Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 192: Wandel der Öffentlichkeit

Kinder­öf­fent­lich­keit

Erscheinungsformen und Rahmenbedingungen

aus: Vorgänge 192 ( Heft 4/2010), S.94-102

Mit Oskar Negt und Alexander Kluge lässt sich Kinderöffentlichkeit begreifen als eine verstärkte Beteiligung von Kindern am politischen und öffentlichen Leben (Negt/Kluge 1972: 464ff.). Darunter verstehen sie freie Zusammenschlüsse von Kindern, Kinderbewegungen und Kinderrepubliken, in denen Selbstregulierung und Selbstorganisation der Kinder versucht werden. Kinderöffentlichkeiten sind für sie aber keine „Kinderghettos” von liberalisierten Mittelschichtkindern, in denen wichtige Lebensbereiche ausgegrenzt sind. „Kinderöffentlichkeit (ist) nicht herzustellen, ohne eine materielle Öffentlichkeit, die die Eltern verbindet, und ohne Kinderöffentlichkeit in allen Schichten und Klassen der Gesellschaft, die miteinander Verbindung aufnehmen können” (Negt/Kluge 1972: 466f.). An diesem Maßstab orientiert sollen im Folgenden verschiedene Facetten von Kinderöffentlichkeit, ihre Erscheinungsformen und realen Rahmenbedingungen unter-sucht werden.

Zunächst sei jedoch erwähnt, dass Partizipation, Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und freie Meinungsäußerung keine Geschenke (mehr) sind, sondern in der UNKinderrechtskonvention festgehaltene Rechte der Kinder (Art. 12-17 UN-KRK). Zu ihnen haben sich die 193 Unterzeichnerstaaten seit 1989 verpflichtet (Deutschland durch vorbehaltliche Ratifizierung seit 1992 und vorbehaltlos seit 2010). Das Gleiche gilt für das „Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit (,..), auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung sowie auf freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben” (Art. 31, Absatz 1 UN-KRK). Interessanterweise erkennen die Vertragsstaaten diese Rechte nicht nur an, sondern verpflichten sich im folgenden Absatz explizit dazu, das Recht des Kin-des auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben zu achten und zu fördern sowie „die Bereitstellung geeigneter und gleicher Möglichkeiten für die kulturelle und künstlerische Betätigung sowie für die aktive Erholung und Freizeitbeschäftigung” zu fördern (Art. 31, Absatz 2 UN-ICRK).

Durch die „freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben” (Artikel 31, UN-KRK) in Theater, Malerei und Musik mit Kindern können kreative Fähigkeiten von Kindern gefördert werden, statt sie verkümmern zu lassen. Doch die Räume zum Spie-len und Toben für Kinder werden immer mehr eingeengt („Bacicseat-Generation“ — Rücksitz-Generation). Oskar Negt schrieb 1997, dass es „nie in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts (…) in den fortgeschrittenen Industrieländern derart geringe Betätigungsräume für Kinder und Jugendliche gegeben” habe (Negt 1997: 111). Dabei brauchen Kinder heute mehr denn je Freiräume, die sie zur autonomen Selbstbildung nutzen können, da die Chancen zum informellen Lernen immer geringer werden. Denn Kinder benötigen einen eigenen Durchblick durch erlebte praktische Erfahrungen, auch um sich die Fähigkeit zu erwerben, sich Kenntnisse selbstständig anzueignen (Lernen lernen).

Des Weiteren braucht Kinderöffentlichkeit andere Räume: mehr Bewegungsspielraum, andere Zeiträume als jene der Erwachsenen. Kinder werden in der Regel aus der Öffentlichkeit der „bürgerlichen Gesellschaft” ferngehalten oder angewiesen, dort nicht aufzufallen. Die zum Teil erfolgreichen Versuche zur Schließung von Kindertagesstätten und Kinderheimen aufgrund von „Kinderlärm“-Verordnungen bzw. Gerichtsprozesse in Hamburg, Frankfurt am Main und Bonn können dies ganz gut illustrieren. In einem Stadtteil von Bonn versuchen z.B. 27 Haushalte durch eine Bürgerinitiative das Kinderwohnheim eines freien Trägers zu verhindern (Wallow 2010).

Derweil schreitet die mediale Kommerzialisierung weiter voran, sodass nicht nur der Alltag vieler Familien nur noch vom Fernsehprogramm strukturiert wird. Dabei lässt sich auch leicht der Eindruck gewinnen, dass medienöffentliche Darstellungen eigentlich nur zwischen bedrohten und bedrohlichen Kindern und Kindheiten hin- und her-wechseln können. Vergleicht man das Ausmaß und die Qualität von öffentlichen Bildern krimineller Kinder und Jugendlicher im Vergleich zu öffentlichen Bildern von helfenden und solidarischen Kindern und Jugendlichen, so wird schnell sichtbar, dass erstere deutlich überwiegen. Oskar Negt schreibt, dass das Interesse an Jugendlichen wesentlich nur auf ihren Konsumentenstatus oder ihre Gewaltbereitschaft als Störer gerichtet ist (ebd.: 103). Auch dadurch wird natürlich „Kinderöffentlichkeit” geprägt.

Umsetzung der UN-Kin­der­rechts­kon­ven­tion ins Grundgesetz

Auch der politische und zivilgesellschaftliche Kampf um die Einführung von Kinder-rechten in die Verfassung kann als ein Kampf um Kinderöffentlichkeit verstanden wer-den. Dabei geht es u. a. um ein Signal für die Umsetzung von Kinderrechten auf Schutz; Förderung und Beteiligung in die politische, rechtliche und gesellschaftliche Öffentlichkeit. Im Zusammenhang mit einem Urteil zu Adoptionen erklärte das Bundesverfassungsgericht 1968 erstmals, dass dem Kind „als Grundrechtsträger eigene Menschen-würde und ein eigenes Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne des Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG” zukommen (siehe BverfG 1968, S. 119). Ein halbes Jahrzehnt später, 1973, wurde sogar die Prügelstrafe in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland offiziell abgeschafft. Die bayerischen Schulkinder mussten sich allerdings gesetzestechnisch weitere sieben Jahre gedulden. Dort erklärte noch 1979 das Bayerische Oberste Landesgericht, im Gebiet des Freistaates Bayern bestehe ein „gewohnheitsrechtliches Züchtigungsrecht” (siehe Matschke 2007). 1980 wurde dann aber die Prügelstrafe auch an Schulen in Bayern offiziell aufgehoben. Seit dem 3. November 2000 – nach über dreißigjähriger Diskussion – gibt es das verbriefte Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung in § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Jedoch fehlen immer noch Kinderrechte im Grundgesetz, die dem Kind ein Verfassungsrecht auf Wahrung und Entfaltung seiner Grundrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung sowie auf Entwicklung zu einer selbstbestimmungs- und verantwortungsfähigen Persönlichkeit in Artikel 6 Grundgesetz zubilligen (vgl. Hildebrandt 2008, S. 1032).

Bei der Menschenrechtsbildung anhand von Kinderrechten wird deutlich: Wer seine Rechte kennenlernt, lernt, dass andere die gleichen Rechte haben (Gleichheit in Vielfalt) und schließlich, dass man sich auch praktisch für die eigenen und die gemeinsamen (Kinder-)Rechte einsetzen muss, damit sie Wirklichkeit werden (Solidarität). „Im Begriff der Gleichberechtigung kommt zum Ausdruck, dass Egalität und Diversität in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zu verstehen sind. Denn Gleichheit ohne Offenheit für Vielfalt würde Ausgrenzung und Angleichung mit sich bringen, und Vielfalt ohne Gleichheit würde Überordnung und Unterordnung bedeuten” (Prengel 2007: 303). Da-mit lässt sich das Ziel einer erweiterten individuellen und kollektiven Erfahrungs- und Handlungsfähigkeit im Sinne von Mit- und Selbstbestimmung skizzieren.

Rahmenbedingungen

Idealerweise können Kinder durch so etwas wie Kinderöffentlichkeit ihre Bedürfnisse öffentlich äußern und finden dabei auch Berücksichtigung. Kinderöffentlichkeit kann durch Erwachsene unterstützt werden, muss aber von Kindern selbst inhaltlich gefüllt werden. Sie darf nicht auf bestimmte Orte und Zeiten beschränkt sein und muss alle gesellschaftlichen Schichten umfassen. Deshalb geht es darum, insbesondere die Partizipation und Kinderöffentlichkeit von sozial benachteiligten und armen Kindern im Sinne von Menschenrechtsbildung, Vielfalt und Inklusion zu stärken.

Laut Bildungsbericht 2010 des Bundes und der Länder befanden sich im Jahr 2008 zirka 3,9 Millionen der insgesamt 13,6 Millionen Minderjährigen in Deutschland in mindestens einer der drei Risikolagen einkommensarmer, bildungsferner oder erwerbsloser Familien. Das entspricht einem Anteil von fast 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren. Mit 1,7 Millionen Betroffenen ist die Gruppe der jungen Menschen mit Migrationshintergrund unter ihnen besonders stark vertreten. Etwa 42 Prozent der Heranwachsenden mit ausländischen Wurzeln leben in mindestens einer der Risikolagen, während es unter den Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund „nur” etwa 23 Prozent sind. Außerdem wachsen 1,1 Millionen Minderjährige aus dieser Risikogruppe bei alleinerziehenden Elternteilen auf. Damit wird in Ein-Eltern-Familien fast jedes zweite Kind mit Geldsorgen, Bildungsarmut oder Arbeitslosigkeit konfrontiert. Bei Alleinerziehenden lag der Anteil der Transferleistungsbezieher 2008 viermal so hoch wie bei Paaren mit Kindern (Leu/Prein 2010: 18f.).

Was bedeutet es aber für „Kinderöffentlichkeit”, wenn über 3 Millionen Kinder und Jugendliche auf oder unter Sozialhilfeniveau leben müssen, mit ungenügenden Regelsatzleistungen für Gesundheit, Schulsachen und Bildung – von Spielzeug, Sport- und Freizeitkosten nicht zu reden? Die Einkommensarmut von Kindern hat mit Hartz IV und der Agenda 2010 einen historischen Höchststand und eine neue Qualität erreicht (Butterwegge/Klundt/Zeng 2008). Die elementaren Grundlagen für Kinderöffentlichkeit sind zutiefst beeinträchtigt, wenn Familien für Ernährung, Bekleidung und die Teilnahme am sozialen Leben ihrer Kinder nicht mehr aufkommen können, wenn die Anschaffung von Büchern und Schulmaterialien oder Klassenfahrten und Kindergeburtstage praktisch nicht zu finanzieren sind. Bildungschancen sind damit von Anfang an behindert, während chronische Armut auch eine deutlich niedrigere Lebenserwartung bedeutet. Wer von Kinderöffentlichkeit spricht, darf von Kinderarmut somit nicht schweigen.

Die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen von Kinderöffentlichkeit(en) sind geprägt durch eine Klassengesellschaft mit enorm gestiegener sozialer Polarisierung im Erwachsenen- wie Kindesalter. Seit einiger Zeit häufen sich wieder die verschiedenen Studien zum Thema Armut und soziale Polarisierung. Laut Angaben des DIW sind in Deutschland etwa 14 Prozent der Bevölkerung oder 11,5 Millionen Menschen von relativer Einkommensarmut bedroht. Vor allem Haushalte mit Kindern und jungen Erwachsenen sind davon betroffen, während Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern Mit über 40 Prozent weit überdurchschnittliche Armutsrisiken aufweisen (Grabka/Frick 2010: 2ff.). Derweil verfügen laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung mehr als ein Viertel aller Erwachsenen (27 Prozent) über keinerlei persönliches Vermögen oder waren sogar verschuldet. „Die unteren 70 Prozent besitzen nur neun Prozent des Gesamtvermögens, dagegen verfügt das reichste Zehntel der Bevölkerung über mehr als 60 Prozent des Gesamtvermögens von 6,6 Billionen Euro. Diese Kluft hat sich seit 2002 deutlich vergrößert” (Bunzenthal 2009). Während also der real existierende Reichtum eine enorme Steigerung erfahren hat, kommen viele Forscher/innen zu dem besorgniserregenden Ergebnis, dass die Armut insbesondere von Kindern und Familien in den letzten Jahren auf fast 20 Prozent angestiegen ist. Sie schlage sich inzwischen auch schon bei Grundschülerinnen und Grundschülern als Zukunftsängste vor Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit nieder (Studien zu Kindheit in Deutschland 2010).

Selbst eine Studie der Konrad Adenauer Stiftung sieht Deutschland „auf dem Weg in eine neue Art von Klassengesellschaft (…), wobei die Trennungslinie eben nicht nur über Einkommen und Vermögen, sondern auch über kulturelle Dimensionen wie etwa Bildungskapital und Bildungsaspirationen, aber auch Werte und Alltagsästhetik verläuft. Ebenso erweisen sich Ernährung, Gesundheit, Kleidung und Medienumgang als Abgrenzungsfaktoren. Der Zulauf zu privaten Schulen ebenso wie das Umzugsverhalten von Eltern der bürgerlichen Mitte geben ein beredtes Zeugnis dieser Entwicklung” (Borchard u. a. 2008: 8). Die ungleiche Verteilung der Vermögen wird zukünftig durch den Generationenzusammenhang sogar noch weiter verschärft, da mit der Zunahme der Erbschaften sich auch die sozialen Gegensätze vergrößern werden, denn Personen aus höheren Bildungsschichten, die in der Regel schon selbst höhere soziale Positionen er-reichen, erben höher als Personen mit niedrigerem Bildungsstand. Darüber hinaus heiraten wohlhabende Menschen in der Regel auch innerhalb der gleichen Schicht, sodass Reichtum noch einmal konzentrierter vorkommt (Esping-Andersen 2006: 59). Gleich-zeitig leben aber (nicht nur) in der Bundesrepublik viele Kinder und Jugendliche in (Einkommens-)Armut.

Instru­men­ta­li­sierte und verding­lichte Kinder(Öffent­lich­keit)

Außerdem spielen in den letzten Jahren Kinder in der Öffentlichkeit eine immer größere Rolle. Sei es, weil sie weniger werden, sei es, weil sie „unsere Renten” finanzieren und uns später gut behandeln sollen oder sei es einfach, weil die Gesellschaft insgesamt sensibler auf Kinderinteressen eingeht (vgl, die „Gedöns“-Relevanz vor und nach Gerhard Schröder). Vielleicht hat diese Wahrnehmungsänderung auch etwas damit zu tun, dass sich genau in den beiden Bereichen Wandlungsprozesse vollzogen, die laut Negt und Kluge noch von der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgegrenzt werden: der industrielle Apparat des Betriebes und die Sozialisation in der Familie (Negt/Kluge 1972: 10). Mit der stärkeren Erwerbsbeteiligung von Frauen in Westdeutschland ändert sich die Arbeitswelt und der bislang unsichtbar gebliebene Bereich der Reproduktionsarbeit und Pflege von Kindern und Alten erlangt nach und nach gesellschaftliche und öffentliche Bedeutung.

Doch in all diesen Diskursen wird vielmehr über Kinder verhandelt, als mit ihnen gehandelt, geschweige denn von Kindern selbst aktiv eingegriffen. Nur allzu leicht las-sen sich dabei Heranwachsende für verschiedene Zwecke benutzen. Die Instrumentalisierung junger Menschen im politischen Diskurs lässt sich auch anhand der Mitteilung der EU-Kommission zu einer „EU-Strategie für die Jugend — Investitionen und Empowerment” verdeutlichen (siehe Europäische Kommission 2009: lff.). Dort wird festgestellt, dass „angesichts der derzeitigen Wirtschaftskrise (.,.) das junge Humankapital gehegt und gepflegt werden” müsse. Junge Menschen stellten eine „Ressource für die Gesellschaft (dar), die genutzt werden kann, um übergeordnete gesellschaftliche Ziele zu erreichen.” (ebd.: 2) Im Folgenden ist mehr von „Wettbewerbsfähigkeit” die Rede als von Jugendarmut. Dabei sind auch gute Ideen und Forderungen zu Bildung, Gesundheit, sozialer Integration, Jugendarbeit und Chancengleichheit enthalten. Während jedoch Jugendarbeitslosigkeit nur als „Resultat fehlender oder falscher Qualifikationen” bezeichnet wird, fordert die EU-Kommission den Ausbau der Jugendarbeit nur „als Ressource zu Unterstützung der Beschäftigungsfähigkeit der Jugend” (ebd.: 7). Somit wird offenbar, worauf die Kritik an einer „neoliberalen Hegemonie in der EU” zielt: Ei-ne völlige Marktorientierung, die den Wert von Menschen nur an ihrer instrumentellen Vernutzbarkeit misst.

Junge Generationen lassen sich zudem leicht für die Privatisierung der Sozialsysteme und die Restrukturierung des demokratischen Wohlfahrtsstaates in einen neoliberalen Wettbewerbsstaat instrumentalisieren, Dies geschieht dann häufig unter dem Banner von „mehr Demografie-Sensibilität”, „Generationengerechtigkeit” und im Namen der ohnmächtigen Kinder gegen die „raffgierigen Rentner” und ihren „Schuldenberg”. Doch was bedeutet das konkret und vor allem in wessen Interesse findet dies statt? Der frühere Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, bemerkte schon 1998, dass „Reformen, die mit der Verantwortung für kommende Generationen plausibel begründet werden können, (…) eine gute Chance (haben), von Medien und Öffentlichkeit akzeptiert und vom Wähler honoriert zu werden. (…) Wir schulden es unseren Kindern.” (Henkel 1998: 12) Was wir „unseren Kindern” schulden, zielt auf einen vermarktlichten Wohlfahrtsstaat, den Henkel mit den Lebensinteressen künftiger Generationen legitimiert: „Heute müssen wir die Sozialpolitik mit marktwirtschaftlichen Instrumenten renovieren, im eigenen Interesse und weil wir es unseren Kindern schulden” (ebd.: 25f.). (Kinder-)Politikwissenschaftliche Forschung kann untersuchen, auf welche Weise hierbei partikulare Wirtschaftsinteressen als universale Generationen- oder gar Menschheitsinteressen ausgegeben werden (vgl. Klundt 2008: 264f.).

Auch das Reden über Arme (Kinder und Familien) macht einen Teil der gesellschaftspolitischen Polarisierungs-Problematik aus. Dies gilt vor allem dann, wenn die Betrachtung von (Kinder-)Armut durch vielfache Formen der Ignoranz, der Krokodils-tränen sowie der Schicksalsgläubigkeit gekennzeichnet ist. Am bedenklichsten haben sich jedoch diejenigen Diskurse entwickelt, in denen Kinder und Familien mit den Etiketten „selbst schuld” und „asozial” bedacht werden und statt der Bekämpfung von Armut die Bekämpfung der Armen im Vordergrund steht. Das geschieht, wenn das ehemalige Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und ehemalige Berliner SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin und der Berlin-Neuköllner SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky verbal auf die „asoziale” Unterschicht der „Säufer” und „Kopftuchmädchen“-Produzenten eindreschen (von Lucke 2009: 55ff.).

Doch weniger der notorische Sozialrassismus Sarrazins ist das Problem, als die vielen heimlichen und offenen Unterstützer seiner Hetzreden in den Eliten von Medien, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Wissenschaftler, wie der Bremer Professor für Sozialpädagogik, Gunnar Heinsohn, versuchen unterdessen deutlich zu machen, dass Armut ausschließlich durch das Vermehrungsverhalten armer Menschen verursacht sei, da diese Kinder nur als Geldanlage produzierten: „Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen” (FAZ v. 16.3.2010). Da Kinder aus bildungsfernen Schichten für Heinsohn praktisch qua Geburt grundsätzlich zu den „Niedrigleistern” gehören, naturgemäß als Frauen „durch Vermehrung nach Einkommen streben” und als Männer, zumal mit Migrationshintergrund, ein-zig und allein kriminell vorstellbar sind, erklärt er sie auch gleich noch für beinahe lebensunwert. „Ungeborene können niemandem einen Baseballschläger über den Kopf ziehen, aber sie können auch von niemandem erniedrigt oder beleidigt werden” (WELT v. 9.2.2010). An dieser volksverhetzenden Propaganda wird ganz gut deutlich, dass man Menschen am besten ideologisch zunächst ihre menschliche Würde nimmt, um ihnen danach auch ihre sozialen Rechte streitig zu machen. In diesem biologistischen Menschenbild sind sowohl der Intelligenzquotient als auch der Schulabbruch bereits am Tage der Geburt anhand der sozialen Herkunft eines Kindes festgelegt. Deshalb kann sich Heinsohn auch die mangelhaften Bildungschancen von Migrantenkindem in Deutschland nicht mit strukturellen Problemen im dreigliedrigen Bildungssystem erklären, sondern nur folgendermaßen: „Schon die Eltern unserer Einwanderungskinder waren schlecht in der Schule“ (ebd.). Ähnlich erläutert Sarrazin Behinderungen und Misserfolge von muslimischen Kindern im deutschen Schulsystem lieber mit vorausgegangener „Inzucht”. Statt selektiver Bildungsstruktur und jahrzehntelanger Ausgrenzung seien vielmehr „Erbfaktoren für das Versagen von Teilen der türkischen Bevölkerung im deutschen Schulsystem verantwortlich” (Sarrazin 2010: 316).

Die Auswirkungen dieser sozialrassistischen Diskurse auf den Alltagsverstand und das Selbstverständnis von (sozial benachteiligten) Heranwachsenden sind nicht zu unterschätzen. Berichte von Kindern (über ihre Angst davor), auf dem Schulhof als „Hartzer” oder „Opfer” beschimpft zu werden, verdeutlichen dies. Denn natürlich prägen solche unsolidarischen Einstellungen und Verhaltensweisen auch das Denken und Handeln Jugendlicher. Außerdem ist es für Kinder sicherlich nicht einfach, tagtäglich lesen oder sehen zu müssen, dass ihre erwerbslosen Eltern als „faule und asoziale Sozialschmarotzer” bezeichnet werden. Laut Befragung von jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 24 Jahren durch das Marktforschungsinstitut Rheingold im Jahr 2010 lassen sich signifikante Zuspitzungen feststellen. „Panische Absturzangst, massiver Anpassungswille sowie Verachtung für alle, die abgerutscht sind”, seien die zentralen Denk- und Verhaltensmuster vieler junger Erwachsener. „Die Resultate erinnern an die Sarrazin-Debatte. Damit ist die Zwei-Klassen-Gesellschaft angekommen im Denken der Heranwachsen-den” (FR v. 12.9.2010). Selbstredend prägen solche Einübungen in unsolidarisches Verhalten auch Bemühungen Heranwachsender um Kinderöffentlichkeit.

Fazit

Was könnten die Konsequenzen hinsichtlich einer „Kinderöffentlichkeit” sein? Zum einen ist es unerlässlich, die gesellschaftspolitischen Hintergründe und Interessen bei der öffentlichen Darstellung von Kindern zu studieren. Zentrale Frage sollte dabei immer sein, ob es sich nur um Öffentlichkeit über Kinder handelt, oder ob sie selbstbestimmt die Akteure ihrer eigenen öffentlichen Beteiligung sind. Ansonsten lässt sich mit Manfred Liebel sagen: „Wir sollten uns nicht immer wieder auf neue Partizipationsmodelle und -projekte stürzen, für die wir geeignete ‚Zielgruppen‘ suchen, sondern wir sollten genauer hinsehen, wo im Alltag Kinder und Jugendliche ihren Unmut ausdrücken und dabei sind, sich für sich und für andere zu engagieren und zu organisieren. Dazu mögen auch Aktivitäten gehören, die nicht besonders fein sind, z. B. die Kritik an Lehrern in Internetportalen, die Besetzung leer stehender Häuser, die Störung des Autoverkehrs oder Graffiti an Hauswänden oder S-Bahn-Zügen. Es kommt drauf an, die Botschaften auch solcher Aktionen zu verstehen und ihnen ggf zu mehr Resonanz und Wirkung zu verhelfen.” (Liebe12009: 25) Als ein beeindruckendes Beispiel für selbst organisierte Initiativen kennzeichnet Liebel mit Recht z. B. die „Kindergipfel” der Naturfreundejugend, die seit dem Jahr 2000 in eigener Regie von Kindern durchgeführt werden. Denn damit drängen die Kinder Politikerinnen und Politiker dazu, mehr zu tun, um die Lebensgrundlagen heutiger und künftiger Generationen zu sichern. So stand der Kindergipfel vom Mai 2008 unter dem Motto „Kaufen wir uns die nächste Erde?” und rund 120 acht- bis zwölfjährige Kinder haben dabei einen „Zukunftsvertrag” formuliert, in dem sie zahlreiche Forderungen und Selbstverpflichtungen aufstellten. Zum Beispiel zeigen sie darin auf, wie sie eine „gerechte Weltwirtschaft” erreichen, bedrohte Arten vor dem Verschwinden bewahren oder die „Biodiversität” besser erforscht sehen wollen und wie sie selbst dazu beitragen können (siehe: www.kindergipfel.de). Hinzugefügt werden können auch z. B. die selbst organisierten Schülerstreiks, in denen sich Kinder und Jugendliche für ein besseres Lernen und eine bessere Schule starkmachen (www.schuelerstreik.de).

Als ein weiteres Beispiel nennt Liebel die Initiative „Hiergeblieben!” des Berliner Grips-Theaters, das mit seinen Erfahrungen und Möglichkeiten die Selbstorganisation von jungen Flüchtlingen unterstützt. „Die auf diese Weise entstandene Gruppe ,Jugendliche ohne Grenzen‘ ist mittlerweile bundesweit mit äußerst phantasievollen Aktionen aktiv und beehrt jedes Jahr einen Politiker oder eine Politikerin mit dem Preis ,Abschiebeminister`. Sie beschränkt sich aber nicht auf die Kritik an den Obrigkeiten, sondern ermutigt auch andere Menschen gleich welchen Alters, sich für die Rechte von Flüchtlingen einzusetzen (siehe: www.jogspace.net)” (Liebel 2009: 26). In diese Richtung sollte der Einsatz für Kinderöffentlichkeit solche und andere vergleichbare selbst organisierte Initiativen von Kindern und Jugendlichen, die es bereits in beachtlicher Zahl gibt, stärker beachten und unterstützen.

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