Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 235: Zwei Jahre Corona - und wie weiter?

Zum Umgang mit beruflich Pflegenden in der Corona-Pan­demie und zur Forderung des Neudenkens einer Pande­mie­ethik

Die pandemiebedingt ansteigenden Patient*innenzahlen und längere intensivmedizinische Behandlungen haben unser Gesundheitssystem schnell an den Rand seiner Funktionsfähigkeit geführt. Dessen Leistungsfähigkeit ist jedoch weniger von der Zahl verfügbarer Beatmungsgeräte oder freier Betten abhängig, sondern vor allem vom medizinischen und pflegerischen Personal. Wie dessen ohnehin hohe Arbeitsbelastung unter der Pandemie weiter zugenommen hat, wie wenig dabei auf gesundheitliche Risiken für die Pflegenden geachtet wurde und welche Anerkennung ihnen bis heute verwehrt wird, kommentiert Monja Schünemann, die selbst in der Pflege arbeitet, im folgenden Beitrag.

Krieg, Krisen und Krankenpflege verbindet ihre gemeinsame Historizität. Es waren immer Zeiten der Not, in denen Pflege, die sonst alltäglich schien, besonders sichtbar wurde, und mit diesen Phänomenen wurden immer schon extreme Anforderungen an die Pflege per se gestellt. In Homers Odyssee war es die Pflegerin Eurykleia, die gemeinsam mit dem heimgekehrten Odysseus den Kampf um das Königreich ausfechten musste, während Königin Penelope den Schlaf der Privilegierten schlief.[1] Dass insbesondere in Zeiten einer Pandemie die Chancen auf das eigene Überleben signifikant sinken, wenn niemand da ist, der die Kranken pflegt, ist keine Erkenntnis unserer Zeit. Schon als der Schwarze Tod wütete, beklagten die Chronisten der Pest, dass die Angst der Leute vor dem eigenen Erkranken sie davon abhielt, durch Pflege das Überleben der Erkrankten zu ermöglichen. So berichtete der Notar Gabriele de Mussis (1280-1356) aus Piacenza: „Und während ein Erkrankter so furchtbar litt, stieß er Klagerufe aus: ‘Kommt, meine Verwandten und Nachbarn, reicht mir einen Tropfen Wasser, ich habe Durst. Ich lebe noch! Habt keine Angst! Vielleicht werde ich weiterleben! Fasst mich an, berührt doch meinen elenden Körper!‘[2] Und schon Boccaccio wusste, dass es darauf ankam, dass diejenigen, die die Pflege ausübten, geschult in ihr sein mussten. „Deshalb blieb für die unzählige Menge von Männern und Frauen, die erkrankt waren, keine andere Hilfe als das Mitleid der Freunde, von denen es freilich wenige gab […] Und die, welche es taten, waren Männer und Frauen von grobem Sinn und meist in einem solchen Dienst unerfahren. Sie machten nichts anderes, als den Kranken darzureichen, was sie verlangten und zuzusehen, wie sie starben.[3] Diejenigen, freilich, die die Pflege in der Pest versahen, starben fast immer selbst.[4]

So verwundert es nicht, dass in der Corona-Pandemie die Aufmerksamkeit schnell auf der mittlerweile professionellen Pflege lag und sich Kriegssprache in die Berichte über Pflege mischte. Von Coronahelden war die Rede und von der Coronafront. Das Heldennarrativ verband so implizit die Aufforderung an die beruflich Pflegenden, sich aufzuopfern und tugendhaft ihre Einsatzbereitschaft am Mitmenschen aufzubieten. [5] Dass damit jedoch ein Rückgriff auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert erfolgte, in dem man das Normativ aufstellte, Pflege habe sich willig für das Wohl der anderen zu opfern und auf die eigenen Rechte als Arbeitnehmer zu verzichten, war denjenigen, die es nutzten, nicht präsent.[6] Ebenso wenig die Tatsache, dass die Profis kein Interesse daran hatten, ihr Leben als Helden der Pandemie zu beenden, und längst im postheroischen Zeitalter angekommen waren. [7]Dass Gotteslohn, Klatschen vom Balkon und Heilsversprechen keinen akzeptablen Lohn für die harte und gefährliche Arbeit darstellten – allein die Branche der Altenpflege war mit 14,8 Millionen Überstunden in die Pandemie gestartet, davon 5,8 Millionen unbezahlt und unabgegolten[8]–, interessierte die Politik wenig, die schnell utilitaristisch auf die Berufsgruppe blickte und nach ihr griff; wenn nicht freiwillig, dann doch mit Gewalt. Von Zwangsrekrutierungen derer, die schon lange den Beruf wegen der schlechten Arbeitsbedingungen aufgegeben hatten, war schnell die Rede, um den Bedarf zu decken,[9] ebenso von Zwangsimpfungen. Und der jetzige Gesundheitsminister Bayerns verstieg sich gar zu der Aussage, Vergelt’s Gott sei auch keine schlechte Währung.[10]

Im Feld der beruflich Pflegenden liegt die Majorität bei den Frauen. 83% in der Altenpflege und 80% in der Krankenpflege, [11]unberücksichtigt dabei sind die geschätzten 300.000 Pflegenden aus Osteuropa, die in der Grauzone der 24/7 Pflege tätig sind[12]. Es besteht kein Zweifel, der symbolische Körper der Pflege ist weiblich. [13]

Und wenn Bodo Ramelow auf Twitter zu den Risiken der Pflegenden twitterte, 80% der infizierten Menschen [aus der Pflege] würden leichte oder keine Symptome haben,[14] dann stellt sich die Frage, ob einem Politiker die übrigen 20%, deren Leid und deren Tod, gleichgültig bleiben dürfte. 270 Leben beruflich Pflegender hat die Pandemie bislang in Deutschland gekostet, unbeachtet von Medien oder der Öffentlichkeit, 161.184 beruflich Pflegende infizierten sich.[15] Welche Folgen das für die Einzelnen hat, ob sich Long-Covid-Symptome zeigen oder die Lebensqualität und Erwerbsfähigkeit der Profis noch eingeschränkt sein wird, liegt noch immer im Dunkeln der Berichterstattung.

Angesichts dieser Zahlen besteht kein Zweifel: mit der Gesundheit und dem Leben derer, die dazu verdammt wurden, das Land zu retten, wurde rücksichtslos umgegangen und das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Arbeitsschutz förmlich ausgesetzt. Es benötigt eine Pandemieethik, aus der ganz klar hervorgeht, dass ein Leben, nämlich das der Pflegenden, nicht weniger wert sein darf als das derjenigen, die gepflegt werden. So gab es lange keine Masken und keine Infektionsschutzkleidung für die Beschäftigten, die teilweise ihre Masken daheim selbst ausbacken mussten. Und nicht nur das. Auch in den gesetzlichen Regelungen zum Infektionsschutz klafft eine gefährliche Lücke, die es zu schließen gilt. Das Robert-Koch-Institut gibt Empfehlungen aus, die auf Händedesinfektion und die persönliche Schutzausrüstung setzen, doch schon vor der Pandemie war klar, dass unter den bestehenden Bedingungen in den Einrichtungen gar keine Zeit zum Hände-Desinfizieren ist. [16]
Die Beschaffung der Schutzausrüstung (Handschuhe, Kittel, Masken) ist in den Technischen Regeln für Biologische Arbeitsstoffe (TRBA) geregelt.[17] Diese Regeln besagen, dass die Auswahl der Ausrüstung auf der Grundlage der Gefährdungsbeurteilung durch den Arbeitgeber zu erfolgen habe. Das ist perfide, denn die Privatisierung der Gesundheitsbetriebe sieht die Gewinnmaximierung vor, und während die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene, die unabhängig von den TRBA ist, schon im Normalfall den Einsatz von Schutzkitteln nach DIN EN 14126 vorsieht und für den Einsatz bei schweren Infektionen Schutzoveralls empfiehlt, ist der Einsatz von DIN-Material in den TRBA nicht geregelt. Wie kann es sein, dass die Standards der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene sich nicht in den TRBA wiederfinden? Gerade die Eignung von Schutzkitteln aber ist durch den Arbeitnehmer, dessen einzige Pflicht es ist, das bereitgestellte Material zu tragen, nicht zu durchblicken. An den Farben lässt sich die Eignung nicht erkennen, sondern die Nummer der einzelnen Materialien und der jeweiligen Firmen wäre zu prüfen, wenn sich der einzelne Arbeitnehmer in Sicherheit wissen will. Konkret bedeutet das, dass es zwar DIN-Normen für Schutzkittel gibt, doch niemand verpflichtet den Betrieb, diese zu wählen. Das Entsetzen, das Pflegende in den ersten Wellen ergriff, als sie feststellten, dass die Schutzausrüstung unzureichend bis nicht vorhanden ist, teilten sie auf Twitter unter dem Hashtag #keinIsomaterialfürCorona. In den bildaffinen sozialen Medien fanden sich Bilder von Mitarbeitenden, die diesen Umstand fotografisch dokumentierten.

Wem das noch nicht reicht, der sei daran erinnert, dass das Bundesgesundheitsministerium medizinisch untaugliche Masken an Einrichtungen lieferte, sie dort quasi verklappte und sich darauf zurückzog, es habe sich bei diesen „Masken-Hilfspaketen“ um „eiserne Reserven“ gehandelt.[18] Nicht nur das. Während es bislang völlig unklar, weil medial nicht aufgearbeitet ist, ob und wenn, in welcher Höhe das Leben der beruflich Pflegenden gegenüber den Hinterbliebenen wenigstens monetär abgesichert ist, verdienten Politiker an sogenannten Maskendeals Millionen. Diejenigen also, die gewählt waren, um die Daseinsvorsorge zu sichern, bereicherten sich haltlos, während diejenigen, die unter diesen Bedingungen arbeiteten, und eben zumeist Frauen sind, ihr Leben ließen und das mittlerweile regredierte und höhnisch anmutende Heldennarrativ unsichtbar erfüllten. Es ist nicht bekannt, dass Betten seitens der Träger gesperrt wurden, wenn die Pflegenden unter unzureichenden Schutzmaßnahmen hätten arbeiten müssen.

Auch Maßnahmen der Prävention, die andere Länder sofort initiierten, um ihre Mitarbeitenden im Gesundheitswesen vor dem Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS) und anderen mentalen Erkrankungen zu schützen, waren hier nicht einmal der Erwähnung wert. Obwohl die Branche seit Jahren die Listen der mentalen Krankheiten wie Depression, Burnout, Coolout und Erschöpfung anführt, sahen sich weder Betreiber noch die Regierung genötigt, einfachste Maßnahmen gegen die sogenannte Moralische Verletzung (einem Transfer aus dem militärischen Bereich, der in England etabliert wurde) auch nur anzusprechen.[19] Im Gegenteil, die erschöpften Mitarbeitenden sollten sich in ihrer Freizeit dann noch selbst reflektieren und aktiv auf die wenigen Hotlines zugehen. Ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man am Rande der Kraft ist.

Die Unsichtbarkeit der Pflegenden geht gesellschaftlich bis hin zur Verdinglichung und somit zur Entmenschlichung. Die Frage, die sich in den Pandemiewellen immer wieder stellte: Wie viele freie Intensivbetten stehen zur Verfügung? Dass es aber allein mit dem Bereitstellen eines Bettes im DIVI-Register nicht getan ist, wenn niemand da ist, der pflegt, beatmet und betreut, geht bei der Frage völlig unter. Die Pflegenden werden so zur Bettenkapazität, zum Ding. Nur so war es möglich, dass es überhaupt der Rede wert ist, die Frage zu stellen, was denn genau ein Corona-Inten­siv­bett überhaupt sei, als der Verdacht der Schummelei bei der Meldung von Intensivbetten seitens der Kliniken aufkam.[20] Das liegt auch daran, dass es sich die Bundesregierung mit der Aussetzung der PPuG, der Pflegepersonaluntergrenzen, sehr einfach gemacht hat. Diese Personaluntergrenzen regeln die Mindestbesetzung, also die Nurse-Patient-Ratio.[21] Nirgends ist sie in Europa und den USA schon ohne Pandemie so schlecht wie in Deutschland, wo auf einer peripheren Station 13 Patient*innen auf eine*n beruflich Pflegende*n kommen (USA: 5,3 Patienten).[22] Nun, in der Pandemie, als es besonders in den Intensivpflegebereichen (Normal: 1:2) bei den hochgradig instabilen COVID-Patienten darauf angekommen wäre, exzellente Pflege zu sichern, wurden also diese Grenzen ausgesetzt und – en plus – das Arbeitszeitgesetz ausgesetzt. Nicht nur konnten und mussten Pflegende also noch mehr zu Pflegende betreuen, bei denen es um nichts weniger als das Leben ging, sondern auch das Anderthalbfache der Arbeitszeit, also zwölfstündige Schichten leisten.[23] Diese Umstände bildeten dann das sogenannte stabile und tragfähige Gesundheitssystem ab, obwohl es alles andere markiert als das. Mit dem eleganten Wording und Handeln spielte die Regierung nicht allein mit dem Leben und der Gesundheit der Pflegenden, sondern auch mit dem Leben der Bürger. Während man nämlich hierzulande allein das vorhandene oder nicht-vorhandene Bett als Maßstab setzt, ist in der akademisierten Pflege der anderen Länder in Studien längst erwiesen, dass die Nurse-Patient-Ratio für ein Überleben von Kranken der einzig tragfähige Marker ist und die Sterblichkeit signifikant steigt, je niedriger die personelle Ausstattung ist.[24] Das nochmalige Erhöhen der Patientenzahlen pro Pflegendem war also definitiv nicht dem Überleben der instabilen Patienten mit COVID auf den Intensivstationen oder gar dem Verlauf der Hospitalisierung dienlich. Diesen Akkord zahlten beruflich Pflegende mit ihrer Kraft, ihrer mentalen Gesundheit und mit ihrem Leben.

Die Frage, die sich unsere Gesellschaft stellen lassen muss: Ist es ethisch vertretbar, Menschen einen Beruf lernen zu lassen, der ihnen eine ganzheitliche Pflege von Pflegebedürftigen verspricht, der einen therapeutischen Ansatz verspricht und der nicht nur im Alltag, sondern besonders in Extremsituationen, trotz allen medizinischen Fortschritts, nicht den besonderen Fokus darauf legt, diejenigen, die uns schützen sollen, zuerst zu schützen, damit sie uns schützen können? Die Frage ist besonders prekär, weil Pflegende eben keinen Querschnitt der Gesellschaft abbilden, sondern in der Mehrheit Frauen sind, von denen eine zumeist männliche Politik erwartet, dass sie sich und ihr Leben opfern. Der rote Faden, der sich durch die Pandemie zieht, zeigt deutlich, dass mit der abwertenden Haltung gegenüber weiblichen Pflegenden doch eine misogyne Haltung gegen Frauen einhergeht. Die ist mit einer Gesellschaft, die betont, dass es keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern gäbe, nicht in Einklang zu bringen. Wie kann es sein, dass sich Politiker an der Not der Pflegenden, die keine Schutzausrüstung haben, monetär bereichern, während sie gleichzeitig auf jenseitigen Lohn, den Gotteslohn, der schon immer der Lohn der Pflegenden gewesen ist, verweisen und nicht verstehen wollen, dass die intrinsische Motivation schon seit einhundert Jahren von der Berufung zum Beruf verlagert wurde, der selbstverständlich Schutz, Vergütung und Arbeitnehmerrechte beinhaltet – von den Grundrechten ganz abgesehen.

Dabei sind es auch auf dem pflegepolitischen Sektor noch viel zu oft männliche Protagonisten, die den überwiegend weiblichen Mitarbeitenden der beruflichen Pflege die Richtung weisen wollen und eine Bühne dafür bekommen, ungeachtet dessen, dass sie nicht die pflegerische Realität der geschlechtsspezifischen Verteilung darstellen. Gerade nämlich, als die sonst von der Politik links liegengelassene Berufsgruppe sich in der Pandemie ihrer Systemrelevanz bewusst wurde und auf Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen pochen wollte, mehrten sich Artikel, die das als „Polemik“ abtaten und darauf pochten, erst sei die Pandemie zu bewältigen, dann werde die Zeit kommen, in der „wir gehört werden“. Die Branche solle zeigen, was sie leisten könne, das sei ihre Chance.[25] Ausgerechnet die Branche, die seit Dekaden mit Millionen unabgegoltener Überstunden, Schichtdienst und einer Verantwortung für Leib und Leben unter den schlechtesten Personalbedingungen in Europa auskommen muss, sollte sich beweisen. Das scheint zynisch. Und so sei hier nur angemerkt, dass der Autor des zitierten Artikels zeitgleich ein Aufruf für seine Mitarbeitenden verfasste, in dem es hieß, die Mitarbeitenden seiner Klinik sollten unbedingt ihren Dienst versehen, das Krankenhauspersonal sei für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung verantwortlich, Probleme bei der Kinderbetreuung sollten deshalb nicht von Klinikmitarbeitenden, sondern von Familienangehörigen ausgeübt werden, die selbst nicht in Gesundheitsberufen arbeiten würden.[26] Es genügt nun nicht mehr das Heilsversprechen, der Gotteslohn, pflegerisch tätige Eltern sollen nun ihre Kinder dem Beruf opfern, sie vernachlässigen. Dass Eltern ebenso verantwortlich für das Wohl der eigenen Kinder sein könnten und Pflegende neben der beruflichen Rolle auch eine Vielzahl anderer sozialer Rollen innehaben, scheint völlig an der Führungsebene und der Politik vorbeigegangen zu sein. Die unsichtbaren und auf Bettenkapazitäten reduzierten Arbeitnehmenden sollten sich ihrer Rolle der Elternschaft entledigen, damit die Pandemie läuft. Eine Forderung, die ebenso ein Rückgriff auf das 19. Jahrhundert ist, als Pflegende noch unverheiratet und/oder in klösterlicher Gemeinschaft pflegten, damit sie ihre weibliche Seite wenigstens am Kranken durch den Liebesdienst erfüllen konnten.[27] Was das mit Kindern beruflich Pflegender macht, die eh unter dem Schichtdienst ihrer Eltern leiden, wird bislang nicht hinterfragt. Nicht hinterfragt ist auch, was es mit Pflegenden macht, die durch die mittelalterlichen Horenzeiten, zu denen auch heute noch die Schicht beginnt, sowieso schon auf Kinderbetreuungszeiten jenseits jeder pädagogischen Vorstellung angewiesen sind, wenn nun statt acht Stunden zwölf Stunden Dienst angesetzt werden und dazu noch Kitas und Schulen geschlossen haben. Dass es in der Pandemie einer moralischen Verletzung gleichkommt, wenn Pflegende einerseits Corona-Patient*innen behandeln sollen, gleichzeitig aber erleben, wie massenhafte Demos, die die Pandemie leugnen, durch die Städte ziehen und eben diesen Pflegenden dann verwehrt wird, ihre eigenen Kinder zu schützen, liegt auf der Hand.

Nirgends zeigt sich die Doppelmoral der auf die Pflege angewiesenen Gesellschaft so deutlich wie bei der Frage, wann, ob und wie Pfleger*innen für ihre Arbeitnehmerrechte und Arbeitsbedingungen kämpfen sollen. Während es klar ist, dass ein besserer Personalschlüssel wichtig und richtig für ein qualitatives Outcome der Patienten ist, tun wir so, als würde Pflege Arbeitskampf für sich und nicht für die betreiben, die sie betreut und pflegt. Auf der einen Seite wird die Frage, wann denn mit besseren Bedingungen in der Pflege zu rechnen sei, mit der Bemerkung abgetan, die Berufsgruppe streike ja nicht, so könne sich ja nichts ändern.[28] Auf der anderen Seite unterschlägt das Arbeitsgericht Berlin, wenn es Streiks wie den am 8. und 9. Juli 2021 geplanten mit der Begründung untersagt, dass ohne Notdienstvereinbarung Gefahren für Leib und Leben der Patient*innen nicht ausgeschlossen werden könnten,[29] dass es nicht der Streik ist, sondern die Normalbedingungen, die Leib und Leben der Patient*innen und der Mitarbeitenden gefährden.

Was nichts kostet, ist nichts wert.“ Die Maxime lässt sich als Gleichung auch auf beruflich Pflegende in der Pandemie übertragen. Was uns nichts wert ist, kostet nichts. So kam der versprochene Coronabonus, der gewiss die Strapazen der Infektionswellen weder mental noch monetär ausgleicht, bei vielen nicht nur nicht an. Konfrontiert sahen sich viele Pflegende, die den Bonus erhielten, nun auch mit der Tatsache, dass es nichts war mit der angeblichen Steuerfreiheit der Prämien. Die Prämien von 2020 und 2021 werden addiert, der Steuerfreibetrag erhöht sich hingegen nicht.[30] Wem das nicht genug war und wer auf die kleinen Goodies der privatwirtschaftlich betriebenen Ketten angewiesen war, war dabei keinesfalls besser dran. So verschickte der Konzern Asklepios an 50.000 seiner Mitarbeitenden Fake-Gutscheine des Online-Riesens Amazon, die sich als Phishing-Simulation herausstellten.[31] Unvergessen auch, wie auf den Rücken der Pflegenden Symbolpolitik betrieben wurde. Dabei standen keinesfalls die Pflegenden im Vordergrund, sondern billigste Pseudo-Wertschätzung, bei der sich die Politik in den Vordergrund derer drängelte, die sie gerade so verhöhnte. Legendär dabei ist der Lavendelbusch geworden, den Malu Dreyer den Coronahelden der gesamten Universitätsklinik Mainz widmete – und den die Mitarbeitenden in einer nächtlichen Aktion wieder ausgruben und vor den Landtag zurückwarfen. Auch Dosenwurst und vegetarischer Brotaufstrich wurde eifrig verteilt, um schwer arbeitenden Menschen angebliche Wertschätzung entgegenzubringen.[32] Er ist eben billig, der weibliche Liebesdienst der Pflegenden, den man in Deutschland einfach nicht als Profession mit professionellen Bedürfnissen und Rechten wahrnehmen will, im Wortsinn „ums Verrecken nicht“. Und das trotz des Bewusstseins, dass der Kipppunkt für das Erreichen eines stabilen Gesundheitssystems für die Zukunft längst überschritten wurde. Bis 2021 fehlten laut Statistischem Bundesamt 112.000 beruflich Pflegende, die die Bedürfnisse der Gesellschaft bezüglich pflegerischer Versorgung auf allen Ebenen decken könnten – wohlbemerkt auf dem geschilderten niedrigen Niveau und keinesfalls auf einem, das den modernen Anforderungen an einen Personalschlüssel mit einem guten Outcome für Patient*innen nachkäme![33]Eine Studie der Vereinigung der Pflegenden in Bayern ergab, dass wir durch den Personalnotstand in eine humanitäre Katastrophe laufen.[34]  So viel Ignoranz gegenüber einem Gemeinwesen, das bedingt durch Klimawandel und Globalisierung sicher nicht die letzte Pandemie durchgemacht hat, können wir uns nicht leisten. Beratung diesbezüglich ist auf der politischen Ebene nicht gewünscht. Die vermeintlich beruflich Pflegenden haben keinen Sitz in den Krisengremien, wie die Präsidentin des Pflegerats, Frau Vogler, zurecht bemängelte. [35]

Was zu tun ist, um eine Pandemie nicht nur auf dem Rücken einer geschundenen Berufsgruppe auszutragen, die heute wie schon seit der Antike im Alltag unsichtbar gemacht und marginalisiert wird, liegt auf der Hand. Zuerst müsste unsere Gesellschaft sich eingestehen, dass sie in der Pandemie ein riesiges Defizit mit dem Wert weiblichen Lebens gezeigt hat, dass sie nicht bereit war, es mit den gebotenen Mitteln zu schützen oder den Einsatz ungeschützter Pflegender zu untersagen. Der Orientierung an der „Bettenkapazität“ muss eine Absage erteilt werden, damit Pflegende nicht ungeschützt einer tödlichen Krankheit ausgesetzt werden. Es ist unabdingbar, dass schleunigst, nicht nur in der Pandemie, die Gefahren mentaler Krankheiten, die dem Berufsfeld Pflege schon außerhalb der Pandemie innewohnen, abgewendet werden können, damit Menschen von Menschen versorgt werden, die selbst gesund und nicht selbst psychiatrische Patienten am Limit sind. Vor dem Einzug in das (um nun auch einmal Kriegssprache zu nutzen) Amphitheater der Corona-Gladiatoren ist zu klären, wie die besonderen Leistungen, die eine Gesellschaft von ihren Pflegenden erwartet, abgegolten werden, wie ihre Leben versichert sind. Es muss selbstverständlich sein, dass ein Mitarbeitender, der sich mit einer pandemischen Erkrankung infiziert, nicht durch Berufsunfähigkeit monetär nach dem Ereignis schlechter gestellt ist als vorher. Die Kinderbetreuung ist abzusichern und/oder die Kapazitäten darauf auszurichten, dass Pflegende ebenso Eltern sind wie diejenigen Mitarbeitenden in den Verwaltungen. Der Beruf der Eltern, der sie so fordert, darf nicht zur Belastung für die Kinder beruflich Pflegender werden. Wir müssen verstehen lernen, dass wir die Qualität der Versorgung nicht nach Dinglichkeit, sondern nach Menschlichkeit ausrichten müssen und dass ein Bett als Material nichts für uns tut, wenn niemand da ist, der denjenigen, der in ihm liegt, fachgerecht betreut. Frauen sind kein Ding! Das Wording der Dinglichkeit zu stoppen kann dabei helfen, Pflegende als das wahrzunehmen, was sie sind: arbeitende Menschen, die weit über vorstellbare Grenzen hinaus gegangen sind. Utilitaristische Sichtweisen, die auf den zumeist weiblichen Körper zugreifen und ihm durch Unterlassen Gewalt antun oder ihm Schaden zufügen, werden sich in das kollektive Gedächtnis einbrennen und keinesfalls dazu beitragen, dass künftig junge Menschen diesen Beruf ergreifen wollen. Es muss ein Umdenken stattfinden, damit Menschen verstehen, dass es nicht die Pflegenden sind, die für ihre besseren Arbeitsbedingungen streiken müssen, sondern dass wir uns für eine menschenwürdige Nurse-Patient-Ratio einsetzen müssen, wenn wir unsere Versorgungssituation verbessern möchten. Die beruflich Pflegenden schulden uns nichts. Sie müssen keinesfalls in eine eingebildete Vorleistung gehen, die wir dann honorieren. Sie sind jahrelang unhonoriert in Vorleistung gegangen; In einer Pandemie, in der es eklatante Lücken bei der Sicherstellung ihres Schutzes gab! Vielleicht, das müssen wir uns immer vor Augen halten, weil es zumeist Frauen sind, deren Leistungen wir als altruistisch framen, damit wir uns der Verantwortung nicht stellen müssen, die wir als Gesellschaft für diejenigen tragen, die unsere Daseinsfürsorge durchsetzen. Frauen, auf deren Rücken in Deutschland eine Pandemie ausgetragen wurde, in der alle maximale medizinisch-pflegerische Sicherheit einforderten, ohne sie aber den Pflegenden selbst zu bieten. Sie sind tot und nichts bringt sie wieder. Jede andere Haltung, das Ignorieren der Tatsache, dass mit dem Pflegeberuf, von dem wir alle abhängen, ein feministisches Problem einhergeht, weil wir diesen Beruf in uralten Paradigmen fesseln, steht nah am Femizid, wenn wir uns dieser Tatsache nicht stellen. Eine Pandemieethik ist demnach unabdingbar, denn wer Kriegssprache mit der des Helfens aus Tradition heraus verflicht, der muss eine Pandemieethik zur Verfügung stellen, wie er selbstverständlich auch eine Kriegsethik zur Verfügung stellt. Healthcare is a Humans Right. Aber gerade das schließt ein, dass Mitarbeitende des Gesundheitswesens diejenigen sind, die wir zuvorderst schützen müssen. Eine Gesellschaft im 21. Jahrhundert muss weiter sein als eine mittelalterliche Gesellschaft zu Zeiten des Schwarzen Todes, als man den Tod der Pflegenden bedauernd hinnahm. Der Schlaf der Privilegierten, wie ihn Penelope schlafen konnte, während die Pflegende kämpfte, muss in einer Demokratie der Vergangenheit angehören.

 

Monja Katja Schünemann Jahrgang 1970, ist Fachpflegekraft für Leitungsaufgaben, Historikerin, Publizistin. Langjährige Lehrbeauftragte der Humboldt-Universität zu Berlin der mittelalterlichen (Medizin)Geschichte mit zahlreiche Artikelveröffentlichungen. Sie engagiert sich im Bereich der Gesundheitspolitik, insbesondere für professionelle Pflege, ist Präsidentin des Europäischen Pflegerats e.V.

Anmerkungen

  1. Homer: Odyssee, übers. von J. Voß, Köln 2018, S. 847f.
  2. Gabriele de Mussis: Ystoria de morbo sive mortalitate quae fuit anno Domini 1348, ed. Bergdolt: 50 Quellen zur Pest, Heidelberg 1989, S. 19
  3. Bocaccio: Il Decamerone, ed. Bergodlt, S. 49.
  4. Gabriele de Mussis: Ystoria, S. 23.
  5. Zu Heldeneigenschaften vgl. Heinrich Beck; Hermann Reichert, Heinrich Tiefenbach: Held, Heldendichtung und Heldensage“, in: Dieter Geuenich/Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14, Berlin/NY 1999, S. 260-282.
  6. Vgl. Monja Schünemann: „‚Ihr Herz ist ihr Tarifvertrag gewesen […]‘. Kirchliche Personalpolitik für Krankenschwestern in der Zeitschrift ‚Krankendienst‘ 1920-1930, in: Geschichte der Pflege 1 (2017), S. 27-38.
  7. Nina Halberg et al.: “We are not heroes. The flipside of the hero narrative admist the COVID-19-pandemic: A Danish hospital ethnography”, in: JAN 77.5 (2021), S. 2429-2436.
  8. Phillipo Sandmann: Millionen Überstunden werden nicht bezahlt, in: n-tv.de 20. April 2021.
  9. N.N: „Niedersachsen nimmt Abstand von Plänen zur Zwangsrekrutierung“, in: Ärzteblatt 4. Juni 2020 (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113519/Niedersachsen-nimmt-Abstand-von-Plaenen-zur-Zwangsrekrutierung)
  10. Monja Schünemann: „Weiße Wut“, in: Die Zeit Nr. 3/2021 v. 13.1.2021 (https://www.zeit.de/2021/03/impfpflicht-pflegekraefte-corona-gesundheitssystem-markus-soeder).
  11. Rainer Radtke: Verteilung sozialversicherungspflichtig Beschäftigter in der Pflege in Deutschland 2020, (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1029877/umfrage/verteilung-von-pflegekraefte-in-deutschland-nach-pflegeart-und-geschlecht/)
  12. https://www.morgenpost.de/web-wissen/gutgepflegt/article216632515/300-000-osteuropaeische-Pflegekraefte-in-deutschen-Haushalten.html.
  13. Zur Zwei-Körper-Theorie vgl. Ernst Kantorowicz: The King’s two Bodies. A Study in Medieval Political Theory, Princeton 1957.
  14. Monja Schünemann, Weiße Wut, S. 11; der Tweet wurde mittlerweile gelöscht.
  15. RKI: Lagebericht vom 09.07.2021.
  16. https://www.verdi.de/themen/gesundheit/++co++65ebc8c2-97b6-11e7-8546-525400b665de
  17. TRBA, 4.2.6.
  18. Hannah Decke: „FFP2-Masken der Regierung „untauglich“? AWO mit Warnung – Bund reagiert auf Vorwürfe, 16.12.2020 (https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/ffp2-masken-pflegeheime-awo-warnung-bundesregierung-westfalen-dortmund-jens-spahn-90131583.html?fbclid=IwAR0eGAaiMF8NKyDVxvOyizu69lKXdKlREx3ZdOOX349oVGNZkVs-lJN6tTc)
  19. N. Greenberg: Managing mental health challenges faced by healthcare workers during covid-19 pandemic, in: BMJ 368 (2020); Silke Jäger: „Der wahre Grund, warum Pflegekräfte aufgeben“, in: Krautreporter v. 4.5.2021 nahm darin Bezug auf meinen Blog, in dem ich das Problem thematisiert hatte.
  20. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-intensivbetten-bundesrechnungshof-divi-100.html .
  21. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/personaluntergrenzen.html.
  22. https://de.statista.com/infografik/16676/patientenzahl-pro-pflegekraft-im-internationalen-vergleich/.
  23. https://www.dgbrechtsschutz.de/recht/arbeitsrecht/arbeitszeit/themen/beitrag/ansicht/arbeitszeit/wegen-corona-bundesarbeitsminister-erlaubt-arbeitstage-von-bis-zu-zwoelf-stunden/details/anzeige/.
  24. Matthew D. McHugh et al.: “Effects of nurse-to-patient-ratio legislation on nurse staffing and patient mortality, readmissions, and length of stay: a prospective study in a panel of hospitals”, in: The Lancet 397 (2021), S. 1905-1913.
  25. Arne Evers: Schluss mit der Polemik – oder: Pflege nach Corona, in: Bibliomed Manager, 23.03.2020.
  26. Der in der Klinik ausgehangene Hinweis liegt als Fotografie vor.
  27. Monja Schünemann, Ihr Herz ist ihr Tarifvertrag gewesen; grundsätzlich zu Frauen im Pflegeberuf vgl. Claudia Bischof-Wanner: Frauen in der Krankenpflege, Frankfurt a.M, 1984.
  28. Karsten Polke-Majewski: „Dann streikt doch endlich“, in: Die Zeit 28.02.2018 (https://www.zeit.de/ arbeit/2018-02/krankenpflege-krankenhaeuser-ueberlastung-arbeitsbedingungen).
  29. AZ. ArbGer Berlin 17 Ga 7033/21.
  30. Dietrich Mittler: „Steuer auf Corona-Prämie,“ in: Süddeutsche online, 09.Juli 2021.
  31. https://www.kreiszeitung.de/deutschland/asklepios-veraeppelt-mitarbeiter-und-stellt-fake-gutschein-von-amazon-aus-zr-90854002.html.
  32. https://www.hessenschau.de/gesellschaft/wir-fuehlen-uns-beleidigt-warum-corona-helden-in-der-pflege-so-grossen-frust-schieben,corona-altenpflege-krankenpflege-100.html; https://www.bild.de/regional/frankfurt/frankfurt-aktuell/sie-halfen-corona-patienten-dosenwurst-als-dankeschoen-fuer-pflegekraefte-72527506.bild.html.
  33. iHolger Buxel: „Krankenhäuser. Was Pflegekräfte unzufrieden macht“, in: Ärzteblatt, 108.17 (2011), S. A946-48.
  34. Vgl. VdP Bayern: Monitoring Pflegepersonalbedarf Bayern 2020, München 2020.
  35. DPR: Krisenbewältigung nur noch mit der Profession Pflege, in: Altenpflege-online.de, 12. Juli 2021.
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