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Die vierte Gewalt

aus: vorgänge Nr. 192, Heft 4/2010, S. 16-22

Die Thematisierung der Mediendemokratie unter dem Gesichtspunkt „Strukturwandel 2.0” wirft die Frage auf, wie sehr demokratische Ansprüche noch als eingelöst gelten können, wenn wir es mit Massenmedien zu tun haben, inwieweit diese also ihrer Rolle als „vierte Gewalt” noch gerecht werden. Das Stichwort von der „vierten Gewalt” ist nicht zuletzt deswegen aufschlussreich, weil dabei der Verweis auf drei andere Gewalten immer mitläuft, auf die Legislative, die Judikative und nicht zuletzt die Exekutive.

Montesquieu sprach im 18. Jahrhundert im Rahmen seiner Lehre von der politischen Gewaltenteilung erstmals von den drei Gewalten. Der Artikel 20 unseres Grundgesetzes unterstreicht ihren Verfassungsrang. Die vierte Gewalt hingegen, die öffentliche Meinung oder die Massenmedien, werden im Grundgesetz nur im Artikel 5 erwähnt, nämlich dort, wo von der Freiheit der Presse die Rede ist. Die Medien sind frei, müssen sich ihre Rolle selbst suchen, die anderen drei Gewalten sind bereits definiert und haben ihren verfassungsmäßig verankerten Status.

Ich will mit einer Überlegung dazu beginnen, was unter „Demokratie” zu verstehen sei. Der Althistoriker Christian Meier schrieb 1980 in seinem Buch Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, die Griechen hätten die Demokratie eingeführt, weil sie entdeckt hätten, dass Demokratie die Antwort auf die Frage ist, wie es der Politik gelingen kann, auch die Herrschaft selbst zum Gegenstand von Politik zu machen. Politik war bis dahin die Politik von Herrschern, die von einem Publikum, von den Bürgern, von einem Stamm, von einer Gesellschaft akzeptiert werden mussten. Herrschaft war Ausübung asymmetrischer Macht der einen über die anderen. In einer Demokratie, einer „Volksherrschaft”, wird jedoch auch die Frage „Wer herrscht?” zum Gegenstand von Politik. Politik wird zirkulär und Herrschaftsausübung symmetrisch, weil sich die Herrscher in ihrer Herrschaft vom Volk einsetzen und bestätigen beziehungsweise abwählen lassen müssen.

Mit dem Blick auf dieses Demokratieverständnis, das nichts mit einer direkten Herrschaft des Volks über das Volk zu tun hat, sondern die Herrschaft der Machthaber über das Volk unter die Bedingungen der Akzeptanz dieser Herrschaft durch das Volk setzt, diese Herrschaft also konditioniert, können wir jetzt genauer fragen, welche Rolle die öffentliche Meinung und die Massenmedien bei dieser Konditionierung der Politik spielen. Welche Rolle können die Medien dabei spielen, wie die Politik sich auf ihre eigenen Bedingungen bezieht? Und umgekehrt: In welchem Verhältnis zueinander stehen die erste, zweite und dritte Gewalt auf der einen Seite und die vierte Gewalt auf der anderen Seite, wenn es darum geht, wer in dieser Gesellschaft über diese Gesellschaft Macht hat und Herrschaft ausübt? Man sieht der Fragestellung an, dass wir es mit verwickelten Verhältnissen zu tun bekommen, die sich mit den allzu einfachen Begriffen der Emanzipation der Bürger, der Artikulation ihrer Interessen und der Durchsetzung ihrer Politikideen sicher nicht fassen lassen werden. Die Massenmedien bekommen in dieser Formulierung eine wichtige Rolle, aber eine Rolle unter anderen ebenso wichtigen Rollen.

Die heutige Gesellschaft unterscheidet sich von der griechischen Gesellschaft, von der Polis. Kann man überhaupt noch von einer Demokratie reden, wenn die Öffentlichkeit der Bürger mithilfe von Buchdruck, der Rotationspresse und inzwischen des Computers und des Internets massenmedial betreut wird und nicht mehr nur das mehr oder minder offene und streitende Wort auf der Agora den Ausschlag gibt? Ist es immer noch. das Volk, das herrscht, und nicht vielmehr ein oft diffuser Raum der Selbstverstärkung von Stimmungen und Meinungen, der auf ein Gespräch der Bürger schon lange nicht mehr heruntergerechnet werden kann? Ziehen nicht mächtige Differenzen wie die der Ideologie, der Einkommensklasse, der Nation oder der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit ihre Spuren in diesem Raum, der von den Redaktionen von Zeitung, Rundfunk und Fernsehen, von Kampagnenplanern, Bloggern und Protestbewegungen bespielt wird, ohne dass irgend jemand sagen könnte, nach welchen Regeln hier gespielt wird?

Wenn man sich an die Definition von Christian Meier hält, hat man es auch heute noch mit einer Demokratie im griechischen Sinne zu tun. Denn obwohl der gesellschaftliche Kontext ein in vielen Hinsichten anderer ist, handelt es sich bei der Demokratie nach wie vor um die Regelung der Frage, wer herrscht. Die Regelung selbst jedoch sieht anders aus, sie stellt entsprechend der Komplexität der Gesellschaft Versorgungsbedürfnisse der Bürger (Wohlfahrtsgesellschaft), Interessenlagen von Industrie und Gewerkschaften (soziale Marktwirtschaft), Fragen der internationalen Verflechtung (Europäische Union, Globalisierung) und nicht zuletzt demographische Positionen (Migration) in Rechnung, aber nach wie vor müssen sich die Machthaber zur Wahl stellen. Und nach wie vor entscheidet sich die Frage der Demokratie darin, ob diese Wahl frei, geheim und allgemein ist oder nicht. Demokratie ist jenes politische System, in dem die Machthaber nicht wissen, ob sie wiedergewählt werden oder nicht, und auch die Opposition nicht weiß, ob sie schon bald beim Wort genommen wird oder nicht; und dieses doppelte Nichtwissen zähmt die politischen Absichten und zwingt die Politiker, auf eine Bevölkerung Rücksicht zu nehmen, die jederzeit zu den besseren Argumenten, Stimmungen und Auftritten der Konkurrenten überlaufen kann.

Ich möchte einige Stichworte nennen, unter denen die Rolle der Öffentlichkeit und der Massenmedien gegenwärtig behandelt wird, und dann wieder auf die Frage zurückkommen, welche „Gewalt” sie möglicherweise ausüben.

Erstes Stichwort: Kulturindustrie. Adorno und Horkheimer behaupten in ihrem Buch Die Dialektik der Aufklärung im Kapitel über die Kulturindustrie: „Das Geheimnis ist gelöst.” Welches Geheimnis ist gelöst? Das Geheimnis, worin der von Kant postulierte Schematismus besteht, der es den Subjekten ermöglicht, sich ihre Welt zu konstruieren. Kant glaubte, es handele sich dabei um transzendent verankerte Konzepte wie die des Raums und der Zeit. Adorno und Horkheimer entdecken, dass dieser Schematismus die Kulturindustrie selber ist. Sie produziert die allgemeinen Kategorien der Sichtbarkeit und Begreifbarkeit, der Moral und der Kritik, des Glücks und Unglücks sowie die dazu passenden Bilder, mit deren Hilfe die Subjekte ihre Welt konstruieren. Damit ist der Verdacht auf den Punkt gebracht. „Kulturindustrie” heißt, dass diese Welt der Subjekte mithilfe industrieller Verfahren (rationalisierte Massenproduktion) und mithilfe industrieller Interessen (Gewinnsteigerung) hergestellt wird und zwar so hergestellt wird, dass genau die Bedürfnisse geweckt und bestätigt werden, die von dieser Industrie auch gedeckt werden können.

Das Werk von Walter Benjamin, vor allem das Passagenwerk, aber auch der Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit” ist in diesem Zusammenhang zu nennen, weil er einen ganz ähnlichen Verdacht nicht nur kulturkritisch ausbeutet, sondern eher wissenschaftlich fruchtbar zu machen versucht. Wenn der Verdacht zutrifft, so Benjamin, sollten wir uns diese Schemata genauer ansehen und sollten wir beschreiben, welche industriell zu befriedigenden Sehnsüchte in Kaffeetassen, Groschenheften, Passagenarchitekturen (heute: Shopping Malls), Kleidermoden und Lebensmittelvorlieben investiert sind. So kann man die „Phantasmagorie des Kapitalismus” (Benjamin) lesbar machen, die „Mythen des Alltags” (Roland Barthes) beschreiben und besser verstehen, aus welchem Stoff wir, die Subjekte dieser Welt gemacht sind.

Aber ein zweites Stichwort kommt hinzu: der Schweigebefehl. Es stammt von dem Verfassungshistoriker und Rechtslehrer Carl Schmitt. Er hat zum Beispiel in seinem im Gefängnis der Alliierten geschriebenen kleinen Buch Ex Captivitate Salus: Erfahrungen der Zeit 1945/47 herausgestellt, dass die moderne Gesellschaft das Produkt einer Sequenz von Schweigebefehlen ist. Zuerst haben die Theologen in ihren großen monotheistischen Religionen die Magier zum Schweigen gebracht. Dann haben die Juristen anlässlich der von den Theologen nicht verhinderten religiösen Bürgerkriege der frühen Neuzeit die Theologen zum Schweigen gebracht. Ab jetzt hieß es nicht mehr: „Wer glaubt an welchen Gott?”, sondern politisch legitim „Auf welche Verfassung willst du dich berufen?” Im 20. Jahrhundert schließlich werden die Juristen, so vermutete Schmitt nicht zuletzt mit Blick auf sein eigenes Schicksal, von den Ingenieuren zum Schweigen gebracht. Es begann das Zeitalter der Technokratie, das in den 1960er Jahren von den Moralisten, seit den 1990er Jahren von den Betriebswirten und gegenwärtig von den Gehirnforschern beerbt wird.

Wir haben es mit einer Sequenz von Schweigebefehlen zu tun, die jeweils die Sprache und die Fragen und Antworten der einen verbieten und eine Sprache und die Fragen und Antworten der anderen an deren Stelle setzen. Diese Schweigebefehle strukturieren die öffentliche Meinung, definieren Agenden, schreiben fest, welche Erwartungen legitim sind und welche Rücksichten zu nehmen sind, kurz: sie definieren, was jeweils als politisch korrekt gilt und was nicht. Sie definieren den gesellschaftlichen Rahmen der öffentlichen Meinung und erlauben uns daher noch einmal eine andere Formulierung des Verdachts, dass die öffentliche Meinung immer selektiv ist, das heißt, das eine ausschließt und das andere einschließt. Sie hat eine Schlagseite.

Und ein drittes Stichwort kommt hinzu: das Internet. Das Internet, die Vernetzung der Computer mit vielfältigen Nutzerbedürfnissen auf der einen Seite und gigantischen Datenspeichern auf der anderen Seite ist nicht nur ein neues Informationsmedium erster Güte, das jeden Experten in die Flucht zu schlagen vermag, sondern es ist vor allem eine enorme Beschleunigungsmaschine, die eine grundsätzliche Differenz zwischen einem schnell mobilisierbaren Protest auf der einen Seite und den nach wie vor langsamen, weil rechtsstaatlich kontrollierten politischen Entscheidungsverfahren auf der anderen Seite auftreten lässt. Diese Differenz ist strukturell nicht mit jener altbekannten zwischen Straße auf der einen Seite und Parlament und Behörden auf der anderen Seite identisch, weil die relativ leicht mit dem Schema der Legitimität unter Kontrolle geha1ten werden konnte. Der Protest heute lässt sich so leicht nicht auf Abstand halten, eben weil er gut informiert auftritt und den einst auf der Expertenseite für sich gepachteten Sachverstand durchaus auf seiner Seite haben kann.

Wir können diese Stichworte der Kulturindustrie, der Schweigebefehle und des Internets dahingehend verallgemeinern, dass die~ Öffentlichkeit, über die wir hier reden, ein gewisse Vorentschiedenheit aufweist, die vermutlich wenig mit industriellen Interessen, sondern sehr viel mehr mit gesellschaftlichen Balancen und mit mobilisierbaren Empfindlichkeiten zu tun hat. Es geht jetzt nicht mehr nur um Fragen der Herrschaft oder des Interesses sondern vielmehr um Fragen der „Agenda”, wie die Zeitungswissenschaftler sagen, das heißt um die Frage, welches Thema welche Adressaten wie lange gegen wen aufbringen und interessieren kann. Diese Fragen der Agenda sind in ihrer volatilen, fluktuierenden Qualität, das heißt in ihrer Sprunghaftigkeit und ihrer Flüchtigkeit durchaus mit Fragen der Herrschaft und des Interesses gekoppelt, doch diese Kopplung ist locker und so störanfällig, dass sich niemand egal auf welcher Seite auf der sicheren Seite wähnen kann.

Wie kann unter dem Gesichtspunkt dieser Stichworte Öffentlichkeit und ihr Strukturwandel heute verstanden werden? Offensichtlich haben wir es nicht mehr mit den freien Bürgern zu tun, die auf der Agora der Polis ihre Meinung vertreten und dabei verschweigen, wie sie zuhause, in ihren Häusern (oikoi) über ihre Frauen, Kinder, ihr Gesinde und ihre Tiere herrschen. Das war ja Gegenstand der „Ökonomie” und nicht der „Politik”. Mit der antagonistischen Auseinandersetzung um die richtige Meinung haben wir es nur noch in der Inszenierung durch die Talkshow im Fernsehen zu tun, in der es jedoch weniger um die Meinung selbst als vielmehr um die Profilierung wieder erkennbarer Persönlichkeiten geht die um Vertrauen werben; weil die Sachverhalte zu undurchschaubar geworden sind. Schon eher haben wir es heute mit den „Produktionsöffentlichkeiten” zu tun, die Alexander Kluge und Oskar Negt 1972 in ihrem Buch Öffentlichkeit und Erfahrung beschrieben haben. Öffentlichkeit bezieht sich hier nicht mehr nur auf Politik und Herrschaft, sondern auf alles, was kommentierbar ist, auf die Gesellschaft insgesamt. Sie wird jetzt, zumindest in ihrer Selbststilisierung, zur unerschrockenen Suche nach Schweigebefehlen, um Wirklichkeiten zu „artikulieren”, von denen man bisher nichts wusste. Sie bezieht sich auf „Produkte”, weil sich in diesen immer zwei Seiten zugleich artikulieren, ein Produzent und ein Konsument, ein Darsteller und ein Publikum. Die daraus entstehende Öffentlichkeit ist hochgradig differenziert. Sie bildet hunderte von „Märkten” für Produkte, Ideen und Leute. Das wäre auch heute noch zu beschreiben, wenn man verstehen will, was es mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit auf sich hat. Öffentlichkeit bleibt damit eine durchaus kritische Vokabel. Aber sie bezieht sich nicht mehr nur auf die Politik, sondern auf die Gesellschaft insgesamt. Vielleicht liegt darin, von der Politik, der Herrschaft und ihrer Gewalt auch absehen zu können, sogar einer ihrer wichtigsten emanzipativen Impulse, wenn man einmal davon ausgeht, dass eine Gesellschaft ein Interesse daran haben muss, der Definition von Agenden durch die Politik andere Agenden entgegensetzen zu können, Agenden der Wirtschaft; Agenden der Kunst, Agenden der Religion, Agenden der Wissenschaft, Agenden der Erziehung. Hier „Öffentlichkeiten” zu schaffen und aufzusuchen, heißt, der Politik weder das erste noch das letzte Wort zu überlassen.

Um sich nun wieder der Frage der „vierten Gewalt” zu nähern, führe ich ein viertes Stichwort ein, nach der Kulturindustrie, den Schweigebefehlen und dem Internet: das Publikum. Jean Baudrillard hat die Massenmedien 1972 in seiner Politischen Ökonomie des Zeichens als eine Form der „Kommunikation“ beschrieben, die keine Antwort erlaubt, also als Einwegkanal der Kommunikation als eine technische Form eines Schweigebefehls. Das wurde eine für viele Autoren bis heute maßgebende Beschreibung. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob die Beschreibung zutrifft. Ich kann mir die Massenmedien nicht vorstellen, ohne ihrem Publikum eine Komplementärrolle zuzuschreiben. Mit anderen Worten, in der Kommunikation der Massenmedien, den Zeitungsartikeln, Rundfunksendungen, Fernsehsendungen, Online-Websites und Blogs hat das Publikum nicht nur eine „Empfängerrolle”, sondern auch eine „Senderrolle”. Das Publikum sendet die Bereitschaft zum Empfang; und es sendet sie nicht nur, es dokumentiert sie auch durch „Kommentare” aller Art, wie man sie zumindest im Internet leicht hinterlassen kann. Das mag keine inhaltlich sehr ausgeprägte Rolle sein, aber ohne sie funktionieren weder die Massenmedien noch die von ihnen hergestellte Öffentlichkeit. Es handelt sich um eine strukturell notwendige Empfängersenderrolle, von der jedoch in der Regel abgesehen wird, weil alles Interesse nicht zuletzt der Massenmedien, durchaus eigen interessiert, den Sendungen der Redaktionen gilt. Erst Georg Franck hat mit seinem Buch Ökonomie der Aufmerksamkeit: Ein Entwurf aus dem Jahr 1998 mit dem Mythos gebrochen, jeder Bürger und jeder Konsument wurde sich grundsätzlich für alles interessieren; tatsächlich ist der Aufmerksamkeitsfaktor einer der knappsten Faktoren überhaupt und es läuft daher jede noch so interessante Nachricht, jeder noch so aufsehenerregende Skandal jederzeit Gefahr, von irgendeiner anderen Nachricht, einem anderen Skandal in den Hintergrund gedrängt zu werden.

Die Kommunikation der Redaktionen mit dem Zeitungsleser, dem Rundfunkhörer, dem Fernsehzuschauer und dem Internetbenutzer ist, wie die Soziologen sagen, „interaktionsfrei”. Es gibt keine direkte Kommunikation zwischen den Redaktionen und den Lesern, Hörern und Zuschauern, so sehr Leserbriefe, Höreranrufe und Studiopublika dies zuweilen suggerieren. Aber es gibt eine indirekte Kommunikation, die deswegen, weil sie indirekt ist, nicht etwa zu vernachlässigen ist. Im Guten und im Schlechten definiert sie die Sensibilität und Sensitivität der Massenmedien. Denn wie kommt sie zum Ausdruck? Dadurch, dass der Zeitungsleser seine Zeitung, der Rundfunkhörer seinen Sender, der Fernsehzuschauer seinen Kanal und der Internetbenutzer sein Lieblingsportal wechseln kann, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass ganze Medien an Bedeutung verlieren und andere dafür an Bedeutung gewinnen (was bisher jedoch interessanterweise kaum der Fall ist). Was also kann jede einzelne Redaktion tun, um Leser, Hörer, Zuschauer und Benutzer zu binden? Strukturell nichts.

Unser Gerede von der Manipulation der öffentlichen Meinung durch die Massenmedien erscheint vor diesem Hintergrund wie eine Art Stoßgebet, auf dass es den Produzenten der öffentlichen Meinung doch gelingen möge, ihr Publikum zu erreichen. Tatsächlich jedoch verschwindet alles, was diese Produzenten produzieren, in jenem Schatten der schweigenden Mehrheiten, von denen Baudrillard in einem wunderbaren Essay 1978 (dt. 2010) ebenfalls gesprochen hat. Wir wären froh, wenn wir wüssten, dass und wie die „Manipulation” funktioniert . Wir wären froh, wenn wir wüssten, dass und wie hier tatsächlich jemand die „Hände” im Spiel hat. Statt dessen jedoch haben es . die Massenmedien mit einem Publikum zu tun, das nicht zu kontrollieren ist, so sehr ihnen auch die Gehirnforschung unter die Arme zu greifen versucht. Denn was ist bis heute die eigentlich stabile Botschaft der Gehirnforschung? Genau: Wir suchen nach dem, was uns immer schon gefallen hat Und: Wir wissen, wie leicht wir zu verführen sind. Das heißt, Wir schlagen Haken, produzieren Ambivalenzen, lassen uns nicht erwischen.

Der amerikanische Soziologe und Netzwerktheoretiker Harrison C. White hat Publika als „network switches” bezeichnet; als Schaltermechanismen innerhalb eines Netzwerkes von Produktionen  Meinungen, Interessen und Konsequenzen, die ein Thema mit einem anderen Thema, einen Autor mit einem anderen Autor, ein Bild mit einem anderen Bild verknüpfen, ohne dass die Art und Weise der Verknüpfung von irgendjemandem festgelegt werden kann. Jeder versucht das, keine Frage, und manchen gelingt es besser als anderen, aber strukturell und prinzipiell ist die Offenheit der Verknüpfung in jedem Moment wieder neu gegeben und ein Publikum, weil es „nur” Publikum ist, frei in der Wahl der Verknüpfung. Zeitungsleser springen zwischen den Artikeln, Fernsehzuschauer zappen, Internetbenutzer surfen: Mit dem Blick auf diese Publika ist die Öffentlichkeit daher strukturell nichts anderes als die Möglichkeit des Themenwechsels, die Möglichkeit des Auftauchens und Wiedervergessens von Meinungen, die Möglichkeit, Autoren ernst zu nehmen und wieder aus den Augen zu verlieren, die Möglichkeit, sich für ,Ereignisse zu begeistern und sie alsbald langweilig zu finden. Das eine, die Festlegung auf eine Meinung, gibt es nicht ohne das andere, den Wechsel der Meinung. Das ist Öffentlichkeit. Und das ist sie nicht dank der wunderbaren Flexibilität der Redaktionen, sondern dank der bemerkenswerten Beweglichkeit der Publika.

Massenmedien garantieren den Wechsel der Themen inklusive des Wechsels der Tonfälle, in denen über Themen berichtet wird. Was der eine ernst nimmt, kann der andere karikieren. Was den einen amüsiert, ist für den anderen unwiderlegbares Zeugnis der Dekadenz. Wer für den einen prominent ist, ist für den anderen eine bloße Spielfigur. Die Massenmedien bewegen sich in diesem turbulenten Feld des Themen-, Tonfall-, und Meinungswechsels. Sie tun es nach eigenen Kriterien, sie tun es unter scharfer Beobachtung ihrer eigenen Marktseite, das heißt ihrer Konkurrenten im selben Medium und in Nachbarmedien (jede Redaktion fragt sich laufend, mit welchen Angeboten andere Redaktionen welche Erfolge und Misserfolge beim Publikum haben), und sie tun es mit einer ständig hochgradig irritierbaren Aufmerksamkeit für das, was die letztlich auch dann, wenn sie „geschwätzig” werden, „schweigenden” Mehrheiten für interessant halten und was nicht. Denn „Schweigen” heißt, sich nicht festzulegen; und „Geschwätz” heiß dies niemanden merken zu lassen.

Ich möchte vorschlagen, diese Beweglichkeit, Lebendigkeit, Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit für das Kennzeichen der vierten Gewalt zu halten. Die Öffentlichkeit der Massenmedien produziert eine ganz bestimmte Unbestimmtheit von Meinungen, inklusive von Meinungen darüber, welche Politik dieser Gesellschaft angemessen ist. Gewalt liegt darin, dass die Themen, Meinungen und Akteure unerbittlich fallen gelassen werden, wenn ihre Zeit gekommen ist. Gewalt liegt aber auch darin, dass jederzeit ein neues Thema, eine neue Meinung, ein neuer Akteur beginnen kann, eine Rolle zu spielen, die eingespielte Meinungen und Institutionen in schwere Bedrängnis bringen kann. Gewalt ist dies aber auch insofern, als sie als konkurrierende Meinung, konkurrierendes Thema und konkurrierende Darstellungsform selbst diejenigen im Griff hat, die glauben, sie auszuüben.

Aber genau diese Gewalt garantiert auch, dass diese Gesellschaft sich in keinem Thema, keiner Meinung, keinem Bild verfangen kann, denn laufend ist jemand schon wieder dabei, den Tonfall zu wechseln. Man hat den Eindruck diese Gesellschaft sei hochgradig instabil. In Wirklichkeit ist es diese Instabilität, die ihr Stabilität verleiht.

Massenmedien produzieren Unbestimmtheit, und diese Unbestimmtheit stellen sie allen anderen Systemen der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Religion und so weiter, zur Verfügung. Die Erosion dessen, was wir genau deswegen unter den Titel der „Vernunft“, des „Fortschritts” oder auch der „Kultur“ feiern, ist dabei unvermeidlich. Feste Substanzen, das Wesen der Dinge, die Richtigkeit der Meinung kann sich unter diesen Umständen nicht bewähren :;Aber statt dessen gewinnt die Gesellschaft in der Unbeständigkeit ihrer Aufmerksamkeit ein Fundament, auf das sie sich verlassen kann und das sie vielleicht hinreichend irritierbar macht für das, was sie in ihrer Umwelt und in sich selbst laufend anrichtet.

* Der Beitrag ist die aktualisierte und überarbeitete Fassung eines Vortrages, der auf der Tagung „Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0: Mediendemokratie = Medien + Demokratie?” des Adolf-Grimme-Instituts in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung am I. Dezember 2003 gehalten wurde.

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