach gesehen, dass das alte Sanktionsregime zu nichts führte: Saddam blieb; die UNO und damit auch die internationale Rechtsordnung diskreditierte sich vollständig, da die Sanktionen an die Zivilbevölkerung weitergegeben wurden. Saddam hätte noch jahrzehntelang in Bagdad herrschen können; am Ende wäre er als der Sieger aus dem Konflikt gegangen. Man war in eine Situation gekommen, die von Jahr zu Jahr gefährlicher zu werden drohte, und zwar aus einer ganz altmodischen, staatspolitischen Mechanik heraus, ganz unabhängig vom 11. September, unabhängig von der Frage der Massenvernichtungswaffen. Im Hintergrund blieb die Frage präsent, was eigentlich mit einem großen Volk wie dem irakischen passiert, das schon über zehn Jahre unter diesem Sanktionsregime leben musste und das alle Opfer getragen hat, ohne dass das Regime davon in irgendeiner Weise in seiner Stabilität beschädigt worden ist.

Nagel: Aber Herr Seibt, wenn jemand falsche Maßnahmen entwirft und zwölf Jahre lang vergeblich forciert– dann ist es doch an ihm, der die falschen Maßnahmen erfand und anwandte, zu überlegen, welche Maßnahmen nun richtiger wären: gewiss nicht der kriegerische Überfall in dem Moment, wo dieses Land keine Gefahr darstellt.

Seibt: Das habe ich auch nicht gesagt. Aber die Aufhebung des Sanktionsregimes, das werden Sie zugeben, hätte einen enormen politischen Schaden bedeutet.

Nagel: Das wäre ein Prestigeverlust der Leute gewesen, die die Sanktionen durchgesetzt haben, und ein Prestigegewinn dessen, der sie überstanden hat. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Du kannst doch nicht jeden, demgegenüber du Unrecht bekommen hast, abmurksen.

Seibt: Ich will nur auf die Inkomplettheit des Völkerrechts hinweisen. Es gibt auch im Völkerrecht im Grunde keine Stellung für die Menschenrechte, also für die individuellen Bürger- und Menschenrechte. Sie sind nicht wirklich eingebaut im System des Völkerrechts; abgesehen davon, dass das Völkerrecht auch keine Instanzen hat. Es gibt kein Gewaltmonopol. Es gibt somit die ganzen Grundvoraussetzungen einer Rechtsordnung noch nicht; es kann sie auch noch nicht geben. Es ist eine schöne Utopie, die zur Hälfte nur ausgestaltet ist und auf viele reale Probleme noch keine Antworten, nicht einmal regulative Ideen gefunden hat.

In dieser Situation sah sich die amerikanische Regierung, über deren Charakter ich gar nichts Nettes sagen will, vor die Frage gestellt: Machen wir es jetzt halb völkerrechtlich? Wie agieren wir in diesem Weltöffentlichkeitsfeld? Sie sind dann den Weg der größten Verlogenheit gegangen, also mit den gefälschten oder fälschlich geglaubten – man weiß es immer noch nicht so genau – Befunden über die Massenvernichtungswaffen, womit der Sicherheitsrat gewonnen werden sollte. Das ging schief, die Lügen richteten sich gegen ihre Urheber. Aber das Ganze war eben nicht nur eine Folge von Verlogenheit, sondern auch Konsequenz einer objektiven Lücke in unserem internationalen System.

Bender: Wir Europäer müssen vorsichtig sein in unserer Kritik an Amerika. Kein größeres europäisches Land hat nicht eine imperiale Phase gehabt: Spanien, wo unter Karl V. die Sonne nicht unterging, das britische Empire, Napoleons Herrschaft von Spanien bis Moskau; schließlich unser Adolf Hitler. Wir Europäer haben uns, historisch betrachtet, in entscheidenden Fragen auch nicht um das Recht gekümmert. Es sei daran erinnert: Europa hat damit nicht aufgehört aus Einsicht, sondern aus Erschöpfung. Die Einsicht kam immer erst hinterher. Insofern erinnern wir Deutschen oft an einen Säufer, der endlich trocken ist und nun dauernd Enthaltsamkeit predigt.

di Lorenzo: Herr Nagel, hätten Sie es vor zehn Jahren für richtig gefunden, wenn es eine „Koalition der Willigen” gegeben hätte, legitimiert durch die Vereinten Nationen, wahrscheinlich unter Führung der Amerikaner, die in Ruanda den Völkermord zwischen Hutu und Tutsi verhindert hätte?

Nagel: Der amerikanische Krieg gegen den Irak wäre auf eine völlig andere Weise zu rechtfertigen gewesen in der Zeit, wo die Massenmorde an Kurden durch die Giftgaseinsätze passierten. Fünfzehn Jahre später dies als Vorwand für einen Krieg zu benützen, finde ich nicht akzeptabel.

di Lorenzo: In Ruanda hätten Sie also ein Eingreifen richtig gefunden?

Nagel: Ich glaube ja. Ich weiß nicht, ob ich einen Krieg gegen den Irak richtig gefunden hätte in dem Augenblick, als Amerika dem Irak noch sehr freundlich gegenüberstand und eine gültige Verurteilung selbst des Giftgaskrieges gegen die Kurden nicht stattfand, weil sie unter amerikanischem Druck bei den Vereinten Nationen nicht durchkam.

Gaus: Herr di Lorenzo, Ihre Prämisse war ein UNO-Mandat?

di Lorenzo: Ein UNO-Mandat, sicher. Es gibt jetzt wieder ein Land, in dem so etwas Schreckliches passiert: der Sudan, wo dunkelhäutige Muslime hellhäutigere Muslime drangsalieren. Noch sind es erst Zehntausende. Doch daraus werden Hunderttausende, wenn nicht mehr. Und wieder die Frage: Was macht die Staatengemeinschaft? Schaut sie zu?

Bender: Lassen Sie mich noch einmal auf eine der zentralen Seiten des Falschwörterbuches von ivan Nagel zurückkommen: die Methode, mit der es Kritik übt. Normaler-weise gibt es eine Sachkritik: ein Sachverhalt wird geprüft. Je komplizierter unsere Wett wird, desto weniger Leute sind jedoch dazu in der Lage, weil man von vielen komplexen Gebieten gar nichts mehr versteht. Deswegen geraten wir zunehmend in die Abhängigkeit von Experten. Mit Ihrer Wortkritik öffnen Sie aber einen Weg für Laien, Prozesse kritisch zu bewerten, die sie fachlich nicht beurteilen können. Sie haben darauf hingewiesen: Wenn sich die „Falschwörter” in der Darstellung der Sache häufen, packt den Sprachkritiker der Argwohn, dass etwas auch in der Sache selbst nicht stimmt. Wir verdanken Ihnen die im Grunde uralte Erkenntnis, dass die Analyse der Sprache ein Instrument zur Entlarvung politischer Lüge und politischer Täuschung ist.

Nagel: Meine Haltung ist sehr zwiespältig. Das Volk vermag auf eine ganz erstaunliche Weise vernünftig zu sein. Das vermindert nicht meine Angst und mein Entsetzen dar-über, mit welcher Masse von Fehlinformation, von Ideologievokabeln dieses Volk ständig bombardiert wird. Einer der ersten Sätze in meinem Buch heißt denn auch: „Dem Teppichbombardement eines fremden Volkes mit Bomben geht das Teppichbombardement des eigenen Volkes mit Lügen voraus.”

Doch ist das nicht nur ein subjektives Schwanken zwischen Zuversicht und Erschrecken: Es müssen beide Gefühls- und Verstandimpulse vorhanden sein, Zweifel und Glaube an die Vernünftigkeit des Volkes, auch des deutschen. Für unvernünftig halte ich es allerdings, Antiamerikaner der platten, bequemen Sorte zu sein. Amerika kann man eine ganze Menge vorwerfen. Aber wir werden mit der amerikanischen Vormacht weiterleben. Die Frage ist nur, zu welchen Bedingungen versuchen wir, Verbündete Amerikas zu bleiben. Erstens dürfen wir nicht verhindern, dass Amerika aus seiner falschen Politik Lektionen bezieht. Also dürfen wir nicht verschleiern, dass dieser Krieg ein falscher Krieg war. Wir dürfen keine wirtschaftliche, politische, militärische Mithilfe leisten, um den nächsten Krieg in dieser Kette von Kriegen, die Bush in vielen Reden angekündigt hat, bald zu beginnen. Und zweitens müssen wir uns fragen: Was ist das Europäische an unserer Lebensweise? Was möchten wir daran nicht aufgeben? Dazu gehören bestimmte Formen des sozialen Denkens und, weil es nicht beim Denken bleiben soll, des Sozialstaates. Nach der wüsten Vergangenheit Europas haben wir seit sechzig Jahren einiges versucht, ein lebenswerteres Leben uns und einander möglich zu machen.

* Die Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltete diese Podiumsdiskussion anlässlich des Erscheinens von Ivan Nagels Falschwörterbuch (berliner taschenbuchverlag: Berlin 2004; vgl. auch den Literaturbericht in diesem Heft). Sie fand am 3. Mai 2004 in der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz statt, es moderierte Bettina Gaus (die tageszeitung).

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