Sehnsüchtiger Blick zurück nach vorn
aus: Vorgänge 192 (Heft 4/2010), S. 125-132
Die Grünen zwischen Bewegungs- und Volkspartei
Die Bündnisgrünen verharren im Umfragehoch. Was im Sommer noch als Momentaufnahme galt, hat mittlerweile seine Bestätigung durch fast alle Umfrageinstitute erhalten: Die Grünen könnten bei den nächsten Bundestagswahlen in etwa zwanzig Prozent der Stimmen erwarten, in Baden-Württemberg oder Berlin noch weitaus mehr. Woher dieser Stimmenzuwachs rührt, ist indes immer noch diffus.
Eine einfache Interpretation hat Manfred Güllner (forsa) parat: „Das sind zum Teil frühere SPD-Wähler, die 2005 und 2009 die Sozialdemokraten nicht mehr wählen wollten, aber Vorbehalte gegenüber den Grünen hatten. Heute sind die Grünen eine seriöse Partei. Stammwähler sind diese Leute aber nicht. Ich bezeichne die als Zwischenparker. Weitere Stimmen kommen von Union und FDP. Vor allem von den Liberalen kommen Wähler, die aus Verzweiflung jetzt Grün wählen. Das sind auch keine Stammwähler.[1] Aber erklärt sich die Stärke der Grünen aus ihrer jäh konstatierten Seriosität oder aus der Mithilfe verzweifelter FDP-Wähler? Oder lässt sich der grüne Erfolg eher über das „Bürgerverstehen” erklären? „Irn Gefühl politischer Hilflosigkeit steigt die Bedeutung von Vertrauen und Nachhaltigkeit”, so Klaus-Peter Schöppner (emnid), deshalb seien die Grünen derzeit so stark, aber: „die ,Aktie Grün‘ ist überhitzt wie nie. Absturz nicht ausgeschlossen.[2] Die Grünen also als beruhigende Zeitgeist-Surfer in wirtschaftlich und politisch aufgewühlten Zeiten? Oder aber profitieren die Grünen von den hohen latenten Sympathiewerten, die ihnen schon seit Längerem einen weitesten Wählerkreis mit beträchtlichem Radius bescherte und die sich nun in konkrete Zustimmung umwandeln?[3] Folgt man den Meinungsforschern, dürfte der grüne Höhenflug nur ein Zwischenhoch sein.
Aber reichen deren Parameter aus? Von der hektischen Demoskopie unzureichend erfasst, zeigt sich womöglich eine Wandlung untergründiger Mentalitätsströme der bundesrepublikanischen Gesellschaft. „Das Ö der Ökologie hat das C der Christdemokraten und der Christsozialen in der politischen Wirksamkeit ersetzt”, urteilt etwa Franz Walter.[4] Und beantwortet damit die Frage, ob der derzeitige Zuspruch zu den Grünen nur ein temporärer ist oder ob es sich doch um eine auch zukünftig belastbare Zustimmung zu grünen Politikmodellen handelt. Ist „die grüne Idee”, wie Alexander Bonde, grüner Haushaltsexperte, optimistisch vermutet „zu groß für eine kleine Nische?“[5]
Ökologie als neuer Telos einer tief verunsicherten Gesellschaft, die sich zum einen nach einer neuen Idee sehnt, zum anderen nicht überfordert werden will? Der Weg in dieses ökologische Morgen ist ein ebenso komplizierter wie komplexer. Doch was bis-her Wähler abzuschrecken schien, Komplexität und Kompliziertheit, zieht nun gar, entgegen der postdemokratischen Diagnose, neue Wählerschaften an. Welche Gründe lassen sich für einen solchen Umschwung identifizieren?
Grüne Wohlfühlpartei…?
„Anders als in den nun gut dreißig Jahren Parteigeschichte gibt es heute keinen Streit, keine Provokation, keine Rivalitäten: Die Grünen schweigen sich zur Macht mit populären Wohlfühlthemen [..,] So wie der Gang in den hochpreisigen Biomarkt den Konsumenten nicht ohne Grund zum Weltverbesserer macht, so bietet die Stimme für die Grünen eine Art moralische Selbsterhöhung an”, so Ulf Poschardt in der Welt.[6] Unterstützung findet diese Sicht auch auf politischer Ebene, etwa bei Sigmar Gabriel. Auch er wirft den Grünen Beliebigkeit vor: „Wenn die Grünen sagen, sie wollen Partner auf Augenhöhe sein, dann finde ich das sehr gut. Dann dürfen sie aber nicht mehr nur für die vermeintlichen Wohlfühlthemen grüner Wählerschichten wie Umwelt- und Klimaschutz zuständig sein und die SPD für die harten Aufgaben solider Finanzen, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Arbeit.[7]
Nun war es das Verdienst der Schröder- SPD, die Grünen in jene politische Ecke geschoben zu haben. Während die Union auch die finanz- und wirtschaftspolitische Kompetenz der Grünen zu akzeptieren begann, war es Schröder, der die Grünen an den Katzentisch der Macht platzieren wollte und ihnen an Prestigeträchtigem nur das Auswärtige Amt überließ.
Unabhängig davon gilt seit dieser Zeit der Befund, dass die Grünen sich nicht mehr in existenzieller Weise streiten – auch wenn die heftige Afghanistan-Debatte auf dem Göttinger Parteitag 2007 kurz wieder die Erinnerung an die unselige Debattenkultur früherer Tage wachrief. Es waren letzte Schläge des pazifistischen Flügels der Partei. Auch die Bundesdelegiertenkonferenz 2010 in Freiburg hinterließ den Eindruck innerparteilicher Ruhe. Einzig die versagte Unterstützung zur Olympia-Bewerbung Münchens sorgte für ein wenig Unruhe.
…im sozialpolitischen Niemandsland…
Der Green New Deal entspricht noch am ehesten dem, was von den Grünen-Kritikern als „Wohlfühlpolitik” gefasst wird: eine Million Arbeitsplätze durch ökologische Innovation und Stärkung des öffentlichen Sektors. Solche Ansagen versprechen Popularität und markieren den grünen Zeitgeist. Das Wohlgefühl endet allerdings bereits bei der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze zur gesetzlichen Krankenversicherung auf 5.500 Euro, wie sie auf dem letzten Parteitag beschlossen wurde. Denn dieses sozialpolitische Angebot an die sich noch immer mehrheitlich links verortende Wählerschaft trifft auch etliche der eigenen, gut situierten Wähler. Im Gegenzug wehren sich die grün/bürgerlichen Eliten gegen die Wiederabschaffung der Rente mit 67, die auf dem linken Flügel der Partei durchaus Anhänger hat. Sie stemmen sich gegen eine sozialpolitische Wohlfühlpolitik, gegen „die linkskonservative […] Sehnsucht nach dem alten Sozialstaat“.[8]
Zwischen dem linken Flügel der Grünen, der die Rente mit 67 hinterfragt, Vermögensabgaben und höhere Steuerlasten für Besserverdienende fordert,[9] auf der einen und den „reformorientierten”, eher mittigen Anhängern einer in allen Lagern wählbaren grünen „Konzeptpartei”, schwelt ein vor allem in der Sozialpolitik ausgetragener Konflikt, der bislang noch unter dem programmatischen Deckel eines „erweiterten Gerechtigkeitsbegriffs” gehalten wird.Dieser sozialpolitische Formelkompromiss erlaubt bislang, weil er die gesellschaftliche Lasten- und Nutzenverteilung im Vagen hält, die gleichzeitige Mobilisierung von Stamm- und Neuwählern. Und er dürfte noch einige Zeit halten, da in der öffentlichen Wahrnehmung der sozialpolitische Wettbewerb vor allem zwischen der SPD und der Linken verortet wird. Und dort soll er nach Möglichkeit auch bleiben.
…oder doch ein schleichender Wertewandel in der Gesellschaft?
Es ist nicht nur die geschickte Vermeidung innerparteilicher Auseinandersetzungen, welche die aktuelle Attraktivität der Grünen erklärt, diese wird zudem befördert durch einen untergründigen, lebensstilistisch bisweilen aber auch oberflächlichen Mentalitätswandel in der Gesellschaft.[10] Es gilt inzwischen durchaus als chic, sich grün zu inszenieren, in Stil und Konsum Nachhaltigkeit zu praktizieren. Was früher von einer kleinen Gruppe Konsumenten getragen wurde, hat inzwischen wesentlich breitere, gleichwohl höhergebildete und/oder besser situierte, kurz, bürgerliche Schichten erreicht. Die LoHaS [11], wie die Werbeforschung diese Gruppe nennt, „stellen längst keine gesellschaftliche Randgruppe mehr dar: Beinahe jeder Dritte zählt schon dazu.[12] Auch wenn die Zahlen hochgegriffen scheinen, so zeigt sich eine für die Grünen positive Verschiebung zumindest auf dem Feld des Konsums, der in diesen Gruppen auch einen hohen normativen, auch politischen, Stellenwert besitzt. [13]
So wie der Markt für biologisch erzeugte und für fair gehandelte Produkte seit Jahren wächst und sich professionalisiert hat, so hat sich auch das Image der einst verspotteten Ökos gewandelt. Am eindrücklichsten vermittelt sich dieser Wandel in den Bioläden. Aus den kleinen Hinterhofläden, an denen hinter selbst geschreinerten Tresen vermeintliche Hinterwäldler Gerstenschrot feilboten, sind moderne Öko-Supermäricte erwachsen. Groß, hell erleuchtet und glänzend bieten sie jenen bezahlbaren Hauch von erwartbarem Benefit gesellschaftlicher Anerkennung durch den Kauf ökologischer Produkte.[14] Und wie der ökologische Konsum könnte auch die Motivation steigen, bei der Sonntagsfrage die Grünen zu präferieren.An diesem Politik-Konsum zeigt sich allerdings, dass in Zeiten der postdemokratischen Wende, wie von Ingolfur Blühdorn beschrieben, eine starke Tendenz zur Nicht-Nachhaltigkeit existiert.[15] Blühdorn kommt zu dem Schluss, dass Menschen weniger nach normativen Erwägungen, sondern konsumistisch ihre politische Wahl treffen können,: Ich wähle, was meinem „Konsumenten-Ich“[16] Befriedigung in Form eines bestimmten Images verschafft. Inwieweit dem eine stringente politische Haltung entspricht, ist dem Betreffenden nachrangig, die persönliche Verantwortung für ökologisches bzw. nachhaltiges Handeln tritt in den Hintergrund. Der Wertewandel in den Köpfen fände so nur eine symbolische Entsprechung, aber eben keine politische Umsetzung.
Vor allem keine, die auf eine festere programmatische Bindung an die Grünen schließen ließe. So ist es möglich, auch als Anhänger der Grünen, diese aus Imagegründen zu wählen und zugleich gegen die Schulreform in Hamburg zu stimmen. Wäre dies das neue Fundament der Grünen, wäre es nicht minder fragil als das der FDP.
Neue Konstellationen
Allerdings ist die Akzeptanz für grüne Politik in den letzten Jahren eindeutig gestiegen. Noch vor einer Dekade war grüne Programmatik gleichgesetzt worden mit ideologischer Entrücktheit. „Fünf Mark für einen Liter Benzin”, Ökosteuer und andere unorthodoxe Forderungen bescherten den Grünen in der öffentlichen Debatte meist nur Hohn und Spott. Seitdem scheint sich – auch beschleunigt durch eine veränderte Wahrnehmung der Klimaproblematik – die Akzeptanz der Umweltpolitik zumindest im bürgerlichen Lager stark erweitert zu haben. Auch Angela Merkel war Trägerin dieser Veränderung, vermittelte sie doch zeitweise in die eigene Anhängerschaft hinein eine Idee davon, dass eine bessere, eine erhaltenswerte Welt möglich und nötig sei.
Die ökologische Konfliktlinie überlagert oder verdrängt inzwischen in Teilen die ökonomische, zumal in der ökologischen Wende auch eine ökonomische Chance liegt. Mit der grün wie christlich begründbaren Notwendigkeit der Schöpfungsbewahrung tut sich eine neue normative Konstellation auf, bei der schwarz und grün auf der einen und rot-rot-gelb als Parteien des industriegesellschaftlichen Fortschritts auf der anderen Seite stehen.[17]Da dem Green-New-Deal als progressivem Politikentwurf die sozial-romantisch verklärte Rückschau auf den alten Bonner Sozialstaat fehlt, vergrößert er zudem die Distanz zur SPD und zur Linkspartei.[18]
Ihm liegt zudem ein Politik-Verständnis zugrunde, das im postmateriellen Milieu, bei den LoHaS und cultural creatives[19] seinen Resonanzboden findet, in Kreisen der klassischen Industriearbeiterschaft oder gar des Prekariats auf ebenso wenig Verständnis stoßen dürfte, wie bei der leistungsorientierten Klientel der FDP. Die Komplexität grüner Programmatik korreliert mit einer steigenden und damit auch abschreckenden Komplexität des Politischen. Kurz, die Grünen „verfügen mit ihrer Grübel-Ethik einerseits über eine unbestreitbare Tugend und ein einigendes Band, andererseits werden sie dadurch handlungsunfähig und schotten sich von ihrer.Umwelt ab.[20] Das bedeutet, dass die Bündnisgrünen außerhalb ganz bestimmter (Bildungs-)Milieus kaum wahrgenommen werden, was ihrem Aufstieg zu einer in allen gesellschaftlichen Milieus präsenten Volkspartei Grenzen setzt.
Die Rückkehr des Protestes
Bisher erreichen die Grünen, trotz einer weitreichenden Neujustierung grüner Politik während und nach dem Ende von Rot-Grün[21] lediglich hohe Kompetenzzuschreibungen im Bereich der Umweltpolitik und in der Frage der Sicherung der Energieversorgung[22]Hier schien sich der Vorrat an grüner ldentität bereits gänzlich erschöpft zu haben. Der Ausbau regenerativer Energien läuft auf hohen Touren, der Atomkonflikt schien nach dem, wenn auch zögerlichen, Ausstieg aus der Atomenergie seine mobilisierende Kraft verloren zu haben.
Doch der Ausstieg aus dem Ausstieg bringt einen neuen Schub für die Bündnisgrünen. Eine längst als Mobilisierungsreservoir ausgefallene Thematik drängt machtvoll zurück in den politischen Diskurs und führte den Grünen längst verloren geglaubte Anhänger wieder zu. Zugleich beerdigt der Ausstieg vorerst sämtliche schwarz-grüne Projektionen, der Abstand zwischen beiden Parteien hat sich seitdem auch auf anderen politischen Feldern wieder vergrößert.[23] Sein aktuelles Ausmaß konnte zuletzt in Hamburg und am Stuttgarter Bahnhof beobachtet werden. In Hamburg gingen die Grünen unbeschadeter als die CDU aus dem Koalitionsprojekt wieder heraus. Das verwundert zu-nächst, dürfte doch mit ihrer Niederlage in der Volksabstimmung zur Schulreform ihr basisdemokratischer Wertekern erheblich gelitten haben. Doch anscheinend werden sie trotzdem als Partei des authentischen Protestes wahrgenommen, ein Bild, das sie sowohl in Gorleben als auch in Stuttgart sorgsam pflegten. Sie aktivieren zwar nur zu einem kleinen Teil neue Sympathisanten, erinnern aber die Kernanhängerschaft an die eigenen Wurzeln des grünen Bürgerkinderprotests.[24] Die Grünen profitieren bei all diesen Auseinandersetzungen auch von Fehlern der anderen, selbst dort, wo sie, wie in Hamburg, auch die eigenen sind.[25]
Was folgt? Von grünem Chic und geringstem Übel
Der Politologe Ingolfur Blühdorn kam noch 2009 zu dem Ergebnis, dass die Grünen sich zwar programmatisch aus der Umklammerung der SPD gelöst haben, zudem das Fünfparteiensystem ihnen gute Regierungschancen einräume. Letztlich aber seien die Grünen zu schwach für einen grünen Politilcwechsel.[26] Die jetzigen Umfragewerte, im Bund und vor allem in Berlin, lassen – bei aller notwendigen Skepsis bei Umfragewerten – den letzteren Befund inzwischen anzweifeln. Dies zeigt sich auch im neuen Selbstbewusstsein der Grünen. Etwa darin, dass von grün-roten Koalitionen gesprochen wird, dass Jürgen Trittin vor einem rot-grünen Automatismus warnt, verbunden mit dem Hinweis, dass schwarz-grün in Hamburg erst zu dieser selbständigen Position der Stärke beigetragen habe [27] Und Cem Özdemir weist beharrlich darauf hin, dass es mit beiden potentiellen Koalitionspartnern gleichermaßen Dissens und Konsens gäbe.[28] Dies zeigt auch die Debatte innerhalb der Führung der Grünen nach dem Scheitern der Hamburger Koalition, in der führende Realos betonten, dass das Ende der Hamburger Koalition kein generelles Ende von schwarz-grün auf Landesebene bedeuten müsse.
Die Grünen scheinen vor allem eines gelernt zu haben: dass ihr Markenkern trägt, egal in welcher Verbindung, welchem Politikfeld und welcher Koalitionen. Die Grünen haben geschafft, was man ihnen in der Post-Fischer-Ära kaum zugetraut hat: Sie haben das dominierende Thema der Umweltpolitik sämtlichen Politikbereichen überwölbt und leben von einem normativen Überschuss, der sich nicht in der kleinen Münze der Tagespolitik verrechnen lassen muss. Genau das fehlt anderen Parteien. Die Union hadert mit ihrem konservativen Profil, die FDP mit dem Misserfolg des Neoliberalismus, die Linke noch immer mit ihrer Rolle im parlamentarischen System. Und auch die SPD scheint sich noch auf einem langen Weg zu befinden, auf dem sie immer häufiger die Juniorrolle einnehmen muss. Einzig die Grünen vermitteln den Eindruck, einem Kompass zu folgen? Doch woher kommt die Zustimmung zu ihrem Kurs und wie lange mag diese anhalten?
Nachhaltiger Erfolg?
Zurück zu den möglichen Erklärungsmustern für den potentiell guten Stand der Bündnisgrünen in Angesicht der bevorstehenden Wahlen des Jahres 2011. Sie sind derzeit eine Wohlftihlpartei, in dem Sinne, dass sie wesentliche sozialpolitische Konflikte, die bei der SPD zu Wählerabwanderungen geführt hat, nach wie vor in der Schwebe hält. Zugleich gleiten sie auf einer bereits länger anhaltenden Welle eines ökologisch orientierten Wertewandels, der mittlerweile weite Teile der Gesellschaft erfasst hat. Für eine höhere Akzeptanz der Partei sorgte auch ihre Fähigkeit, den Wertewandel in praktische Politik umzusetzen, durch Steuerungsmaßnahmen in Industrie und Energie den Ökotrend zu verstärken.
Womöglich sind dies Faktoren, die den Grünen Wähler zuströmen lassen, die sie ursprünglich nicht hatten, Wohlfühlwähler, aber auch, seit den Streitigkeiten um Stuttgart , modernisierungskritische Protestwähler, in Teilen neue Kohorten des kreativen Wertewandels und letztlich eine erhebliche Zahl an Wählern anderer Parteien, die inzwischen schlicht von der Notwendigkeit grüner Politik überzeugt sind, auch weil viele der alten Gewissheiten des Börsenbooms unlängst hinfällig geworden sind. Die Grünen könnten, nach dem Ende der „trente glorieuses” (Hobsbawm) in der Ölkrise Ende der 70er Jahre, ein zweites Mal in ihrer Geschichte Profiteure überholten Planungs- und Wachstumsdenkens sein, weil sie eine Antwort auf die zerstörerische Wachstumslogik der Märkte bieten. Eine solche Logik ließe die vorn grünen Programmatiker Peter Siller ausgerufene Progressivität grüner Politik indes in einem ganz anderen Licht erscheinen. Inspiziert man die Mittel- und Oberschichten der Gesellschaft und fragt nach ihren Einstellungen zu Umweltpolitik und nachhaltigem Handeln, so zeigt sich, dass sich der Zynismus gegenüber der Umwelt nirgendwo so stark manifestiert, wie in diesen Teilbereichen der deutschen Gesellschaft. Hier wird der supranationalen Verantwortung für die Umweltpolitik das Wort geredet, um sich selbst der Verantwortlichkeit zu entziehen.[29]
Nicht die Anpassung der Grünen an die aktuelle Politik, sondern die Verortung der Grünen als Mystiker des entschleunigten Lebens, jenseits von Wirtschafts-, Finanz- und Ökokrise, entfalten hier ihren Reiz für jene, die dem konservativen Re-grounding[30] entwachsen, dem liberalen Projekt entfremdet sind.
Nicht zufällig jedenfalls ging der neue Aufschwung der Grünen im Sommer 2010 mit kaum mehr zu leugnenden Naturkatastrophen einher. Der Golf von Mexiko schien plötzlich so nah, wie auch die Feuer in den atomar verseuchten Wäldern um Tschernobyl und am Rande des Ural. Die Verteidigung des Bestehenden war die allseits akzeptierte Maxime, die in den Protesten in Stuttgart ebenso zu tragen kam wie bei den neuerlichen Protesten gegen Castor-Transporte. Dieser konservative Impuls wurde verstärkt durch Erfahrung einer dreifachen Krise, die der Banken, die des Euro und die der Ökologie. In diesen Bedrohungsszenarien mag auch eine der Ursachen für die Wiederzunahme der Teilnehmerzahlen an Anti-AKW-Demos, insbesondere bei jüngeren Menschen, liegen.[31] Die Welt, in der sie groß geworden sind, die Welt von Börse, Effizienz, Selbstoptimierung und Krise, soll nicht die ihre werden, die der Eltern in Brokdorf scheint um so vieles entspannter. Was politisch aus einer solchen grünen Rückbesinnung folgen wird, linker crossover oder doch eher schwarz-grün,[32] hängt wohl auch davon ab, in wieweit die Grünen auch in Regierungsverantwortung in der Lage sind, die Erfordernisse einer umfassenden Nachhaltigkeitspolitik inklusive ihrer sozialen Folgen mit Wegen aus einem krisenanfälligen Finanzkapitalismus und der Krise der Staatsfinanzen zu einer kohärenten Politik zu bündeln.
[1] Unter Wechselstrom – ein Jahr Schwarz-Gelb. Meinungsforscher Güllner im Gespräch, in: sueddeutsche.de, 27.10.2010 [online abrufbar unter: httpJlwww.sueddeurtsche.de/politil[2] Klaus-Peter Sel2öppnerT Die „Aktie Grün” ist überhitzt wie nie, in: Hamburger Abendblatt, 19.11.2010.
3 Vgl. Järg Schönenborn: Wie stark sind die Grünen wirklich?, in: tagesschau.de, 4.11.2010 [online abrufbar unter: http:!/blog.tagesschau.de/?p=8405].
[4] Franz Walter: Grün ist das neue Schwarz, in: Spiegel online, 7.10.2010 [online abrufbar unter: httpa/www.spiegel.delpolitikldeutsch]and10,1518,721664,00.htm1].
[5] Oliver Hoischen: Wie grün ist das denn, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.11.2010.
[6] Ulf Posclzcrdt, Die Wohlfühlpaitei, in: Die Welt, 21.8.2010.
[7] Gordon Repinski /Ralph Bollrraann, Interview mit Sigmar Gabriel, in: die tageszeitung, 11.8.2010.
[8] Vgl. zu diesem tief sitzenden Gegensatz: Peter Siller, Veränderung und Orientierung. Die Grünen im Fünfparteiensystem, in: httpa/www.boell.de/downloads/demokratie/Sillergr•ueneSparteien system.pdf, Zitat ebd.; inzwischen etwas moderater, ders. : Vowärts, und nicht vergessen. Warum emanzipatorische Politik einen neuen Fortschrittsbegriff braucht, in: Polar. Politik, Theorie, Alltag, Nr. 9, S. 23-28.
[9] Vgl, etwa die heftige Polemik in der Welt: Matthias Kamann: Anschlag auf die Mitte. Die Grünen entwickeln sich immer mehr zur Enteignungspartei, Die Welt, 22.11.2010.
[10] Vgl. Franz Walter, Gelb oder Grün. Kleine Parteiengschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010, 5,110ff.
[11] Lifestyles of Health and Sustainability, etwa: Ausrichtung der Lebensweise auf Gesundheit und Nachhaltigkeit
132 vorgänge Heft 4/2010, S. 125-132
[12] Vgl. ACNielsen, Was die ökologische Avantgarde wirklich kauft. [online abrufbar unter: http://de.nielsen.conilnews/pr20080529.shtml].
[13] Vgl. bereits Michael Wildt, Konsumbürger. Das Politische als Optionsfreiheit und Distinktion, in:
Manfred Hettling/Ber°nd Ulrich (Hrsg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 255-283.
[14] Vgl. Sebastian Haupt, Warum es schick ist, die Welt zu retten, in: Zeit online, 22.6.20 10 [online ab-
rufbar unter http://www.zeit.de/wissen/umwelt/2010-06/umwelt-psychologie-status].
[15] Vgl. Lngolfzer Blühdorn, Nachhaltigkeit und postdemokratische Wende. Zum Wechselspiel von
Demokratiekrise und Umweltkrise, in: Vorgänge 190 (2/2010), S. 44-54.
[16] Ingolfirr Blühdorn, „Billig will Ich: Post-demokratische Revolution und Simulative Demokratie”,
in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Nr. 4/2006, S. 75 u. 81.
[17] Vgl. Torsten. Krauel: Wir ringen um ähnliche Wähler“; Armin Laschet, Kandidat für den Landesvorsitz der CDU Nordrhein-Westfalens, über das Verhältnis von Schwarz und Grün, in: Welt am Sonntag, 15.8.2010; die heftigen Angriffe Merkels auf dem CDU-Parteitag 2010 gegenüber den Grünen unterstreichen dies.
[18]Vgl. hierzu Silier, (Anm. 4), S. 3f.
[19] Vgl. Paul H. Ray / Sherry R. Anderson, The Cultural Creatives. How 50 million people are changing the world, New York 2000.
[20] Katharina Rahlf; Entschieden unentschieden, Das „Sowohl-als-auch-vielleicht“ der Postmateriellen, in: Alexander Hensel / Daniela Kallinich / dies. (Hrsg.): Parteien, Demokratie und gesellschaftliche Kritik. Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2010, Stuttgart 2011, S. 67-69.
[21] Vgl. ingolfur Blühdorn, Reinventing Green Politics. On The Strategie Repositioning of the German Green Party, in: German Politics, 18. Jg., H. 1, März 2009, S. 36-54
[22] Quelle: ARD-Deutschlandtrend Juli 2010, online abrufbar unter: http://www.infratest-dimap.de/ umfragen-analysen/bundesweit/.
[23] bereits Franz Walter .• LoHas-Politik. Grüne Scharnierpartei der neuen Bürgerlichkeit, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 57. Jg. (2010), H. 4, S. 31 ff.
[24] Vgl. die Ergebnisse einer Untersuchung des Göttinger Instituts für Demokratieforschung im Rahmen der Proteste von Stuttgart 21, zur Auswertung: Franz Walter: Aufstand der Generation Joschka, in: Spiegel online, 19.11.2010 [online abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518, 729896,00.html].
[25] Auch programmatisch erfolgt ein sukzessive Distanz zu alten Fehlern, vgl. etwa zur Selbstkritik an der rot-grünen Ära, Siller: Vowärts, und nicht vergessen (Anm.8), S. 23.
[26] Vgl. Bliihdorn, (Anm. 21), S. 49.
[27] Vgl. Florian Gathmann / Veit Medick: Trittin warnt vor rot-grünen Machtträumen, in: Spiegel online, 6.8.2010, [online abrufbar unter www.spiegel.de/politilc/deutsch]and/0,1518,710298,OO.html].
[28] Vgl. Matthias Kanzann, „Eine deutliche grüne Handschrift”; Parteichef Cem Özdemir über die Zukunftschancen von Hamburgs ICoalition – und Fehler der GAL in der Bildungspolitik, in: Die Welt, 20.8.2010.
[29] Vgl. die Zusammenfassung der Ergebnisse des Sinus Forschungsprojekt „Milieusensible Umweltpolitik“ im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Franz Walter; Deutsche schieben Öko-Frust, in Spiegel online, 13.7.2009, [online abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,635831,OO.html]
[30] Vgl. Sinus Sociovision (Hrsg.), Trendreport Teil 1. Die aktuellen Linien der soziokulturellen Entwicklung, Heidelberg 2008, S. 85ff.
[31] Die Jugendforscher der shell-Jugendstudie 2010 erwarten eine allmähliche Wiederkehr des Politi-
schen, weniger im Interesse an der Politik, als vielmehr in Form politisierten Protests, vgl. Michael
Schlieben, Die Jugend wird wieder politischer. Klaus Hurrelmann, Leiter der neuen Shell-Studie,
spricht im Interview über die Jugend in der Kiise, in: Zeit online, 17.3.2010, [online abrufbar unter:
http://www.zeit,de/gesellschaft/generationen/2009 -1 2/interview-hurrelmann-shell-studie-20 10].
[32] Vgl. zur grünen Multioptionalität jüngst auch Joachim Raschlce, Die Grünen zwischen Lagerbin-
dung und Koalitionsoptionen, in: Vorgänge, 49. Jg., H. 2, S. 112-122.