Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 192: Wandel der Öffentlichkeit

Die neue Klassen­ge­sell­schaft

aus: Vorgänge 192 ( Heft 4/2010), S.113-124

1. Einleitung

Die meisten Begriffe und Bilder, mit denen die Gesellschaft sich zu beschreiben ver sucht, stammen unmittelbar aus dem Rüstzeug der Soziologie, allem voran demjeniger der Ungleichheits- und Sozialstrukturforschung. Diese wusste bereits mit ihren früher. Beiträgen zur „Klassengesellschaft” und später dann zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft” (Helmut Schelsky) soziale Deutungsbedürfnisse breitenwirksam zu befriedigen. Zum Ausgang des 20. Jahrhunderts monopolisierten dann die Individualisierungs. theorie Ulrich Becks und in ihrem Gefolge zahlreiche Studien zur „Erlebnis”- und „Lebensstilgesellschaft” den zeitdiagnostischen Blick auf die Gesellschaft.

Lässt man die letzten Jahre Revue passieren, so sind frappierende Veränderungen in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrem sozialstrukturellen Leitvokabulai festzustellen. In der politischen und medialen Semantik erfahren Fragen zu Unterschichi und Unterklasse, Reichtum und Armut, Ausgrenzung und Spaltung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit eine neue und zugleich ungeahnte Konjunktur. Und erst recht in dez Soziologie hat die soziale Frage gegenwärtig eine Dringlichkeit und eine Relevanz, wie sie seit Jahrzehnten nicht zu beobachten war. Der Fokus hat sich, vereinfacht gesagt. von der Lebensstil- zur Klassengesellschaft verschoben. Mein Anliegen ist es, dieserr radikalen Perspektivenschwenk in drei Schritten nachzugehen.

Zuerst gilt es in aller Kürze die wesentlichen Spezifika des „lebensstilgesellschaftlichen Paradigmas” zu rekonstruieren. Vor dessen Hintergrund sollen im zweiten Schritt kontrastierend wichtige Konzepte und Befunde skizziert werden, die den derzeitigen soziologischen Ungleichheitsszenarien zu Grunde liegen. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, den sozialen Wandel anhand objektiver Indikatoren nachzuzeichnen, sondern die radikalen Verschiebungen in den rezenten soziologischen Ungleichheitssemantiken und -diskursen auszuloten. Im dritten Schritt werde ich schließlich den Richtungswechsel in den hegemonialen Beschreibungsmodellen der Ungleichheitsordnung zum Anfang des 21. Jahrhunderts als Wiederkehr allgemeiner Interpretationsmuster beschreiben, die dem Bedeutungshof des klassengesellschaftlichen Denkens entstammen.

II. Das Paradigma der Lebens­stil­ge­sell­schaft

In der Fachgeschichtsschreibung ist es mittlerweile üblich geworden, die vorherrschen-den Sozialstrukturmodelle und Ungleichheitsanalysen der 1980er und frühen 1990er Jahre als Ära anzusehen, die sich von den Denkfiguren einer Klassengesellschaft, das heißt von einer primär an Berufs- und Einkommenshierarchien ausgerichteten, von oben nach unten verlaufenden Struktur der modernen Gesellschaft verabschiedet. Dieser Bruch kann als so radikal beschrieben werden, dass es angemessen erscheint, hier von einer „Paradigmenrevolution” (Rainer Geißler) zu sprechen. Vorbereitet durch Schelskys bereits erwähntes Bild einer konfliktenthobenen, nivellierten Mittelstandsgesellschaft und beeindruckt von den Modernisierungsschüben der späten 1960er und 1970er Jahre interpretierten zentrale Vertreter der Disziplin den „Übergang von Knappheits- zu Reichtumsungleichheiten” als Epochenbruch. Das Mehr an Geld, Bildung, Wohlstand, Mobilität, Freizeit und sozialer Sicherheit, so die bekannte Argumentation, habe nicht nur die Sozialstruktur verändert, sondern mit der „Erlebnis“-, „Kultur“-, „Multioptions”- oder „Lebensstilgesellschaft” regelrecht einen neuen Typus von Gesellschaft hervorgebracht. In ihr dominieren nicht die objektiven Zwänge und Restriktionen, sondern, um es mit Gerhard Schulze (1993), einem der Wortführer des Perspektivenschwenks zu sagen, die autonomen Gestaltungs- und Symbolisierungsleistungen moderner „Menue-Kompositeure”, „Möglichkeitsmanager”, und „Katalogblätterer”. Die durch die Lebensstilsoziologie ausgelöste Zäsur fand aber auch in der Entfernung von dem, was man die normative Kernsubstanz der klassischen, von Karl Marx über Theodor Geiger bis Pierre Bourdieu reichenden Sozialstrukturforschung nennen könnte, ihre Widerspiegelung. Während dort der kritische Blick auf die Gesellschaft, ihre Probleme und Missstände gang und gäbe war, stellten die Paradigmenrevolutionäre, die neu gewonnenen Freiräume des Handelns und der postmodernen Vielfalt der Lebensformen und Lebensstile ins Zentrum ihres Schaffens.

III. Neue Beschrei­bungs­muster sozialer Ungleich­heit

Das Paradigma der Lebensstilgesellschaft und der ihr zu Grunde liegende Traum einer harmonisch befriedeten „Gesellschaft des breiten, mittleren Wohlstands ohne allzu große Ausschläge nach oben und unten” (Lessenich/Nullmeier 2006, 10) gehört einstweilen der Vergangenheit an. Spätesten seit Beginn der 1990er Jahre konstatieren prominente soziologische Gegenwartsdiagnostiker wie Ralf Dahrendorf, Richard Sennett und Pierre Bourdieu, dass sich die Lebenschancen für einen stetig wachsenden Teil der Bevölkerung westlich-moderner Gesellschaften kontinuierlich verschlechtern und die Wohlstandsschere immer weiter auseinanderklafft. Mit besonderer Radikalität unter-wirft Bourdieu die Folgeprobleme des von Margaret Thatcher und Ronald Reagan initiierten „neoliberalen” Produktionsregimes und die angebotsorientierte Wende hin zu einem „ökonomischen Laisser-faire-Modell” in den 90er Jahren einer kritischen Analyse. In der Invasion eines hegemonial gewordenen Neoliberalismus erkennt er eine Ideologie, die die Strukturdynamik der westlichen Gesellschaften zunehmend bestimmt. Drastisch charakterisiert er den globalen, auf kurzfristige Gewinne zentrierten Gegenwartskapitalismus „als fleischgewordene Höllenmaschine” (1998, 114), die die Ungleichheil wachsen lässt, den Wohlfahrtsstaat zurückfährt, dauerhafte Unsicherheiten hervorbringt und auf kollektiven Mentalitäten der „precarite” gründet.

Diesen Impulsen folgend sind Fragen zur sozialen Ungleichheit seit geraumer Zeii auch hierzulande wieder zu einem erstrangigen Feld der Forschung geworden. Allerdings fällt es nicht leicht, die verschlungenen Wege auszuloten, die nach der erneuten Weichenstellung in Deutschland eingeschlagen wurden, um sich den veränderten Ungleichheitsverhältnissen in der unübersichtlichen Vielgestaltigkeit ihrer Indizien, Szenarien und Bilder anzunähern. Um zu einer vereinfachenden Übersicht zu gelangen, möchte ich nachfolgend vier Debatten unterscheiden: den Unterschichten- und Prelcaritätsdiskurs, den Exklusionsdiskurs, den Diskurs über die Mittelschichten und schließlich denjenigen über Gerechtigkeitsfragen.

III.1. Der Unter­schich­ten- und Preka­ri­sie­rungs­dis­kurs

Der Begriff der Unterschicht gehört zum klassischen Arsenal der Sozialstrulcturforschung. Auch wenn Franz Müntefering, ehemaliger Vorsitzender der SPD, dieses Konzept aus allzu durchsichtigen Beweggründen noch vor wenigen Jahren „lebensfremden Soziologen” anlastete, ist dessen kategorialer Stellenwert unumstritten. Bereits Kinder und Jugendliche lernen im Sozialkundeunterricht etwa anhand des populären „Zwiebel”- (Karl-Martin Bolte) oder „Hausmodells” (Rainer Geißler), dass die bundesdeutsche Gesellschaft neben einer breiten Mittelschicht nicht nur über eine schmale Ober-und eine nicht ganz so schmale Unterschicht verfügt, sondern in der Regel auch, dass alle uns bekannten neuzeitlichen Gesellschaften über stratifizierte Sozialstrukturen verfügen. Zudem sind gerade in den letzten Jahren die empirischen Befunde immer zahlreicher geworden, die etwa anhand der Einkommensverteilung, des Vermögens, der Bildungschancen, der Gesundheitsrisiken oder der Lebenserwartung den streng geschichteten Charakter der bundesdeutschen Gesellschaft belegen und dabei auch solche Gruppen ausweisen, die durch systematische Benachteilungen gekennzeichnet sind. Streiten kann man sich insofern nicht über den Tatbestand, sondern bestenfalls noch darüber, wie groß die Anteile derjenigen Schichten genau sind, die im Kellergeschoss der Gesellschaft existieren.

Unterschichtenkultur

Dennoch erscheint es überraschend, in welchem Ausmaß Fragen zu den ungeliebten Unterschichten seit einiger Zeit eine Konjunktur erfahren. Einen ersten Anstoß hierzu gaben die Arbeiten des renommierten Berliner Historiker Paul Nolte, die in ihren zentralen Ergebnissen Eingang in die mediale Berichterstattung von Stern (2004/52) Die Zeit (2005/11), Geo-Wissen (2005, H. 35) und Spiegel (2005/35) fanden und dort regelrecht inszeniert und dramatisiert wurden. Nach Noltes Analysen des „neuen Kapitalismus” ist die Langzeitutopie eines kollektiven Aufstiegs der Unterschichten und einer daraus resultierenden relativ homogenen Mittelschichtengesellschaft gescheitert. Stattdessen diagnostiziert er eine wachsende „neue Unterschicht”, die in der Krise des Normalarbeitsverhältnisses wurzelt. Das Interesse der kulturalistischen Klassenanalyse Noltes richtet sich jedoch weniger auf die Welt der Arbeit, sondern auf die Welt der (Massen-)Kultur, der Lebensweisen, der Werte und des Konsums. Ungeachtet aller Individualisierungsannahmen registriert er ein kulturelles Auseinanderdriften von Mittelschichten und Unterschichten, denen er eine zunehmende Verwahrlosung und Abschottung, Bildungsarmut, Fehlernährung, Bewegungsdefizite und nicht zuletzt einen fragwürdigen Medienkonsum attestiert (Nolte 2006).

Ein zweiter wichtiger Anstoß zur Unterschichtendebatte erfolgte im Herbst 2006 durch die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte und viel zitierte Untersuchung „Gesellschaft im Reformprozess”. Auf der Basis einer repräsentativen Befragung der Wahlbevölkerung in Deutschland wurden in der Studie neun Sozialmilieus ermittelt, welche sich auf kulturelle Einstellungen, Wertorientierungen und Selbsteinschätzungen stützen. Besondere Aufmerksamkeit fand der Befund, dass laut Selbsteinschätzung 8 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung als Unterschicht bzw. als „sozial abgehängtes Prekariat” gelten können. Weiterhin sehen sich noch nahezu doppelt so viele der Befragten „gesellschaftlich ins Abseits geschoben” und in jeder Hinsicht als „Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung”. Kennzeichnend für diese Sozialmilieus sei eine Kumulation von Lebensproblemen, allen voran denjenigen der Arbeitslosigkeit und Niedrigeinkommen. Hinzu kommen häufig Verschuldung und Krankheit, schwierige Wohn- und Familienverhältnisse, die sich mental häufig auch in Resignation und einer Distanz zu Demokratie, Politik und Parteien niederschlagen.

Prekäre Lebenslagen

Die Notlage der Arbeiter, das Elend ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen, ihr Heraus-fallen aus der bürgerlich-modernen Gesellschaft bildete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Kern der sozialen Frage. Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, welch vergleichsweise periphere Stellenwert der „Arbeiterfrage” bei der gegenwärtigen Diskussion der „neuen sozialen Frage” zukommt. Es sind andere Blickwinkel unter denen die Ungleichheitsordnung ins Rampenlicht gerückt wird; etwa dem des wachsenden Niedriglohnsektors in der Industrie und des Dienstleistungsbereichs, der, angefeuert durch die Diskussion über abnehmende Tarifbindung und Mindestlohn, eine bis heute anhaltende Beachtung erfährt. Diese Erörterung überlappt sich mit den Debatten zur Krise des durch Vollzeit, Entfristung und soziale Sicherheit gekennzeichneten Normalarbeitsverhältnisses und der Zunahme atypischer Beschäftigungsformen (Minijobs, Leiharbeit, befristete Arbeit, Teilzeit- und Mehrfachbeschäftigung, „Neue Selbstständigkeit“).

Bildungsarme Jugendliche

Eine wichtige Facette im Diskurs zur Unterschichten- und Prekarisierungsproblematik bildet die Gruppe der Heranwachsenden ohne abgeschlossene Berufsausbildung, die sog. Verlierer der Globalisierung, die sich ganz überwiegend aus männlichen Haupt-und Sonderschülern aus niedrigen sozialen Schichten und bestimmten Migrantenmilieus zusammensetzen.

Obwohl die Benachteiligung von bildungs- und qualifikationsarmen Jugendlichen kein neues Phänomen darstellt, kommt ihr unter dem viel zitierten Schlagwort der „Bildungsarmut” derzeit eine große Aufmerksamkeit zu. Angesichts des erheblichen Lehrstellenmangels der letzten Jahre und des Rückgangs von Einfacharbeit und Fertigberufen in der Industrie hat sich der Übergang zwischen Schule und Ausbildung für viele Jugendliche zu einer eigenständigen prekäre Lebensphase verselbständigt. Denn in d’em Maße, in dem ein mittlerer Schulabschluss und eine abgeschlossene Ausbildung als Standard für den Zugang zum Arbeitsmarkt fungieren und sich das erwartete Vorbildungsniveau nach oben verschiebt, setzt ein verstärkter Verdrängungswettbewerb ein und die Nachfrage nach gering Qualifizierten verringert sich. Im Zusammenspiel mit Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt stellt zudem noch die Verschlechterung der Heiratschancen bzw. der Aufschub von Partnerschaft und Familie ein folgenreiches Problem der Ausbildungslosigkeit dar.

III.2. Exklu­si­ons­dis­kurs

Die Frage nach dem Ausmaß, der Gestalt und der Kultur der Unterschichten fällt nun auch hierzulande mit einer Diskussion des Exklusionsbegriffs, wie sie in anderen Ländern Europas schon seit fast zwei Jahrzehnten zu beobachten ist, zusammen. Ich beschränke mich darauf, nur einige der wichtigsten Gesichtspunkte aufzulisten, durch die sich dieses neue Konzept zur Analyse sozialer Ungleichheit auszeichnet.

  • Das Exklusionskonzept hebt die zentrale – und durch den säkularen Anstieg der Erwerbsquote von Frauen – noch forcierte Rolle der Erwerbsarbeit als Motor der Inklusion hervor. Sie gilt als der Ort, der materielle Sicherheit bietet, den Platz im sozialstaatlichen Leistungssystem anweist, Teilhabechancen am Konsum ermöglicht, langfristige biografische Lebensplanungen sichert und soziale Identität stiftet.
  • Dementsprechend setzt es sich im Gegenzug in besonderer Weise mit dauerhaft prekären Lebenslagen vor allem im Zusammenhang mit anhaltender Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie Armut auseinander.
     Das Konzept darf allerdings nicht als reine Randgruppentheorie missverstanden werden. Ausgehend von der Frage nach den Konstitutionsbedingungen sozialer Ungleichheit drängt es vielmehr desweiteren darauf, vom Rand her ins gesellschaftliche Zentrum vorzudringen.
  • Das Konzept der Exklusion hebt sich ab von traditionellen Modellen eines Weniger und Mehr im Sinne eines offenen Ungleichheitskontinuums, wie es die Schichtungssoziologie befolgt. Dagegen wird die systematische Ausschließung und Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile akzentuiert. Es sind folglich die Schwellen und Brüche, weniger aber die graduelle Differenzen, denen das zentrale Erkenntnisinteresse gilt.
  • Hierzulande haben sich daher anstelle des Begriffs der „Exkludierten” die Begriffe der „Entbehrlichen” und „Überflüssigen” eingebürgert. Wichtig ist, sie nicht mit den „Verlierern” zu verwechseln (Offe 1996, 274). Denn während
    Letztere immerhin noch am Spiel teilnehmen, sind die Überflüssigen von der Teilnahme ganz ausgeschlossen; sie haben nicht einmal mehr die Chance, zu den Verlierern zu gehören.
  • Die Ausgeschlossenen bleiben ungeachtet der begrifflichen Innen-Außen-Semantik „Teil der Gesellschaft”, allerdings mit stark beschränkten Teilhabechancen. Es geht daher genauer besehen um Ausgrenzung in der Gesellschaft, um die Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen.
  • Die Ungleichheitsproblematik wird im Kontext des Exklusionsbegriffs auf Fragen der sozialen Anerkennung und Zugehörigkeit ausgeweitet. Denn jenseits der Gefahren materieller Deprivation droht den Exkludierten vor allem auch der Entzug von sozialer Aufmerksamkeit und Geltung. Sie fühlen sich als „Entbehrliche” und haben den Eindruck, nicht mehr gebraucht zu werden. Da-her werden Probleme mangelnder Einbindung in die Solidaritätsbande sozialer und nicht zuletzt familialer Netzwerke besonders hervorgehoben.
III.3. Der Mittel­schich­ten­dis­kurs – von der Prosperität zur Prekarität

Die im Frühjahr 2008 vom Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin publizierten Befunde über das Schmelzen der Mittelschicht haben die fachwissenschaftliche Diskussion über die Krise der gesellschaftlichen Mitte in die breitere Öffentlichkeit getragen und bilden gleichsam die Kehrseite des Unterschichtendiskurses. Da das Bild der Mittelschicht als tragende Säule der Gesellschaft das kulturelle Selbstverständnis der Bundesrepublik über Jahrzehnte bestimmte, kann das bis heute anhaltende Echo dieser Krisendebatte kaum übelraschen. Nach den Ergebnissen des DIW sank der Anteil der Durchschnittsverdiener von 2000 bis 2006 von fast zwei Dritteln auf nahezu die Hälfte. Wobei sich der Schrumpfungsprozess nur zum kleineren Teil durch Aufstiegsprozesse erklären lässt. Viel durchschlagender sind den Ergebnissen des Instituts zufolge, die Abstiegsprozesse nach unten, die vor allem klassische Familienhaushalte betreffen. Die Diskurse über die gesellschaftliche Mitte und damit auch über das gesellschaftliche Oben und Unten bringen freilich nicht allein das Problem einer quantitativ veränderten Schichtungsordnung mit sich. Stellt man sich außerdem die Frage nach den im Hintergrund stehenden gesellschaftlichen Veränderungen, so gilt es gesondert die Umbrüche in der Erwerbswelt und in der wohlfahrtsstaatlichen Politik hervorzuheben.

Zum Wandel des wohlfährtsstaatlicheArrangements

So unstrittig es inzwischen ist, den Sozialstaat als eine „Errungenschaft der Moderne” zu begreifen, so verbreitet ist es, seinen Gestaltwandel, der sich seit geraumer Zeit voll-zieht, überwiegend kritisch zu kommentieren. Von Bourdieu wird er als „Rückkehr zu einer Art Raubtierkapitalismus” (1998, 44) gegeißelt. Mittlerweile herrscht common sense darüber, die Neuausrichtung der Sozialpolitik in den Kontext wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse zu rücken. Danach verschärft die durch die Internationalisierung der Märkte ausgelöste Konkurrenz zwischen Ländern mit unterschiedlichen Lohn-und Produktivitätsniveaus den zwischenstaatlichen Standortwettbewerb und lässt die strukturelle und fiskalische Basis des ehemals so interventionsfreudigen Wohlfahrtsstaates schmelzen. Den auf diese Weise eingeleiteten sozialpolitischen Modellwechsel beschreibt die jüngere Sozialpolitikforschung schlagwortartig als eine Umstellung des Systems der sozialen Sicherung vom Typus des „versorgenden” zum „aktivierenden” oder auch „gewährleistenden” Sozialstaat (Vogel 2007). Während das alte Modell des „sorgenden Staates” (Abram de Swaan) noch eine weit reichende Dämpfung von Wohlstandsunterschieden, den Ausbau von Arbeitnehmerrechten und die Minimierung sozialer Risiken vorgesehen hatte, sind die Vorzeichen inzwischen radikal verändert. Das bisherige Prinzip des Statuserhalts und der Lebensstandardsicherung wurde durch das Prinzip der Gewährleistung einer Grundversorgung abgelöst. Anders gesagt: Mit dem Rückzug des Staates aus der Daseinsvorsorge wird das für den Wohlfahrtsstaat konstitutive und fundamentale Versprechen auf die Herstellung und Gewährleistung sozialer Sicherheit ebenso brüchig wie die Erwartung, dass wirtschaftliche Wertzuwächse selbstverständlich der gesellschaftlichen Wohlfahrtsproduktion zugute kommen.

Umbrüche in der Erwerbswelt und wachsende Gefühle sozialer Unsicherheit

Neben den schon angedeuteten Motoren des arbeitsgesellschaftlichen Wandels (Rück-gang der industriellen und Anstieg der Dienstleistungsbeschäftigung, drastische Entwertung un- und angelernter Industriearbeit) trägt die anhaltende Arbeitsmarktkrise, aber auch der durch die Finanzkrise ausgelöste Verlust des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit des Marktes und in die Glaubwürdigkeit ihrer Akteure zu einem in dieser Form bislang unbekannten Klima sozialer Verunsicherung bei. Es sind namentlich die Flexibilisierungsstrategien zur variableren Gestaltung von Arbeitsverträgen, Arbeitszeiten, Arbeitsordnungen und Arbeitseinkommen, die zusammen mit den Schwankungen des Arbeitsmarktes die Arbeitnehmer verstärkt mit Beschäftigungs-, Einkommens- und Gesundheitsrisiken konfrontieren. Bewegliche Arbeitszeiten, projektförmige Strukturen und Leistungsvereinbarungen erhöhen einerseits die Erwartung, sich innerhalb des Unternehmens als eigenverantwortliches und wettbewerbsorientiertes Marktsubjekt zu verstehen und entziehen andererseits der Kalkulierbarkeit und Erwartbarkeit beruflicher Karrieren den Boden.

Aber nicht nur das; Prekarisierungsängste und die Drohung des Arbeitsplatzverlustes lassen die Maxime um sich greifen, dass jede, selbst schlecht bezahlte und sozial ungeschützte Arbeit, die kein individuelles Auskommen ermöglicht, besser ist als überhaupt keine Arbeit. Passend hierzu unternehmen Beschäftigte, die ihre Erwerbslage als prekär bewerten, oftmals Anstrengungen und vorbehaltlose Anpassungsleistungen, um sich geräuschlos in den Betriebsalltag einzufügen. Hier lässt sich auch von einer Variante „symbolischer Gewalt” sprechen, die zur Unterwerfung und unmerklichen Akzeptanz der Ausbeutung zwingt, in dem sich die subjektive Angst in die Köpfe und Körper der Betroffenen einschreibt.

Bislang war es unbekannt, dass sich mit der Abkehr vom Normalarbeitsverhältnis die Unsicherheiten nicht mehr nur auf die unteren Ränge der Statushierarchie konzentrieren. Jetzt nisten sich die prekären Beschäftigungsverhältnisse mit ihren verstärkten Ängsten vor Degradierung und Arbeitslosigkeit freilich auch in die höheren Etagen der Berufshierarchien ein. Um es in den viel zitierten Worten Bourdieus zu sagen, „Prekarität ist überall”. Dieser Einschätzung entspricht ein Diskursstrang, der sich seit geraumer Zeit der neuen „Verwundbarkeit” (Robert Castel) und Wohlstandsgefährdung der Mittelschichten zuwendet. Das verlorene Lebensgefühl der Sorglosigkeit, das sich aus langfristiger Berechenbarkeit speiste, schlägt sich in Forschungsbefunden nieder, nach welchen sich die ökonomischen Probleme und materiellen Sorgen um die Kinder mit verstärkten Ängsten vor Degradierung und Arbeitslosigkeit verbinden (Böhnke 2005).

Hinzu kommt, dass die Zwänge des demonstrativen Konsums (Thorstein Veblen) und der symbolischen Ausgestaltung der Haushaltsführung das Leben für immer größere Teile der Bevölkerung zu einem Balanceakt werden lassen. Die hohe und noch im Steigen begriffene Zahl überschuldeter Haushalte zeigt, wie weit viele gehen, um ihre Rolle als aktive Konsumenten im Waren- und Dienstleistungskreislauf der Gesellschaft aufrecht erhalten zu können.

III.4. Gerech­tig­keits­dis­kurs

Nicht erst durch die Wirtschafts- und Finanzkrise ist „Gerechtigkeit” zu einem der Leitbegriffe der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Auseinandersetzungen avanciert. Bereits im Gefolge der wachsenden Ungleichheiten durch die deutsch-deutsche Vereinigung, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und der Krise der sozialen Sicherungssysteme wurden die Zweifel am Gesellschaftssystem und seinen wohlfahrtsstaatlichen Versprechen auf Aufstieg, Sicherheit und Fairness lauter. Eine Fülle von Umfragen bestätigen diesen Trend: Die Mehrheit der Bürger nehmen ihre Gesellschaft sowohl hinsichtlich der Kluft zwischen arm und reich, als auch was die Verteilung von Einkommen, Löhnen, Vermögen und Teilhabechancen angeht, als immer ungerechter wahr. Und auch das Gefühl, auf Grund der Herkunft benachteiligt zu sein, nimmt zu.

Das paradoxe Bild einer reicher und zugleich ärmer werdenden Gesellschaft spiegelt sich in den Zahlen der Einkommens- und Vermögensstatistik deutlich wider. Danach sind nicht nur die Einkommen an der Spitze der bundesdeutschen Einkommenshierarchie beachtlich gestiegen, sondern zugleich haben sich auch die Armutsquoten erhöht. Und mehr noch als bei den Einkommen haben auf dem Feld des Geld-, Immobilien- und Produktivvermögens die Schieflagen zugenommen.

Die meritokratische Illusion

Die Hinweise auf eine Erosion der middle class society werden aber nicht nur im ökonomischen, sondern fernerhin im normativen Bereich ersichtlich. Sie betreffen insbesondere das zu den Errungenschaften demokratisch-moderner Gesellschaften zählende Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, nach dem nicht die Herkunft, sondern allein individuelle Anstrengungen den sozialen Status zu begründen vermögen.

Die Leitidee der Leistungsgerechtigkeit findet in der so genannten meritokratischen Triade, die Bildung, Beruf und Einkommen miteinander verknüpft, ihren Ausdruck. Nach diesem Modell haben ungleiche Einkommens- und Berufschancen allein in bildungs- und berufsbezogenen Leistungen und Anstrengungen ihre legitime Grundlage. Umgekehrt gelten jene Ungleichheiten, die sich nicht auf Leistung zurückführen lassen, als illegitim. Dieser Sichtweise entspricht es, die Verteilung der Bildungschancen immer wieder in den Fokus der Forschung zu rücken, zumal der Bildung als Zuteilungsmechanismus gesellschaftlicher Lebenschancen in der postindustriellen Wissensgesellschaft ein wachsender Stellenwert zugeschrieben wird. Einstweilen ist es allseits bekannt, dass von Leistungsgerechtigkeit im hiesigen Bildungssystem kaum die Rede sein kann, sondern von einer meritokratischen Illusion gesprochen werden muss. Nicht zuletzt die international vergleichende PISA-Studie legte einer breiteren Öffentlichkeit schonungslos offen, dass gerade auch das deutsche Bildungssystem zum Nachteil vor allem der Heranwachsenden mit niedriger sozialer Herkunft und mit Migrationshintergrund hochgradig sozial selektiv verfährt Diese hinlänglich bekannte Problematik braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Es genügt festzuhalten: Was die Entwicklung der Chancengleichheit angeht, hinken hierzulande die Schulen hinter denen anderer westlicher Demokratien her.

Leistungsgerechtigkeit – zur Krise einer, fundamentalen Wertidee

Die These, dass mit der Erosion der Leistungsgerechtigkeit eine für die Ungleichheitsordnung entscheidende Wertidee zur Debatte steht, findet in den jüngeren Arbeiten Sighard Neckels (2008) einen prägnanten Niederschlag. Die Kernbotschaft seiner Diagnose lautet: Im Zeitalter des globalen Marktkapitalismus sind es zunehmend Erfolgskriterien, die an die Stelle traditioneller Leistungskriterien treten. In der Erfolgsgesellschaft trete nicht mehr der Markt als meritokratische Institution, welche Leistungen honoriert, in Erscheinung. Statt nach den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit verteile er nach den günstigsten Angeboten, der stärksten Nachfrage und den besten Preisen. In anderen Worten: Märkte seien vor allem anderen an den ökonomischen Resultaten orientiert, gegenüber der Art und Weise ihrer Entstehung sind sie dagegen gleichsam „blind” und „neutral”. Das heißt aber, wenn Leistungen sich hauptsächlich im Markterfolg realisieren, und Markterfolge sich auch leistungsfrei einstellen können, bietet eine Gesellschaft des Marktes keine Gewähr, dass materielle Erfolge den Leistungsnormen entsprechen, die sie doch legitimieren sollen. Soziale Ungleichheit, die sich an den Maßstäben des Markterfolges orientiert, lässt sich nach dieser Argumentation nicht mehr im Deutungshorizont des Leistungsprinzips rechtfertigen. Mit der Hegemonie des Marktmechanismus werde das traditionelle arbeitsgesellschaftliche Grundsatz, der den Status an die Er-träge von Beruf und somit Leistung bindet, ausgehöhlt. Der Stellenwert der leistungsbezogenen Wertschöpfung durch Arbeit verliere zudem dadurch an Geltung, dass die Verwertungschancen von Kapitaleinsätzen mittlerweile soweit angestiegen sei-en, dass Besitz und Vermögen zu eigenständigen Prinzipien der privaten Reproduktion durchaus breiter Bevölkerungsschichten geworden seien. Die neue „Kulturbedeutung des Erfolgs” manifestiere sich daran, wie es in Anlehnung an die klassischen Vorarbeiten von Thorsten Veblen heißt, dass Reichtum, der einst nur als Symbol eigener Anstrengung und Tüchtigkeit Anerkennung fand, nunmehr eine vom Leistungsethos unabhängige Geltung erfahre. Sein Wert strahle auch dann auf seine Besitzer aus, wenn er sich dem Zufall günstiger Umstände verdanke. Prägnante Anschauungsfelder der Erfolgsgesellschaft und ihrer „Wirtschaftskultur der Zufälligkeit” bilden für Neckel zusätzlich noch die Gelegenheitsmärkte“ des Börsen- und Investmenthandels, da sie historisch unbekannte Chancenstrukturen möglich machen. Die Summen, die hier zumeist im Spiel sind, führen die Norm, Aufwand und Ertrag in ein „gerechtes” Verhältnis zu setzten, ad absurdum.

Als weitere Indikatoren moderner Marktgesellschaften fungiere ferner die populäre Erfolgswelt der Medien-, Mode- und Popkultur, deren „Laufsteg- und Aufmerksamkeitsökonomie” eine Vielzahl von Möglichkeiten des Einkommens- und Statuserwerbs jenseits aller Leistungskategorien eröffnet. Als Beispiel „unverdienten” Erfolgs lässt sich laut Neckel schließlich noch die zu beobachtenden Erbschaftswelle anführen, die im Sinne eines ständischen Ungleichheitsprinzips auf der einen Seite die Gruppe der „geborenen Gewinner” und auf der anderen Seite diejenige der „geborenen Verlierer” hervorbringt.

IV. Resümee: Von der Lebensstil- zur neuen Klassen­ge­sell­schaft?

Wie lässt sich das skizzierte und alles andere als geordnete Bild sozialer Ungleichheit einer übergreifenden Deutung zuführen? Wie können die Diskurse und Befunde zusammenfassend interpretiert werden? Soviel dürfte nach meinem Problemaufriss fest-stehen: Der mit gefälligen Individualisierungstheorien versehene Entwurf einer wohlstandsgewissen Lebensstilgesellschaft hat ebenso wie derjenige einer offenen Aufstiegsgesellschaft seine Deutungsplausibilität und -hoheit eingebüßt. Der Traum vom Ende einer vertikalen Gesellschaftsschichtung ist ausgeträumt, die soziale Frage wird wieder als gesellschaftliches Kardinalproblem wahrgenommen und der lange ins Abseits geratene Begriff des Kapitalismus ist dabei, wieder salonfähig zu werden. Allerdings lassen die in den verschiedenen Diskursfeldern zu Tage tretenden Zugriffsweisen eine begrifflich stringente und theoretisch schlüssige Argumentation vermissen. Den-noch lässt sich auf einer abstrakten Ebene des „klassengesellschaftlichen Denkens”, wie ich abschließend behaupten möchte, so etwas wie ein gemeinsames Band ausfindig machen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es wird hier nicht eine Renaissance der ldee der Klassengesellschaft im alten Gewand mit fest umrissenen Klassen, verstanden als reale Großgruppen mit je eigener Klassenkultur und Klasseninteressen unterstellt. Heute dient die überkommene Rede von der Klassengesellschaft bestenfalls noch als schrille Chiffre, der ein enormes Skandalisier•ungs- und Moralisierungspotential innewohnt. Ansonsten wurde sie zu Recht schon länger in die Asservatenkammer sozialwissenschaftlichen Denkens befördert. Was ich jedoch sagen möchte ist, dass klassengesellschaftlich eingefärbte Interpretationsmuster gleichsam den kleinsten (abstrakten) Nenner der verschiedenen Ungleichheitsdiskurse bilden. Es sind also nicht die Intentionen einer pompösen Etikettierung, die dem diskursiven Erfolge des klassengesellschaftlichen Denkens zu Grunde liegen. Vielmehr sind es in meinen Augen die folgenden sechs Aspekte, die gleichsam als konzeptionelle und empirische Ankerpunkte für die aktuelle zeitdiagnostische Faszination klassengesellschaftlicher Deutungstheoreme ausgemacht werden können.

Erstens: Als gleichsam „natürlicher” und nicht zu hintergehender Referenzrahmen des klassengesellschaftlichen Diagnosemodells fungiert die Kapitalismustheorie. In ih-ren aktuellen Varianten legt sie nahe, die Gegenwart etwa als „neuen”, „flexiblen”, „finanzmarktgetriebenen”, „neoliberal-postfordistischen” oder „globalen” Kapitalismus zu beschreiben.

Zweitens: Im Sog des entfesselten Kapitalismus ist die Gesellschaft dann vor allem auch als Markt- und Erwerbsgesellschaft anzusehen. Die Globalisierung, der Arbeitsmarkt, Erwerbsarbeit und Erwerbslosigkeit erscheinen als die entscheidenden Drehscheiben der ungleichen Zuteilung von Lebenschancen, wo zentrale Konflikte der Gesellschaft ausgetragen werden. Zugleich wird, getreu dem Denkmodell de~ „sozialstaatlichen Kapitalismus”, die soziale Ungleichheit vom Wandel der Arbeitswelt, aber auch von den Veränderungen des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements her analysiert.

Drittens: Das Denkmodell der neuen Klassengesellschaft geht mit dem gegenwärtig wieder stärker favorisierten Bild einer vertikal-hierarchisch gegliederten Sozialstruktur einher, in der sich Bildung, Einkommen, Vermögen und Lebenserwartung systematisch ungleich verteilen. Im Zusammenspiel mit den Paradoxien des „Markterfolgs” stellt sich zudem die Frage nach der bröckelnden Geltung des Leistungsethos als einem für da5 normative Selbstverständnis der Gesellschaft tragenden Legitimationsprinzip.

Viertens: Mit den wiederbelebten klassengesellschaftlichen Deutungsmustern korrespondieren die dichotomen Bilder einer „polarisierten” und „gespaltenen Gesellschaft”, wie sie in der binären Oben-Unten-, Arm-Reich-, Gewinner-Verlierer- oder (exklusionstheoretischen) Drinnen-Draußen-Schematik, aber auch in der Neubetonung der strukturellen Asymmetrie in den Machtverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit zur Anwendung kommen. Die Perspektive der Spaltung reflektiert sich zusätzlich in dem Begriff der „sozialen Verwundbarkeit”, der auf die Trennung von gesicherten und prekären Wohlstandspositionen als neuer Ausdrucksform der Zweiklassengesellschaft aufmerksam macht.

Fünftens: Es entspricht den Vorgaben der klassischen Schichtungs- und Klassenforschung, wenn Gleichheit und Gerechtigkeit nach den Phasen postmoderner Beliebigkeit in der Ungleichheitsforschung als normative Bezugspunkte wieder stärker in Erscheinung treten. Dieser Ausrichtung folgen die verstärkt auf prekäre Lebenslagen, spezifische Migrantenmilieus, die neuen Unterschichten, die Exkludierten oder das abgehängte Prekariat gerichteten Ungleichheitsanalysen, aber auch die gegenwärtigen sozialtheoretischen Debatten zu Fragen sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe.

Sechstens: Im Rückgriff auf Traditionen der Marxschen Ideologielcritik werden in der Sozialstrukturforschung die Widersprüche zwischen Normativität und Realität, gesellschaftlichen Werten und gesellschaftlicher Wirklichkeit wieder vermehrt gebrandmarkt. Neben der materiellen Ungleichheit, den ungleichen Bildungschancen, der neuen Armut und der Verschärfung sozialer Abstiegsrisiken sind es besonders die mit zeitgeistigen Vokabeln wie Flexibilität, Verschlankung, Aktivierung, Eigenverantwortung und Deregulierung verbundenen „neoliberalen” Legitimationsdiskurse und Machtdispositive, die ins Kreuzfeuer der Kritik geraten.

Ausblick: Ob der Erdrutsch in der Selbstbeschreibung, wie er sich in der klassengesellschaftlichen Radikalisierung der Ungleichheitsdebatte ankündigt, eine Zukunft hat, wird sich erweisen. Deutlich dürfte geworden sein, dass dieser neuerliche Perspektivenschwenk sich keinesfalls nur als Folge rein diskursiver Prozesse begreifen lässt. Viel-mehr spiegeln sich hierin die faktischen Transformationen der Lebensverhältnisse, die das Ungleichheitsgefüge nach unten öffnen und Gefühlslagen der Verwundbarkeit hervorbringen. Wie auch immer die zukünftigen theoretischen Zugriffsweisen ausfallen werden; angesichts der komplizierten Überlagerung der Ungleichheits-, Spaltungs- und Spannungslinien, die die Dynamik des spätmodernen Kapitalismus kennzeichnet, wird die Herausforderung, diese analytisch aufzuschließen und kritisch zu durchdringen, so schnell nichts an ihrer Aktualität einbüßen.

Literatur

Bourdieu, Piei-re (1998): Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz.
Böhnke, Petra (2005): Teilhabechancen und Ausgrenzungsrisiken in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37, 31-36.
Lessenich, Stephan/Frank Nullnzeier (2006): Einleitung: Deutschland zwischen Einheit und Spaltung.
In: Dies (Hg.): Deutschland. Eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York, 7-27. Neckel, Sighard (2008): Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a. M. Nolte, Paul (2006): Riskante Moderne. Die Deutschen und der neue Kapitalismus, Bonn.
Schulze, Gerhard (1993): Entgrenzung und Innenorientierung. Eine Einführung in die Theorie der Er-
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Offe, Claus (1996): Moderne Barbarei: Der Naturzustand im Kleinformat? In: Miller, Max/Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Modernität und Barbarei, Frankfurt a. M., 258-289.
Vogel, Berthold (2007): Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, Hamburg.

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