Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 192: Wandel der Öffentlichkeit

abgeord­ne­ten­watch.de

Die Stärkung der repräsentativen Demokratie durch das Internet

aus: Vorgänge 192 ( Heft 4/2010), S.75-84

Ausgehend von dieser Idee schufen die Gründer des Projekts die Internetplattform www.abgeordnetenwatch,de, die öffentliche Bürgerfragen an Abgeordnete ermöglicht und das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten dokumentiert. Diese Initiative kommt aus der Zivilgesellschaft, ist überparteilich, unabhängig und hat mit den Parlamenten und ihren Internetbemühungen (z. B. www.bundestag.de) nichts zu tun. Im Kern geht es darum, Zugang zu Abgeordneten (in Wahlzeiten auch zu Kandidaten) zu organisieren und den Bürger (bzw, die Bürgerin) zu ermutigen, Parlamentariern Fragen zu ihrer Arbeit zu stellen. Da die meisten Bürger nicht einmal wissen, wer ihr Abgeordneter ist, wurden Suchfunktionen eingebaut. Außerdem ist jeder Parlamentarier mit einer eigenen Profilseite vertreten, auf der Standarddaten zu seiner Tätigkeit, seinem Abstimmungsverhalten und teilweise seinen Nebeneinkünften aufgeführt sind. Da auch alle Fragen und Antworten dokumentiert werden, entsteht ein Archiv mit inzwischen über 100.000 Einträgen, das zu einer Art „Wählergedächtnis”, wird (abgeordnetenwatch.de 2010: 11).

Entstehung

Die Anfänge liegen im Jahr 2004, als abgeordnetenwatch.de aus einer ehrenamtlichen Initiative der beiden Begründer, dem Politologen Gregor Hackmack und dem Informatiker Boris Hekele, entstand. Auslöser war die Einführung eines stark personalisierten Verhältniswahlrechts in der Hansestadt als Folge eines Volksentscheids. Für den wahlinteressierten Bürger führte das zu dem Problem, dass er die nun zahlreicher antreten-den Kandidaten auf den Listen nicht kannte. Die Gründer von abgeordnetenwatch.de wollten mit Hilfe des Internets eine Brücke zwischen Wähler und Kandidaten schlagen. Die seinerzeitigen Änderungen des Wahlrechts (später von der CDU zurückgenommen) gingen auf Aktionen des überparteilichen und gemeinnützigen Vereins Mehr Demokratie e. V zurück, der sich für zusätzliche Elemente von direkter Demokratie einsetzt. Bis heute bestehen personelle und organisatorische Querverbindungen zu diesem Verein (www.mehr-demokratie.de).

Als Vorbild für ihre Initiative geben die Gründer das Projekt Votesmart aus den USA (www.votesmart.org) an, gehen mit ihrer Webseite jedoch einen entscheidenden Schritt weiter (vgl. Wilhelm, 2009: 48). Webseiten wie Votesmart bieten den Bürgern in erste Linie so genannte Scorecards, d.h. sie beschränken sich – auch bedingt durch das politische System – darauf, das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten zu dokumentieren. Scorecards sind in den USA sehr verbreitet und werden von vielen, auch Single-Issue-Organisationen genutzt, um Bürger zu mobilisieren, ihren Abgeordneten zu schreiben (vgl. Voss 2006: 71).

Zum Angebot von abgeord­ne­ten­watch.de

Im Gegensatz zu den international verfügbaren Vorbildern steht im Mittelpunkt von bei abgeordnetenwatch.de, was die Initiatoren Dialog nennen. Dem Bürger wird die Möglichkeit eröffnet, individuelle Fragen an seinen (oder jeden anderen) Abgeordneten zu stellen, der Angesprochene kann, muss aber nicht antworten. Ein zentrales Moment ist die Öffentlichkeit, die Interaktion, jeder Außenstehende kann Fragen und Antworten einsehen. Da alle Vorgänge archiviert werden, entsteht ein schnell anwachsender Fundus politischer Stellungnahmen.

Begann abgeordnetenwatch.de in Hamburg, so werden inzwischen auch der Bundestag, das Europäische Parlament und die Landtage von Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen versorgt. Weitere Landtage kommen kontinuierlich hinzu, so-bald die Finanzierung über Förderer und Spenden gesichert ist.

Der Einstieg geschieht üblicherweise während eines Wahlkampfs, in dem alle angetretenen Kandidaten vorgestellt werden. Zur Vorbereitung nimmt abgeordnetenwatch.de in der Vorwahlphase Kontakt zum Landeswahlleiter und zu den Wahlkampfmanagern der Parteien auf und stellt dann Basisdaten zu allen Kandidaten ins Netz. Profilerweiterungen, z. B. ein Bild oder weitere Informationen, werden gegen eine über-schaubare Bezahlung ermöglicht. Nach der Wahl vermittelt abgeordnetenwatch.de den Kontakt zu den gewählten Volksvertretern. In den Jahren 2009 und 2010 wurde der Dienst bei der Bundestagswahl und bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Thüringen, Sachsen und im Saarland aktiv.

Zur Logik von abgeord­ne­ten­watch.de

abgeordnetenwatch.de folgt der Logik von Web 2.0-Angeboten, bei denen von Dritten (hier abgeordnetenwatch.de) Plattformen als Rahmen angeboten werden, während der allergrößte Teil des Inhalts von den Nutzern (hier Bürgern und Abgeordneten) als user generated content eingestellt wird. Wie bei den großen Vorbildern Facebook oder Youtube füllen sie die Datenspeicher mit von Nutzern erstelltem Material, gleichwohl bleibt die Verwaltung und Regelsetzung der ständig anwachsenden Datenbestände bei abgeordnetenwatch.de. Die Arbeit der Plattform wird moderiert, d. h. ein Team von freien Mitarbeitern, das so genannte Moderatoren-Team, prüft die einkommenden Fragen und stellt sie innerhalb von maximal 24 Stunden online. Von den Moderatoren werden sie auf der Grundlage des Moderations-Kodex von abgeordnetenwatch.de geprüft. Die über die Fragen informierten Abgeordneten nehmen sich dann oft erhebliche Zeit, bevor sie antworten.

abgeordnetenwatch.de bietet Hilfen an, die es dem Bürger besonders einfach machen, Zugang zu seinem Abgeordneten zu bekommen – u. a, über die Postleitzahl –, nach dem auf der Begrüßungsseite vermerkten Motto: „Finden Sie Ihren Ansprechpartner”. Auf der Website sind erste Informationen über den Mandatsträger zu erhalten: insbesondere zum Alter, zur beruflichen Qualifikation, zur aktuellen beruflichen Tätigkeit, Wohnort, vertretenem Wahllcreis, Listenplatz. Darauf wird auf weitere Profile verlinkt, wie sie auf der Website des Parlaments hinterlegt sind. Ebenso kann man feststellen, in welchem Ausschuss der Parlamentarier mitarbeitet (und mutmaßlich kompetent ist) und es werden Stimmabgaben aus wichtigen namentlichen Abstimmungen dokumentiert. Dies stellt so etwas wie einen Basisservice dar.

Wenn das Parlament weitere Daten zur Verfügung stellt, werden auch zusätzliche Angaben eingebaut, beim Bundestag sind dies Redebeiträge im Videomitschnitt sowie Informationen über entgeltliche Nebentätigkeit sowie Funktionen der Abgeordneten in Vereinen, Verbänden und Stiftungen. All diese Informationen sind auch über andere Wege zu erhalten, werden hier aber besonders leicht zugänglich und einheitlich präsentiert. Auf den Seiten für das EU-Parlament werden zusätzlich die (recht komplizierten) Aspekte Wahlrecht und Gesetzgebung erklärt.

Weitere Leistungen

Seit einiger Zeit bietet der abgeordnetenwatch.de-Blog (http://blog.abgeordnetenwatch. .de/) begleitende Nachrichten und Kommentierungen, die von einem Team des Hauses erstellt werden. Es geht nach eigener Darstellung um eine „ergänzende Dislcussionsplattform”, In dem Blog stehen neben Berichten über das Projekt selbst auch allgemeinere Artikel zu Themen wie Transparenz, Bürgernähe und Demokratie. Während die Blogbeiträge in der Regel von Mitgliedern des abgeordnetenwatch.de-Teams geschrieben werden, können die Bürger sich durch die Kommentarfunktion an der Diskussion beteiligen. Einer der Autoren dieser Zeilen hat darin einen Gastbeitrag zu der Frage geschrieben, was Überparteilichkeit im Kontext einer derartigen Organisation eigentlich bedeutet (Kleinsteuber 2010).

Öffentliche Aufmerksamkeit und Bekanntheit bekommt abgeordnetenwatch.de neben der eigenen Website zusätzlich durch Medienpartnerschaften. So hat SPIEGEL ONLINE (www.spiegel.de) abgeordnetenwatch.de in seine Website eingebunden. Nach eigener Darstellung wird die Arbeit geteilt, abgeordnetenwatch.de liefert die Grunddaten, der Spiegel steuert aktuelle Analysen bei. Weitere Medienpartnerschaften bestehen mit t-online.de, sueddeutsche.de und ca. 20 Regionalzeitungsportalen. Jenseits dieser
Medienpartnerschaften findet abgeordnetenwatch.de immer wieder große Medienresonanz mit eigenen Vorstößen. Diese und die präsentierten Fragen und Antworten sind längst zu einer wichtigen Informationsquelle für Journalisten geworden, welche die Arbeit der Plattform regelmäßig verfolgen. Ein besonderes Thema wurde jüngst über eine Pressemitteilung angestoßen: Der Außenminister trat bei einem Finanzdienstleister als prominenter Redner auf, der zugleich kräftig für seine Partei spendete. Das Medienecho war erheblich, wie sich unter anderem im Pressespiegel der Webseite nachlesen lässt.

Organisation

Organisatorisch besteht ahgeordnetenwatch.de aus zwei Einheiten, die beide gemeinnützig arbeiten. Der Verein Parlamentswatch
e. V. ist der Kern des Vorhabens und verantwortlich für die inhaltliche Arbeit, dazu sammelt und verwaltet er die Spenden und Förderbeiträge. Die gemeinnützige Firma Parlamentswatch GmbH ist technischer Dienstleister, hat die Internetplattform entwickelt und stellt sie dem Verein zur Verfügung. Anders als der Verein kann sie Dienstleistungen kostenpflichtig anbieten, wie etwa Profilerweiterungen für Abgeordnete oder Werbung auf der Webseite. Anteile an der GmbH halten die Gründer Hackmack und Hekele sowie der Finanzier für soziale Projekte, die BonVenture Management GmbH aus München. Erzielt die Parlamentswatch GmbH Gewinne, so werden diese nach einem komplizierten Schlüssel an den Verein, an Bon Venture und weitere Organisationen ausgezahlt. Zur Gesamtstruktur zählen weiter-hin ein Beirat der Parlamentswatch GmbH und ein Kuratorium des Vereins Parlamentswatch e. V.

Im Herbst 2010 waren vier feste – darunter die Gründer –, 15 freie und vier ehren-amtliche Mitarbeiter damit beschäftigt, das schnell angewachsene Arbeitsvolumen zu bewältigen. Hackmacics Stelle wurde bis Ende 2010 noch von der internationalen Ashoka Foundation übernommen, die ihn als Fellow für drei Jahre finanziert hat. Ashoka versteht sich als „global association of the world’s leading social entrepreneurs” (www.ashoka.org).

Kuratorium

Das Kuratorium wird vom Verein berufen. Seine Aufgabe ist es, eine Empfehlung zu geben, wenn die Moderatoren meinen, dass eine Frage gegen den Kodex verstoßen könnte. Der Kodex für die Moderatoren gibt Vorgaben, wann eine Frage nicht freigeschaltet werden kann. Dies geschieht aus folgenden Gründen (verkürzt):

Inhaltlich: Befürwortung von Gewaltherrschaft, Rassismus, Sexismus, politischer oder religiöse Verfolgung; Beleidigungen oder Beschimpfungen;

Persönlich: Nachfragen zum Privatleben, zu Themen der beruflichen Schweigepflicht;
Formal: bloße Meinungsäußerungen und keine Fragen; Massenmails; zu viele oder selbst gestellte Fragen; Fragen unter falschem Namen.

Bitten um Klärung werden an alle Kuratoriumsmitglieder gemailt, die dann – für die jeweils anderen einsehbar – Einschätzungen abgeben. Wann werden Formulierungen als rassistisch eingeschätzt? Wie geht man mit der Anfrage eines bekannten Päderasten um? Wo beginnt die Privatsphäre? Mitautor Kleinsteuber ist Mitglied des Kuratoriums und kann dazu folgende Erfahrungen vermitteln: Es geht um ca. eine Anfrage pro Monat, meist stellt sich unter den Kuratoren schnell eine einheitliche Meinung her. Mitunter werden auch allgemeine Fragen erörtert, etwa, wenn es um eine Präzisierung des Kodex geht.

Jenseits aller Formen gilt auch dieses: Gegenüber dem recht jungen Moderatoren-Team, das sich in erster Linie aus Studierenden zusammensetzt, wirkt das Kuratorium eher wie ein Honoratioren-Gremium mit erheblicher Lebenserfahrung, darunter ein ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, ein prominenter Filmemacher, eine Journalistin, ein Professor, Gewerkschafter etc. Auch hier ist Mehr Demokratie personell beteiligt. Die Zusammenarbeit erweist sich als weitgehend reibungsfrei.

Finan­zie­rung und Transparenz

Wie die meisten modernen Nichtregierungsorganisationen basiert auch abgeordnetenwatch.de auf einer Mischfinanzierung, die durch die Streuung der Einnahmequellen Abhängigkeiten verhindern soll. Eine wichtige Grundlage sind die 966 Förderer (Stand Dezember 2010), die im Durchschnitt zwischen 8 und 10 € im Monat zahlen. Um gesichert überleben zu können, werden nach Einschätzung von Hackmack langfristig etwa 2.000 Förderer notwendig sein. Eine weitere Einnahmequelle sind die Profilerweiterungen, die es Politikern ermöglichen, zusätzliche Informationen einzustellen, wie beispielweise Bilder: abgeordnetenwatch.de erhält dafür 175 € von Kandidaten bei Landtagswahlen und 200 € von Kandidaten für ein Bundestagsmandat (abgeordnetenwatch.de 2010: 8). Laut Hackmack gilt, dass die Buchungsraten für diesen Zusatz-dienst bundesweit variieren. Ist das Wahlrecht stärker personalisiert, misst abgeordnetenwatch.de auch eine höhere Beteiligung. Dies ist etwa für Bundesländer wie Hamburg oder Bayern der Fall, wo etwa 25 Prozent der Kandidaten eine Profilerweiterung vor-nehmen. In Ländern wie Bremen oder das Saarland, in denen Listen im Vordergrund stehen (also der Wähler kaum Einfluss auf die Kandidatenauswahl hat), ist das Interesse viel geringer und liegt bei 5 Prozent.

Der Gesamtumsatz im Jahr 2010 wird ca. 120.000 € betragen, im Jahr 2008 waren es noch 49.000 €. Zum Aufbau der Organisation hat BonVenture einen Kredit in Höhe von 256.000 € zur Verfügung gestellt, der nun stückweise zurückgezahlt wird. Nach gegenwärtigem Stand befindet sich abgeordnetenwatch.de in schnellem Wachstum und schreibt seit Februar 2010 schwarze Zahlen. Bis 2015 soll das Darlehen an BonVenture zurückgeführt worden sein.

Wer von Politiker Transparenz verlangt, muss diese auch selbst erbringen. Tatsächlich können über die Website alle wesentlichen Informationen zur Organisation und zur Finanzierung eingesehen werden. Es zählt zu den Vorzügen von zivilgesellschaftlichen NGOs, dass sie quasi gläsern arbeiten müssen. Dies erweist sich als notwendig, weil nur so Spender die Sicherheit erhalten, dass mit ihrem Geld verantwortungsvoll umgegangen wird. abgeordnetenwatch.de ist ein gutes Beispiel dafür.

Abgeord­ne­ten­watch.de im politischen Alltag

Insgesamt werden rund 80 Prozent der gestellten Fragen beantwortet (abgeoYdnetenwatch.de 2010: 11). Damit verfügt die Organisation bereits heute über eine in wenigen Jahren angeschwollene Datenbank, die dokumentiert, was fragende Bürger und aktive Politiker denken. Es entsteht so ein politisches Gedächtnis außerhalb offizieller Parlamentsprotokolle. Die Datenbank liefert zudem quantitative Daten, wer wie oft gefragt wurde und ob er oder sie geantwortet hat. Man kann feststellen, dass einige Abgeordnete viel gefragt sind und regelmäßig antworten. Andere antworten prinzipiell nicht. Im Sommer 2010 wurden auf der Grundlage eines entsprechenden Rankings Schulnoten von „eins” bis „sechs” an die Parlamentarier verteilt, auch dies wurde vielfältig von den Medien aufgegriffen.

Prominenteste Schweigerin ist (neben dem unten angesprochenen Steinbrück) die Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dies mag verwundern, denn sie verfügt über Mitarbeiterapparate, die jederzeit in ihrem Namen antworten können, etwa das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Insgesamt muss man aber akzeptieren, dass jede Äußerung der Kanzlerin — oder anderer Spitzenpolitiker wie auch Minister — außerordentliche Tragweite haben können, so dass hier die Zurückhaltung verständlich wird. Schlichte Antworten auf eine individuelle Frage könnten schnell mit der öffentlichen Erklärung eines ganzen Apparats verwechselt werden.

Auf der anderen Seite stehen einzelne Politiker, die pflichtbewusst jede Frage beantworteten — bis der Betroffene unter Fragen regelrecht versank und die Kooperation aufkündigte. So geschehen im Fall Dieter Wiefelspütz, SPD, der in der Legislaturperiode 2005—2009 1545 Anfragen erhielt und 1517 — wie er betont — persönlich beantwortete. Er hielt viele der Fragen eher für Meinungsäußerungen und reagierte zunehmend „säuerlich”, inzwischen reagiert er deutlich zurückhaltender (Gievert 2008).
An zwei konkreten Fällen sollen Arbeitsweise und Durchschlagskraft von abgeordnetenwatch.de erörtert werden.

Der Fall MdB Carl Eduard von Bismarck: Dem CDU-Abgeordneten wurde 2007 vorgerechnet, dass er selten an Sitzungen des Bundestags teilnimmt und auch sonst durch fehlende Mitarbeit auffällt. Er wurde als Negativbeispiel vorgestellt und landete damit als Aufmacher in der BILD-Zeitung „Ist er Deutschlands faulster Abgeordneter? Ausgerechnet der Ur-Ur-Enkel von Bismarck” (BILD-Titelseite v. 07. 03. 2007). Andere politische Magazine wie das TV-Magazin panorama schlugen in dieselbe Kerbe. Der angegriffene Bundestagsabgeordnete, konfrontiert mit Daten über seine Untätigkeit, trat unter dem Druck der eigenen Partei zurück, abgeordnetenwatch.de wirbt mit diesem spektakulären Erfolg für eigene Unterstützung.

Der Fall MdB Peer Steinbrück: Im Jahre 2010 wurde der Ex-Finanzminister der Großen Koalition und gegenwärtige Bundestagsabgeordnete Peer Steinbrück (SPD) kritisiert, weil er einerseits hohe Nebenverdienste auswies, gleichzeitig aber nur selten im Bundestag präsent war. In einer diesbezüglichen Pressemitteilung heißt es: „Honorarverträge statt Bundestagssitzungen — Nebeneinkünfte belaufen sich bereits auf mehrere Hunderttausend Euro” (Pressemitteilung 17. 08. 2010). abgeordnetenwatch.de rechnete im Detail vor: Steinbrück hatte zahlreiche Vorträge gehalten, was mit ca. 200.000 € Honorare ausgewiesen war, dazu kam ein gut dotiertes Aufsichtsratsmandat. Zur Begründung der Kritik wurde aus dem Abgeordnetengesetz zitiert, das verlangt, die Ausübung des Mandats habe „im Mittelpunkt” der Tätigkeit zu stehen. Im Herbst 2010 hatte Steinbrück sein viel beachtetes Buch „Unterm Strich” geschrieben, das er vielfach öffentlich und außerhalb Berlins präsentierte, u. a. auch, als im Berliner Parlament die Haushaltsdebatte lief — ein Höhepunkt parlamentarischer Arbeit. Da wäre eigentlich die Anwesenheit und Kritik des früheren Finanzministers selbstverständlich gewesen. Steinbrück suchte erfolgreich Aufmerksamkeit außerhalb des Parlaments und wurde in den Medien als möglicher Kanzlerkandidat der SPD gehandelt. Die überaus berechtigte Kritik von abgeordnetenwatch.de taucht in der umfänglichen Berichterstattung nicht oder nur am Rande auf, sie schadete Steinbrück offensichtlich nicht und zeigte keine Folgen.

Kritik

Bisher ist die Faszination über den schnellen Erfolg von abgeordnetenwatch.de groß und die Kritik gering — selbst auf Seiten der von ihr kritisierten Politiker. Allerdings findet sich eine aktuelle Auseinandersetzung unter www.polkomm ohne Autorenangabe (o. Autor 2010). Dort steht im Mittelpunkt das Argument, dass der Dienst Politiker unter Druck setze. Die Betroffenen haben zu antworten, sonst werden sie öffentlich angeprangert, damit werden sie vom eigentlichen Geschäft abgehalten. Das mag für einzelne Spitzenpolitiker so zutreffen, generell ist es nicht gerechtfertigt.

Tatsächlich ist abgeordnetenwatch.de nicht die Plattform für die große Politik und die ganz großen Linien — dies wird die Domäne der traditionellen Medien bleiben. Vielmehr ist es vor allem die Bühne der Hinterbänkler, der Parlamentarier, die kaum im Scheinwerferlicht stehen und Probleme haben, in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen zu werden. Sie sind in hohem Maße bereit, auf Anfragen differenziert zu antworten und wirklich substanzielle Auskünfte zu geben. Dazu passt, dass insbesondere die Lokalpresse Interesse an Antworten zeigt — oder auch daran, dass abgeordnetenwatch.de kritisiert, wenn Antworten verweigert werden. abgeordnetenwatch.de und die Hinterbank gehen so ein faktisches Bündnis ein — durchaus parallel zu der oft mit dem Internet assoziierten Einsicht, dass es dem empowerment, der Stärkung des Individuums dient, dem keine anderen Artikulationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Dies gilt für den fragenden Durchschnittsbürger ebenso wie für den antwortenden Durchschnittsabgeordneten.

Ein wiederkehrender Kritikpunkt gegenüber abgeordnetenwatch.de ist, dass Stellungnahmen von Politikern eingefordert werden, die dann durch die Archivierung für immer auf bestimmte Aussagen festgelegt werden. Dies verenge ihre Verhandlungsmöglichkeiten. Tatsächlich kann praktische Politik nicht über Prinzipien allein gelingen,ohne Interessenaggregation und Aushandlung. Bis zum Kompromiss sind keine Entscheidungen möglich. Von einem Abgeordneten wird einerseits erwartet, sich mit den Belangen seines Wahlkreises und seiner Klientel zu identifizieren, zum anderen muss er übergreifend mit Partei und Fraktion operieren. Das wird immer wieder zu Konflikten führen. Eine Kommunikationsplattform wie abgeordnetenwatch.de kann hier Lernprozesse unterstützen: Der Wähler muss lernen, dass er nicht allen Verheißungen trauen darf, der Politiker sollte sich überlegen, ob er leichtfertige Versprechungen abgibt. Schließlich eignet sich abgeordnetenwatch.de auch dafür, den Parlamentarier zu befragen, warum er seine Position geändert hat.

Der Politikwissenschaftler Hartwig Pautz sieht in einem der ganz wenigen wissenschaftlichen Aufsätze zum Thema Deutschlands repräsentative Demokratie in der Krise. Seiner Einschätzung nach ermöglicht abgeordnetenwatch.de, „to re-establish the supposedly broken link between representatives and represented” (Pautz 2010: 169). Allerdings wirft er dem Dienst auch Technikdeterminismus vor, er unterminiere Grundlagen der Parteiendemokratie und löse Versprechungen der deliberativen Demokratie nicht ein. Sicher ist die Beobachtung richtig, dass das Angebot formal begrenzt ist und den Anforderungen von Großtheorien der Demokratie nicht standhält, nur wird dieser Anspruch von abgeordnetenwatch.de auch nicht erhoben. Dort allerdings, wo der Dienst antritt, erfüllt es recht verlässlich und ganz pragmatisch die eine Aufgabe, für Fragen und Antworten zu sorgen.

Eine eigentümliche Kritik kam von ganz anderer Seite. Bei den Bremer Landtagswahlen 2007 boykottierte die Landes-SPD abgeordnetenwatch,de. Grund: „Das Portal gibt ein Forum frei für Rechte”, sprich Rechtsextreme. Ähnlich könnte es bei den anstehenden Wahlen 2011 laufen. Der Einwand ist nicht nur deshalb schwer nachzuvollziehen, weil die Partei in anderen Bundesländern mitmacht. Die Weigerung wird auch den Wählern nur schwer vermittelbar sein, zumal die formale Gleichbehandlung aller zur Wahl zugelassener Kandidaten nichts mit Sympathien für Rechtsextremismus zu tun hat (taz Bremen, 10. 12. 2010).
Zukunft

abgeordnetenwatch.de plant, in absehbarer Zeit in allen deutschen Bundesländern präsent zu sein. Es gibt immer wieder die Anfrage, dass der Dienst auch unterhalb der Länderebene, in den Kreisen und vor allem den Städten aktiv werden solle. Abgeordnetenwatch.de selbst kann diesen Service nicht erbringen, allerdings arbeitet die Organisation daran, die zugrunde liegende und erfolgreich arbeitende Software so zu modularisieren, dass Bürgerorganisationen vor Ort die Arbeit übernehmen können.

Steht Deutschland selten an der Spitze beim Einsatz des Internets zur Stärkung von Bürgern und Demokratie, so ist abgeordnetenwatch eine rühmliche Ausnahme. Es sieht so aus, als wäre das Projekt mit seinen interaktiven Möglichkeiten weltweit eine ziemlich einzigartige Innovation. Lediglich in Großbritannien finden sich vergleichbare Ansätze mit dem Projekt They work, for you (www,theyworkforyou.com). Hier werden differenzierte Daten zu allen MP eingestellt und es ist möglich, eine Nachricht mit der Bitte um Antwort zu schicken, die allerdings nicht öffentlich publiziert wird. Interalction und Transparenz sind weniger entwickelt. Das internationale Interesse an abgeordnetenwatch.de ist entsprechend groß. In den wenigen Jahren seiner Existenz haben es Initiativen in einigen anderen Ländern bereits adaptiert. So gibt es in Österreich mit meinparlament.at, in Luxemburg mit politikercheck.lu und in Irland mit candidatewatch.ie Lizenznehmer. Die Parlamentwatch GmbH fungiert dabei als technischer Partner und macht einige Vorgaben für die Arbeit dieser Seiten. Die geteilte Organisation von abgeordnetenwatch.de erleichtert diese Art der Expansion über Grenzen hinweg, da die GmbH auch im fremden Auftrag arbeiten kann. In diesen Ländern bestehen oft ganz andere Rahmenbedingungen, an die der neue Service angepasst werden muss. Selbst aus den USA und Südkorea kommen Anfragen, die auf Interesse schließen lassen.

Abgeordnetenwatch.de sieht sich als Dialog-Plattform. Tatsächlich ist das, was zwischen Bürger und Politiker abläuft, aber gerade kein Dialog. Der Dialog ist das Gespräch zweier Partner auf gleicher Augenhöhe, abgeordnetenwatch fordert dagegen Rechenschaftslegung von Politikern. Allerdings sollte man darüber nachdenken, die Idee einer Zweiseitigkeit der Kommunikation weiter zu entwickeln. So könnte der Mandats-träger auf Anregung seiner Bürger bestimmte Politikvorhaben übernehmen, interessierte Bürger einbinden, Projekte diskutieren lassen oder um Lösungsvorschläge bitten. Dann erst wäre der Gedanke des Dialogs umfassend realisiert und abgeordnetenwatch.de hätte zudem eine Perspektive für die nächste Entwicklungsphase.

Auch von der britischen Plattform They workfor you ließe sich einiges lernen. Sie gibt einen umfassenden Überblick über den Voting Record jedes Abgeordneten, dokumentiert seine Ausschuss- und Gesetzgebungsaktivitäten, seine Auftritte im Parlament etc. Bei vielen dieser Posten gibt es ein Ranking, man erfährt also, ob der eigene MP im Vergleich zu allen anderen häufig oder selten in Parlamentsdebatten spricht, mit der eigenen Fraktion stimmt, sogar seine rhetorischen Qualitäten werden bewertet. Die Platt-form sammelt Bitten um Einrichten eines eMail-Service des MP (Hear from your MP) an seine Wähler und informiert Interessenten, wenn ihr Abgeordneter spricht. Und: Die finanziellen Verhältnisse werden genau dokumentiert und vergleichend eingeordnet, man erfährt also z. B., dass ein Abgeordneter viel für seinen Stab ausgibt, aber nur wenig für Reisen. Wenn man dies sieht, so wird deutlich, wie abgeordnetenwatch sich weiterentwickeln kann.

Fazit

Weil abgeordnetenwatch.de etwas völlig Neues darstellt, konnte es in wenigen Jahren zu einem beachteten und respektierten Faktor im deutschen Parlamentarismus werden. Es fordert Transparenz ein, es veranlasst Abgeordnete, über den hektischen Tag hinaus ihre Handlungen zu erklären und zu rechtfertigen, es fordert Rechenschaft im Namen der Bürger, die ihn in das Amt hievten, abgeordnetenwatch.de ist einerseits Resultat eines radikalen Verständnisses von Parlamentarismus: Der Abgeordnete hat ein Mandat der Bürger und damit soll er Politik machen, aber eben auch so, dass er sein Verhalten dem Repräsentierten zu vermitteln vermag. Dabei wird er zu nichts gezwungen, aber wenn er die Antwort verweigert, dann geht er das Risiko ein, dass man ihm mangelnden Einsatz unterstellt. Obwohl abgeordnetenwatch.de aus der Bewegung Mehr Demokratie geboren wurde, macht das Vorhaben nur Sinn in einer repräsentativen Demokratie. Wenn Bürger den Mandatsträgern die Entscheidung entziehen und mit Mitteln der direkten Demokratie eingreifen, dann hat abgeordnetenwatch.de keine Funktion mehr. Der Dienst ist also trotz der Radikalität, mit welcher der Abgeordnete zur Rechenschaft gezogen wird, ein Instrument der Stärkung repräsentativer Demokratie. abgeordnetenwatch.de erscheint damit auch als zutiefst konservativ, weil es an dem Leitbild des Volksvertreters als Repräsentanten seiner Wähler anknüpft. Mit den neuen Möglichkeiten des Web 2.0 wird sichergestellt, dass er erklären kann, wie er mit seinem Mandat umgeht. Es wird spannend bleiben, wie es mit abgeordnetenwatch.de weitergeht und auch, wie die internationalen Ableger sich in Zukunft entwickeln werden.

Literatur

Abgeordnetenwatch.de (2010): Jahres- und Wirkungsbericht, Hamburg.
Albrecht, Steffen / Trenel, Matthias (2008): Abgeordnetenwatch.de: Hintergrund, Einordnung, Nutzung und Perspektiven. Gutachten im Auftrag des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag: zebralog e. V., Berlin.
Gievert, Sebastian (2008): Wiefelspiitz und Abgeordnetenwatch: Der Ton wird schärfer. in: http://politik-digital.de/wiefelsp%C3%BCtz-abgeordnetenwatch, 23.12.2008.
Kleinsteuber, Hans J. (2011): Online-Politik in Hamburg: DEMOS zwischen Alibi, Spiel und Kampagne. in: ICamps, Klaus: Politische Kampagnen in der Referendumsdemokratie, Wiesbaden (im Er-scheinen).
Kleinsteuber, Hans J. (2010): Zur Überparteilichkeit von Abgeordnetenwatch.de. In: Abgeordnetenwatch.de Blog, http://blog.abgeordnetenwatch.de/2010/08/31(zur-ubeiparteilichkeit-vonabgeordnetenwatch-de-3/, 31.8.2010.
o. Autor (2010): Abgeordnetenwatch ist kein Verfassungsorgan. in: www.polkomm.net/blog/?p=195, 31.5.2010.
Pautz, Hartwig (2010): The internet, political participation and election turnout — A Case Study of Germany’s www.abgeordnetenwatch.de in: German Politics and Society, Issue 96, Vol. 28, No. 3, Fall 2010, S. 156 -175.
Von der Decken, Ada (2009): Legitimation und e-Partizipation. Eine vergleichende Analyse von „abgeordnetenwatch.de” und „DEMOS”, Hamburg (Diplomarbeit)
Voss, Kathrin (2006): Alles Online? Über die Auswirkungen von Online-Medien auf die interne und extern Kommunikation von Nichtregierungsorganisationen. in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 19, Heft 2, S. 68-76
Wilhelm, Nora (2009): Meinparlament.at — Plattform für den direkten Dialog von BürgerInnen und PolitikerInnen – Eine Analyse, Wien. (Diplomarbeit)

nach oben