Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 167: Politik und Lüge

Der Mensch als Nachah­mungs­wesen

Gabriel de Tardes soziologischer Klassiker endlich in deutscher Übersetzung

aus: Vorgänge 167 ( Heft 3/2004 ), S.114-16

Nicht nur Bücher, sondern auch Theorien haben bekanntlich ihre Geschichte. Viele dieser Geschichten sind oft genug seltsam, im Rückblick geradezu unverständlich. Im Falle von Gabriel de Tardes Theorie sozialer Nachahmung ist diese Geschichte zudem noch sehr bedauerlich. Denn der zu seiner Zeit in Frankreich neben Emile Durkheim wohl bekannteste Sozialwissenschaftler formulierte im fin de siede eine hochmoderne, erfahrungsgesättigte und komplexe Theorie zur Logik kollektiver Imitations- und Diffusionsprozesse, die nicht nur in Deutschland schlicht vergessen oder marginalisiert wurde. Auch deshalb ist es mehr als ein Glücksfall, dass der Suhrkamp-Verlag die erste, von Jadja Wolf glänzend verfertigte deutsche Übersetzung auf den Wissenschaftsmarkt gebracht hat.

Gabriel de Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2003, 416 S., ISBN 3-518-58367-0; 34,90 Euro
Denn abgesehen davon, dass ein spannendes, 1890 in Paris erschienenes und schnell mehrfach neu aufgelegtes Werk so einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wird, verknüpft sich de Tardes Theorie auf fast schon magische Weise mit aktuellen Diskussionen um die Bedingungen und Grenzen des Konstruktionismus und die Brücken zwischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Es dürfte deshalb sicherlich kein Zufall sein, wenn einer der wichtigsten und innovativsten Soziologen der Gegenwart, Bruno Latour, jüngst Les Lois de L’imitation als seine „Lieblingstheorie” bezeichnet hat.

Geboren 1843 in der Dordogne als Sohn eines Untersuchungsrichters, strebte Gabriel de Tarde zunächst die gleiche Karriere wie sein Vater an. Durch die intensivere Beschäftigung mit der Kriminologie wurden für de Tarde sozialwissenschaftliche Fragestellungen jedoch zunehmend wichtiger. Nach einer Position im französischen Justizministerium erhielt er 1900 einen Ruf an das renommierte College de France, an dem er bis zu seinem Tod 1904 lehrte. Der Philosoph Henri Bergson verglich Gabriel de Tarde, der auch langjähriger Präsident der internationalen Gesellschaften für Soziologie und Rechtswissenschaften war, mit epochalen Autoren wie Charles Darwin und Auguste Comte. De Tarde, Autor diverser Bücher zur Kriminologie, politischen Soziologie und Massenkommunikation, versteht sich als Sozialwissenschaftler: als Wissenschaftler, der „Gesellschaft” und die Handlungen sozialer Akteure systematisch und begrifflich sauber analysiert, ohne dabei auf biologische, technische oder naturwissenschaftliche Denkweisen zurückgreifen zu müssen bzw. zuwollen. In Absetzung von mechanistischen, biologistischen oder gar vitalistischen Paradigmata sieht de Tarde nämlich wie einst Giambattista Vico gerade im „Sozialen den außergewöhnlichen Vorteil”, dass „man die wirklichen Ursachen […], nämlich die Handlungen der einzelnen”, zugänglich und unverborgen vor Augen hat (25). Verstehen wir begründet folglich nur das, was wir auch selber gemacht haben, dann rückt die Sozialwissenschaft wenn schon nicht in den Status einer Königswissenschaft, so doch in die Position einer methodisch privilegierten allgemeinen Menschenwissenschaft.

Das Basistheorem dieser Menschenwissenschaft lautet, dass im „Sozialen […] alles als Erfindung und Nachahmung [geschieht], wobei die Nachahmungen die Flüsse bilden und die Erfindungen die Berge” (27). Obwohl Gabriel de Tarde selber kaum offen die Möglichkeiten dieser Metaphorik aus dem Gletschergebiet nutzt und ausschöpft, lässt sich aus dem Bild gleichwohl ein Gutteil der Argumentationen und Gedankengänge des Buches ablesen und explizieren. Wie – so zunächst – Flüsse nur fließen, wenn sie ein Gefälle haben, und Berge nur Berge sind, wenn es Zwischenräume und Auswaschungen gibt, so kann Gesellschaft nie nur entweder Nachahmung oder Erfindung sein, sondern muss immer aus beidem bestehen, aus Imitationen und aus Inventionen. Sowohl der Logik jedes der beiden Elemente, als auch der Logiken des Ineinanders, den Gesetzen der sozialen Interaktion und damit den Gesetzen der Gesellschaft gilt es mithin auf die Spur zu kommen. Einschränkend fügt de Tarde allerdings hinzu, dass er sich hier und in diesem Buch „ausschließlich um die Nachahmung und deren Gesetze” kümmern werde, folglich die Erforschung der „Gesetze bzw. Pseudogesetze der Erfindung” auf „später und andernorts” verschieben müsse (37).

Nachahmung ist aber ihrerseits auf Erfindungen angewiesen. Wie, um im Gletscherbild zu bleiben, Flüsse in den Bergen ihren Ursprung haben, so setzen Nachahmungen Erfin-Jungen voraus. Im Grunde werden zunächst Erfindungen nachgeahmt, und in diesem nicht reziproken Mechanismus liegt auch der Ursprung von Gesellschaft. So besteht die „Gesellschaft [..,]von jenem Moment an, als irgendein Mensch einen anderen nachahmte” (52). Erfindungen setzen durch die Kraft der Negation (aller anderen möglichen Erfindungen) kombiniert mit der Imitationspotenz menschlichen Handelns dann soziale Prozesse in Gang, die de Tarde als wellenförmige Ausbreitung, „Nachahmungsstrahlen” (80) und vor allem eben „Nachahmungsflüsse” (67) beschreibt, und die man treffend mit dem momentan so gebräuchlichen Terminus der Pfadabhängigkeit bezeichnen könnte. Es sind deren Logik und Gesetzmäßigkeiten, denen der Autor in immer neuen Perspektiven und immer neuen Gebieten nachgeht. Bemüht werden Statistiken über Kaffee- und Tabakkonsum, aufgesucht werden Felder des Begehrens, Wünschens und der Nervosität des Stadtlebens, epochale Ausbreitungen von Gewohnheiten und Baustilen, Nachahmungen von Vorschriften, Sitten und Gesetzen, schließlich globale Kooperationen zwischen Berufen und Techniken.

In all diesen spezifischen, relativ autonomen Nachahmungsgeflechten entsteht und stabilisiert sich nicht nur Gesellschaft, bilden sich nicht nur Kontexte von Erfindungen und differenzieren sich Gesellschaften entlang reziprok typisierter Distinktionsmerkmale, sondern in diesen verschiedenen „Flüssen” offenbaren sich auch die universalen endogenen „logischen Gesetze” kollektiven Handelns (163). So vollziehen sich Nachahmungen immer „von innen nach außen” (231): so gehen etwa die Imitation von Ideen derjenigen des Ausdrucks voraus; Ziele werden vor Mitteln nachgeahmt. Weiterhin ahmt das Unterlegene das Überlegene nach, wobei das jeweils sozial Näherstehende dem Fernersteheenden vorhergeht (248ff.). Aus diesen wenigen Basistheoremen entwickelt de Tarde das Modell eines hierarchisch gegliederten Nachahmungsgeschehens, das nicht nur analytisch auf alle historisch gegebenen Gesellschaften übertragen werden kann, sondern auf überraschende Art den Theorien der „Feinen Leute” (Thorstein Veblen) und der „Feinen Unterschiede” (Pierre Bourdieu) ähnelt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Mode und Gebrauch entscheidende Faktoren im Nachahmungsgeschehen sind. Mode wie Gebrauch wirken überwiegend als exogene Handlungsfaktoren, die historisch variabel auf Gebieten wie Sprache, Religion, Gesetzgebung und Regierung die sozialen Nachahmungsflüsse beeinflussen, infiltrieren, formen und orientieren.

Entstehen dergestalt zerklüftete soziale Landschaften, drängen die Flüsse der Nachahmung gerade politisch entschieden auf supranationale, „kontinentale”, schließlich globale „Demokratie” (320). Im Laufe der Zeiten werden stetig wie unweigerlich Hierarchien abgebaut, politische Privilegien unterspült und Ungleichheiten in Gestaltungschancen zum Verschwinden gebracht. Die Logik sozialer Nachahmung führt damit zwangsläufig zu Nivellierung, Aufhebung von Unterschieden und damit zur kollektiven Individualisierung: die Gebirge der Inventionen werden von den Flüssen der Imitationen in „zahllosen Spiralen (…) langsam (…) zerkleinert und ihres Unterscheidungsmerkmals beraubt” (416). Droht mit der, wenn man so möchte, ,Deltaisierung` aller Gesellschaften, in Analogie zu Tocquevilles Bemerkung über die kühle, ereignislose Massendemokratie Nordamerikas, historisch der „vollkommene Sieg des Konformismus über die individuellen Einfälle” (214)? Ja und nein. Ja, weil demokratischer Kosmopolitismus, Individualismus und Konformismus nur zusammen zu haben sind; nein, weil erst im grauen Zeitalter der globalen Massendemokratie „die schönste Blume des sozialen Lebens, das ästhetische” aufgeht (416). Zwar bleibt de Tarde eine genauere Bestimmung dieses ästhetischen Lebens schuldig. Man wird aber kaum darin fehl gehen, wenn man in diesem symbolischen Ausdruck der „tiefen und vergänglichen Singularität der einzelnen” jenen uomo universale sieht, den Jacob Burckhardt in die Renaissance zurück projiziert hat, und in dem die Größe, der Erfindungsreichtum, aber eben auch die Melancholie menschlicher Gesellschaftsgeschichte zum Bewusstsein ihrer selbst kommt.

Sind diese Wehmut verströmenden Passagen den kulturellen Tönungen der Zeit geschuldet, und werden gerade darin auch jene thematischen Verbindungen zur Soziologie der Jahrhundertwende mehr als deutlich, hat Gabriel de Tarde gleichwohl eine ungemein erhellende, anregende und weitsichtige Gesellschaftstheorie verfasst. Die Menschen machen in jeder Hinsicht und in allen Handlungs- und Denkvollzügen ihre Geschichte selber – aber sie machen sie unter den sozialen Gesetzen von Innovation und Nachahmung.

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