Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 235: Zwei Jahre Corona - und wie weiter?

Stärken und Schwächen der Bericht­er­stat­tung über Corona*

Der journalistischen Berichterstattung und Kommentierung kommt gerade in Krisenzeiten eine wichtige Kontrollfunktion zu. Inwiefern die deutschsprachigen Medien dieser Ausgabe gerecht wurden, welche problematischen Tendenzen es in der Corona-Berichterstattung gab und wie dem im redaktionellen Alltag zu begegnen wäre, darauf geht der folgende Beitrag aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive ein

Viele Journalistinnen und Journalisten haben in den letzten Monaten im Ausnahmezustand in der Corona-Berichterstattung Einzigartiges geleistet, oftmals im Home-Office. Das verdient Anerkennung – und dennoch ist unsere Medienwelt nicht in Ordnung. Vor allem mangelt es an Aufklärung über systemische Mängel im Journalismus, die schwere gesellschaftliche Folgen zeitigen. Die Medien selbst schweigen sich dazu meist aus, während andere zu recht fürchten, an den Pranger gestellt zu werden, wenn sie auch nur zaghaft und satirisch darauf hinweisen – wie kürzlich einige der 52 Schauspielerinnen und Schauspieler in der Wir machen alles dicht-Kampagne.

Corona in den Nachrichten

Zwei erste wissenschaftliche Studien gaben der Corona-Berichterstattung zunächst gute Noten: Im Blick auf die deutsche Berichterstattung gelangte ein Forscherteam von Thorsten Quandt (Universität Münster) zum Urteil, die klassischen Medienhäuser hätten „in den ersten drei Monaten seit Ausbruch des Coronavirus mit einer differenzierten Berichterstattung auf die Pandemie“ reagiert, „die von keiner systematischen Dramatisierung geprägt war“ (Universität Münster 2020; Quandt et al. 2020). Ähnlich positiv die Einschätzung der Forscher im südlichen Nachbarland. Die Berichterstattung in der Schweiz sei „qualitativ relativ hoch“ gewesen, heißt es in einer Forschungsarbeit des Teams von Mark Eisenegger vom Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich (fög). Defizite habe „es jedoch beim Umgang mit Zahlen und Statistiken“ gegeben, und viele Medien hätten sich „in der sensitiven Phase“ vor dem ersten Lockdown als „zu wenig kritisch“ erwiesen (Universität Zürich 2020; Eisenegger et al. 2020; später: fög 2020).

Die wichtigste Frage, um die Qualität der Corona-Berichterstattung angemessen zu bewerten, haben beide Forscherteams indes gar nicht gestellt: Hat die exzessive, ja geradezu corona-monomane Berichterstattung in den Wochen vor und während der Corona-Schockstarre im Frühjahr 2020 und auch seither in der zweiten und dritten Welle Angst, ja Panik erzeugt und politische Kollateralschäden gezeitigt? Hat bei Corona womöglich nicht die Politik die Medien vor sich hergetrieben, sondern hat umgekehrt die verspätete, dann aber extrem umfangreiche Corona-Berichterstattung der Medien die Politik immer wieder in Zugzwang gebracht?

Im März und April 2020 schnellte der Anteil der Corona-News in den beiden Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF, Tagesschau und Heute, schlagartig hoch und bewegte sich wochenlang zwischen 60 und 75 Prozent, so das Institut für Medienforschung in Köln (IFEM 2020).[1]

Abbildung 1: Anteil der Corona-Berichterstattung in den Nachrichtensendungen von ARD und ZDF

Die zitierte Schweizer Studie liefert ganz ähnliche Anhaltspunkte: Selten sei „ein Thema so stark präsent in den Schweizer Medien“ gewesen wie die Coronavirus-Pandemie: Im ersten Halbjahr 2020 habe sich an manchen Tagen bis zu 70 Prozent der gesamten Berichterstattung um dieses Thema gedreht. Zum Vergleich: der Anteil mit Beiträgen zur Klimadebatte – das prägende Thema im Wahljahr 2019 – habe „in Spitzenzeiten kaum mehr als 10 Prozent der Gesamtberichterstattung“ erreicht (Universität Zürich 2020).

Sonder­sen­dungen und Talkshows

In einer Studie von Dennis Gräf und Martin Hennig (beide Universität Passau) wird ebenfalls auf die „Verengung der Welt“ aufmerksam gemacht, welche die Medien in den Wochen vor und während der Schockstarre konstruierten (Gräf/Hennig 2020). Die Studie fokussiert allerdings „nur“ auf die zahlreichen Sondersendungen „ARD extra“ und „ZDF special“ zu Corona. Übers Jahr 2020 hinweg gab es davon 134.

Bis zum 18. Juni gab es innerhalb von 15 Wochen 51 ARD Extra- und 42 ZDF-Spezial-Sendungen. Damit, so stellen die Wissenschaftler fest, sei aus dem Konzept von Sondersendungen, die das reguläre Programm verändern, eine „neue Normalität“ entstanden: „Wenn nahezu täglich das Exzeptionelle zum neuen Regelfall stilisiert wird, dann findet damit zwangsläufig eine lebensweltliche und auch ideologische Engführung statt, die einer Ausblendung aller anderen gesellschaftlich relevanten Gemengelagen entspricht.“ (Gräf/Hennig 2020, 15) Zum Vergleich, so die beiden Forscher, habe es im gesamten Vorjahr insgesamt 12 ZDF-Spezial-Sendungen gegeben – also weniger als ein Drittel der Zusatzangebote, die allein in den zwei Monaten von Mitte März bis Mitte Mai zu Corona ausgestrahlt wurden.

Die Berichterstattung selbst sei von einer „hyperbolischen Krisenrhetorik“ getragen gewesen. Auch sei Verwirrung gestiftet worden: Experten hätten wiederholt die Effizienz staatlicher Lösungsansätze bezweifelt, gleichzeitig sei „permanent ein ,Zuwenig’ der staatlichen Intervention angeprangert“ und fortlaufend der Wunsch nach klaren Vorgaben konstruiert worden. Diese einseitige Krisenrhetorik sei „auf bildlicher Ebene dupliziert und übersteigert worden“ – die Autoren verweisen auf „Bildwelten apokalyptischer Endzeiterzählungen“.

Noch krasser ist die Situation bei den Talkshows: 66 von insgesamt 106 solcher Sendungen bei ARD und ZDF beschäftigten sich 2020 mit Corona. Weit abgeschlagen lagen mit acht Sendungen die US-Wahlen auf dem zweiten Platz. Unter den Gästen belegten fünf Politiker der Regierungsparteien die vorderen Plätze – je 14 Auftritte hatten allein Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und der Scharfmacher unter den Pandemie-Wellenreitern, der SPD-Politiker Karl Lauterbach. Dass im Vergleich dazu sachkompetente Experten nicht ganz so wichtig scheinen, zeigt sich an Auftritten der deutschen Star-Virologen: Hendrik Streeck und Alexander Kekulé waren nur halb so oft dabei, Christian Drosten sogar nur viermal (Schröder 2020).

Nachrich­te­n­aus­wahl als journa­lis­ti­sche Heraus­for­de­rung

Die Schriftstellerin und brandenburgische Verfassungsrichterin Juli Zeh resümierte in der Zeit, die Pandemie habe „konkurrierende Fundamentalängste“ ausgelöst, die „aufeinanderprallen“. Eine Angst beziehe sich „auf das Virus: Krankheit, Tod, Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Eine weitere auf ökonomischen Existenzverlust und volkswirtschaftlichen Ruin. Eine dritte auf die Art der Virusbekämpfung: Abschaffung der Demokratie, schrittweiser Übergang in eine Vor- und Fürsorgediktatur“. (Zeh 2020)

Könnte es sein, dass ein von Public Relations getriebener und vom Herdentrieb infizierter Journalismus vor allem in der Schockphase vor dem ersten Lockdown, aber durchaus auch seither, der erstgenannten Angst viel zu viel und den beiden anderen viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat? Einerseits ist die Nachrichtenauswahl mit die wichtigste und vornehmste Aufgabe des professionellen Journalismus. Es gilt im Kern noch immer Niklas Luhmanns Einschätzung, dass wir das, was wir über die Welt wissen, aus den Medien wissen – wobei zu den klassischen Nachrichtenmedien heute die sozialen Netzwerke mit ihren Echokammern hinzugekommen sind.

Unser Weltbild wird also von den Medien geprägt. Die Medien orientieren sich indes, wie gesagt, umgekehrt in ihrer Auswahl immer mehr an der Nachfrage der Nutzer. Genau an dieser Stelle wird die mediale Aufmerksamkeitsökonomie (Franck 1998 und 2020) zum gesellschaftlichen Verhängnis: Mediale Überaufmerksamkeit erzeugt bei den Nutzern sowohl Angst und Panik als auch fokussiertes Interesse, also steigende Nutzernachfrage. Gestiegene Nachfrage, die ja inzwischen unmittelbar in Echtzeit messbar ist, verleitet wiederum die Redaktionen zu weiterer Verengung (und Dramatisierung) der Berichterstattung. Die Katze beißt sich in den Schwanz – und alles, was nicht mit Corona zu tun hat, findet somit zumindest zeitweise medial kaum noch statt.

Historiker, aber auch weitere Medienforscher werden mit Inhaltsanalysen zu klären haben, was die Regierungen und ihre Politikberater mit den „alternativlosen“ und – wie sich längst mutmaßen lässt – unverhältnismäßigen Lockdowns ausgelöst haben. Mit „Schuld“ gewesen könnten eben auch die Medien sein an dem, was sich womöglich noch zur größten Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren und zu einer verheerenden Mittelstands-Vernichtung, insbesondere in der Gastronomie, der Touristik und im Kulturbetrieb auswachsen wird. Die „Medienmacher“ verfielen jedenfalls dem menschlichen Herdentrieb – und sie erzeugten mit ihrer überzogenen Berichterstattung mit großer Wahrscheinlichkeit erst das Angstklima, das politischen Handlungsbedarf entstehen und die Lockdowns gegenüber gezielteren und weicheren Alternativen der Pandemie-Eindämmung unausweichlich werden ließ. Was im Übrigen „ungestraft“ natürlich nur ein alter, weißer Mann ohne weitere Karriereambitionen sagen darf – und auch der läuft Gefahr, entweder totgeschwiegen oder in der AfD-Ecke verschubladisiert zu werden.

Forschungs­fragen und erste Antworten zur Corona-­Be­richt­er­stat­tung

Wir sollten weiteren Forschungsergebnissen nicht vorgreifen. Indes hängen diese auch davon ab, dass rechtzeitig die „richtigen“ Forschungsfragen gestellt werden. Deshalb habe ich bereits im April 2020 einen Fragenkatalog zur Informationsqualität der Corona-Berichterstattung formuliert. Er wurde nach meinem Kenntnisstand von der Medienforschung bisher teilweise, aber insgesamt unzureichend beantwortet. Hier ein Auszug – im Anschluss jeweils nach bestem Wissen ergänzt um den Stand der Beantwortung im April 2021.[2]

  1. Panikmache: Haben die Medien mit ihrer Corona-Berichterstattung mehr Angst geschürt als nötig? Warum werden wir tagtäglich mit Zahlen von Infizierten und Todesopfern bombardiert, obschon den Wissenschaftlern die entscheidenden Daten zur Einordnung der Gefährlichkeit des Virus (z.B. Dunkelziffer der Infizierten, Verlauf von Ansteckungsketten, Grad der Durchseuchung) weithin fehlen?

Aus heutiger Sicht ist die schiere, bereits skizzierte Quantität der Berichterstattung in eine neue Qualität umgeschlagen. Gerade weil die Redaktionen in kaum nachvollziehbaren Akten der Selbstgleichrichtung Corona-Berichterstattung im Übermaß betreiben und damit tagtäglich ein überdimensioniertes „newshole“ zu füllen haben, wurden und werden wir weiterhin täglich neu mit wenig aussagekräftigen Zahlen und Statistiken von Infizierten, verfügbaren Intensiv-Betten und Verstorbenen bombardiert. Diese Daten werden nicht angemessen eingeordnet, während wir vergleichsweise wenig über Ansteckungsrigsiken mehr oder weniger gefährdeter Gruppen, Schwere der Infektionen, Genesene und Übersterblichkeit erfahren haben und erfahren. Weil der mediale Platz, der für Covid19 „reserviert“ ist, so riesig ist, erfahren wir unentwegt letztlich unnötige Details, was bei der Impfstoffbeschaffung und bei der Impfkampagne schiefläuft, was an unsinnigen Regeln und Schikanen ausgeheckt, aber auch an absurden Regelverstößen zu verzeichnen ist – was in der Summe eigentlich nur Politikverdrossenheit vertiefen kann.

  1. Quellenvielfalt und Quellenprüfung: Fehlen auch in grösseren Redaktionen Wissenschafts- und Medienjournalisten, die angemessen für Quellenvielfalt sorgen sowie einordnen und kontextualisieren können, was ihnen Virologen, Epidemiologen und Presseabteilungen zuliefern und wie die Medien mit diesen Informationen umgehen? Warum waren es immer dieselben Experten, die vor die Kamera geholt wurden?

Es gibt weiterhin keine Studien zur personellen Ausstattung von Leitmedien-Redaktionen mit Wissenschafts- und Medienjournalisten. Es ist aber kein Geheimnis, dass über Jahre hinweg Wissenschafts- und Medienredaktionen eher reduziert als ausgebaut wurden. In den meisten Redaktionen finden sich weit mehr Sport- und Politikjournalisten, obschon die Wissenschaften nicht erst unter Pandemiebedingungen eine „Lebensbestimmungsmacht“ (Wilhelm Hennis) geworden sind, und auch die Medien in unserer Gesellschaft so viel Einfluss haben, dass sie dringend kompetenter und kontinuierlicher journalistischer Beobachtung bedürften. Wenn indes in den Redaktionen Wissenschafts- und Medienredakteure fehlen, die Experten im Wissenschaftsbetrieb identifizieren können und zumindest einen Überblick über die Eigendynamiken wissenschaftlicher und medialer Entwicklungen behalten, ist es sehr wahrscheinlich, dass man im Bedarfsfall auf einen kleinen, medienaffinen Kreis von Experten zurückgreift, deren Hauptqualifikation möglicherweise darin besteht, dass sie druck- und sendereife 1.30-Statements liefern. Diese Situation wird nicht besser, wenn inzwischen in einer Redaktion wie dem stern sogar die Politik- und Wirtschaftsressorts verschmolzen werden.

  1. Transparenz der Berichterstattungs-Bedingungen: War der Journalismus hinreichend auf die Pandemie vorbereitet? Wo und wann wurde die Bevölkerung über Defizite der Berichterstattung in ähnlicher Weise informiert, wie wir über den Zustand der Krankenhäuser und über fehlende Schutzmasken informiert wurden? Warum erfahren wir so wenig über die Bedingungen, unter denen Medien berichten – insbesondere, wenn Public Relations als Quellen genutzt werden oder wenn – wie wochenlang bei der Corona-Entwicklung in Wuhan – Regierungspropaganda autoritärer Regime weiterverbreitet wird?

Es ist kein Geheimnis mehr, dass sich PR-Experten inzwischen in einer mehrfachen Übermacht gegenüber Journalisten befinden – nur berichten Journalisten so gut wie nie über die Abhängigkeiten, die daraus bei der Nachrichtengebung und Informationsverarbeitung entstehen. Medienforscher haben obendrein herausgefunden, dass ausgerechnet Journalistinnen und Journalisten diesen Einfluss der PR-Seite nicht wahrhaben wollen (Koch et al. 2017), und dass die Recherchekapazität des Journalismus dramatisch ab-, dagegen seine PR-Abhängigkeit ebenso dramatisch zugenommen hat (vgl. Lloyd/Toogood 2014).

Die Kommunikationsabteilungen von Ministerien, Parlamenten, Verbänden, Unternehmen und Non-Profit-Organisationen, welche die Redaktionen mit ihren Verlautbarungen füttern, nehmen mehr Einfluss denn je auf die Berichterstattung. Denn welcher Journalist hat unter den heutigen Arbeitsbedingungen schon Zeit und Muse, zu einer Medienmitteilung die fehlende andere Hälfte der „ganzen Wahrheit“ in mühseliger Kleinarbeit herauszufinden? Welche Redaktion gibt indes zu, dass sie keinen Wissenschaftsjournalisten an Bord hat, der die Statements von Virologen und Epidemiologen kritisch einordnen und bewerten könnte? Und dass es auch an Medienjournalisten fehlt, die mitverfolgen könnten, wo Medien Honigspuren auf den Leim gehen, die Dritte für sie legen? Oder eben auch Schreckensszenarien weiterverbreiten, damit wir im Zweifel „freiwillig“ um unserer Gesundheit willen auf unsere Grundrechte verzichten?

Weil es an gut ausgebildeten Wissenschaftsjournalisten allerorten mangelt, kommt es oftmals – zu Lasten des Publikums – zu einer aufmerksamkeitsheischenden und auch angsterzeugenden Allianz zwischen Wissenschaftlern, die sich, gelegentlich durchaus auch assistiert von Kommunikationsverantwortlichen im Forschungsbetrieb, mit zugespitzten Aussagen und unvollständigen oder nicht vom Peer Review gedeckten Erkenntnissen ins öffentliche Rampenlicht drängen. Ein jüngster Fall ist eine Studie zu den Langzeitfolgen von Covid 19 des Zürcher Epidemiologen Milo Puhan, die auf nicht repräsentativen Daten aufbaute und so die Gesundheitsschäden der Pandemie vermutlich dramatisierte (Frei 2021). Ein weiteres Beispiel war die durchaus angsterregende These des Nanophysikers Roland Wiesendanger, das Corona-Virus sei einem chinesischen Labor entsprungen (vgl. Russ-Mohl 2021). Hier hatte eine Panne in der universitären Wissenschaftskommunikation der „Studie“ Wiesendangers zur Herkunft des Covid19-Virus, die dieser als Fachfremder ohne Peer Review erstellt hatte, zu mehr Aufmerksamkeit verholfen, als ihr gebühren mochte.

Obendrein haben viele Journalisten vermutlich noch nicht einmal bemerkt, wie subtil ihre Berichterstattung von China aus „ferngesteuert“ wird: Sie haben nicht nur die Propaganda über das Corona-Management, über die Abriegelung und die Lockdowns ganzer Millionenstädte weiterverbreitet – unter Einschluss von Krankenhäusern, die angeblich in wenigen Wochen hochgezogen wurden. Sie haben damit, entsprechend den chinesischen Vorgaben, wohl auch Erwartungen geweckt, wie in Europa Pandemie-Management aussehen sollte. Zumindest Angela Merkel, aber auch Markus Söder sowie Christian Drosten und Karl Lauterbach sind als Verfechter harter Lockdowns wohl eher bei Xi Jinping als beim schwedischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven in die Schule gegangen. Und nur bei wenigen Medien ist überhaupt genauer zu erfahren, wie die chinesische Regierung ausländische Journalisten drangsaliert – und dass zum Beispiel kürzlich ein BBC-Korrespondent fliehen musste (Böge 2021).

  1. Grenzen internationaler Vergleiche: Warum vergleichen Journalisten weiterhin international Corona-Tote und -Infizierte – obschon bekannt ist, dass die Zahlen auf unterschiedliche Weise erhoben werden und damit Vergleiche wenig aussagekräftig sind? Weshalb wurde von vielen Medien besonders über Schweden so oft einseitig berichtet?[3]Wäre nicht mehr konstruktiver Journalismus gefragt gewesen?

Weiterhin sind Zweifel an internationalen Statistik-Vergleichen berechtigt und nötig. Leider werden häufig immer noch wenig aussagekräftige Statistiken verglichen – etwa zu Infizierten, ohne dass wir etwas über die Zahl der durchgeführten Tests oder die Schwere der Infektionen erfahren, oder zu Verstorbenen, ohne dass geklärt wäre, ob sie am oder mit dem Corona-Virus verstorben sind.

Unter dem Vergleichbarkeits-Vorbehalt stehen auch die Statistiken des Coronavirus Resource Center der Johns Hopkins Universität, aber auch die Erkenntnisse, die Our World in Data international vergleichend zur Corona-Berichterstattung sammeln und sehr gut aufbereiten. Interessante Vergleichs-Statistiken sind hier insbesondere die Corona-Toten pro Million Einwohner und die Übersterblichkeit. Beide Datensätze lassen beim internationalen Vergleich keinerlei verlässliche Schlüsse über die Wirksamkeit von Lockdowns zu – aber offensichtlich mangelt es in den Redaktionen an statistischem Know how und an Recherchekapazität, um selbst solch sehr gut erschlossene Datensammlungen angemessen zu würdigen.

Andererseits ist es hochproblematisch, wie viele Medien die Corona-Bekämpfung als „Horse race“ inszenieren – und damit durch internationale Vergleiche heimische Akteure unter Druck setzen. Wobei Angela Merkel und Ursula von der Leyen zunächst Glück hatten, dass ausgerechnet die von den Medien dauergeschmähten Populisten Trump, Johnson und Netanyahu bei der Beschaffung von Impfstoff so viel erfolgreicher „gedealt“ haben als die Bundesregierung und die Brüsseler Eurokraten. So gab es lange Beißhemmung, Doch dieses Glück war angesichts des Ausmaßes des Impfstoffbeschaffungs-Desasters dann doch nicht von Dauer. Die Tatsache, dass im Zoo von San Diego bereits Gorillas geimpft wurden, als in Deutschland im März 2021 noch immer 90 Prozent der Bevölkerung auf ihren Impftermin warteten, hätte fraglos mehr Medienaufmerksamkeit verdient.

  1. Wirkungsmacht von Bildern versus Risiko-Statistiken: Wussten Corona-Berichterstatter um die Übermacht von Bildern (Beispiel: Leichentransporte mit italienischen Armeefahrzeugen in Bergamo) im Vergleich zur begrenzten Macht von Statistiken und Zahlen, welche hätten helfen können, Risiken realistisch einzuordnen, zu bewerten und mediale Übertreibungen (wie z.B. zuvor bereits bei SARS, BSE etc.) zu relativieren?

Sie wussten und wissen das sehr wohl. Aber diese Macht der Bilder zu relativieren und zu erklären, statt sie auszuspielen, wäre wohl im Blick auf Clicks und Quoten „geschäftsschädigend“ gewesen. Leider ist bei vielen kommerziellen Medien Angst- und Panikmache seit eh und je Teil des Geschäftsmodells. Noch trauriger ist, dass ihnen ARD und ZDF dabei nacheifern.

Weitaus weniger eindrucksvoll, aber als Indikatoren brauchbarer, um die Dynamik der Pandemie zu verstehen, sind Daten zur Übersterblichkeit sowie Statistiken, welche die Verstorbenen in Bezug setzen zur jeweiligen Bevölkerungs-Grundgesamtheit. Wer solche Daten in Abständen von ein paar Wochen genauer studiert, gewinnt allerdings schnell den Eindruck, dass oftmals der Zufall im Spiel ist, wenn Superspreader wüten und neue Infektions-Hotspots entstehen. Die Politik vermag offensichtlich die Ausbreitung des Virus nur sehr bedingt zu kontrollieren, mit ihren Eindämmungsmaßnahmen verursacht sie aber riesige Kollateralschäden. Die Journalisten unterscheiden in ihrer Berichterstattung dann aber noch nicht einmal zwischen Schäden, welche das Virus anrichtet, und solchen, die Folgen der Lockdowns sind, sondern schieben – mutmaßlich ferngesteuert durch entsprechende Medienmitteilungen aus den PR-Küchen – alles der Pandemie in die Schuhe. Was Jens Spahn, Angela Merkel und Olaf Scholz gut aussehen und vermutlich insgeheim jubeln lässt, weil sie bisher kaum für die Kollateralschäden der Lockdowns haftbar gemacht wurden, sondern „nur“ für das Desaster bei der Impfstoff-Beschaffung und -verteilung.

  1. Kontextualisierung von Rettungsprogrammen: Weshalb wurde und wird so selten versucht, die Fördersummen, mit denen die Regierungen um sich werfen, durch Vergleiche zu veranschaulichen – wo doch menschliches Vorstellungsvermögen von Milliarden und Billionen Euro begrenzt ist?

Vermutlich gab und gibt es auch hier so etwas wie eine falsch verstandene Loyalität vieler Medienverantwortlicher gegenüber der Regierung – zumal ja noch nicht einmal die „Fridays for Future“-Bewegung gegen Rettungsmilliarden für Lufthansa, TUI und Karstadt vernehmlich protestiert hat. Viele Journalistinnen und Journalisten tun sich auch, wie die meisten Normalmenschen, mit dem Rechnen schwer, wenn mehr als sechs Nullen vor dem Komma stehen, und wenn obendrein Prozentrechnen mit Zins und Zinseszins gefragt wäre: Haben wir uns womöglich alle einlullen lassen von den aberwitzigen Geldsummen, die ja letztlich Steuergelder sind, mit denen Olaf Scholz und Angela Merkel, aber auch die EU und die Notenbanken um sich werfen? Ich kann mich kaum an Versuche erinnern, diese Summen zu veranschaulichen. Mangelware sind auch Beiträge, die allgemeinverständlich die Folgen von Null- oder Negativzinsen darstellen.

  1. Herdentrieb: Wie lässt sich die Selbstgleichrichtung der Corona-Berichterstattung in den Leitmedien bis zum Shutdown und in dessen Initialphase erklären? Welche Rolle spielen im Kontext der Corona-Berichterstattung, bei der es immerhin um Leben und Tod geht, Erkenntnisse der Verhaltensökonomie und der Sozialpsychologie zum Herdenverhalten von Menschen?

Leider spielen solche Erkenntnisse weiterhin keine Rolle – auch weil Journalistinnen und Journalisten sie nicht wahrhaben wollen. Stichworte sind selektive Wahrnehmung und Bestätigungsfehler (Confirmation Bias), Kontrollillusion (Illusion of control), Vernachlässigung von Wahrscheinlichkeiten (Neglect of probability), Verfügbarkeitsheuristiken (Availabilty Bias) (dazu: auf die Corona-Berichterstattung bezogen: Russ-Mohl 2020; mit Bezug zum Journalismus: Wilczek 2016 und 2020; zuvor ohne Bezug zum Journalismus, zusammenfassend: Dobelli 2011; grundlegend: Ariely 2008 und 2013; Thaler 2015).

Genauso wichtig wie das Wissen um diese Denk- und Entscheidungsfehler ist die Einsicht, wie Unsicherheit unser Denken beeinflusst und wie sehr wir in solchen Situationen dazu neigen, uns Gruppendruck zu fügen und von anderen in unserer Wahrnehmung und in unseren Entscheidungen beeinflussen zu lassen. Gerade im Journalismus haben es die Macher häufig mit solchen Situationen zu tun, und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit von Herdenverhalten und „Groupthink“ (Janis 1972) auch besonders groß.

Einen klugen Einblick in den Alltag einer öffentlich-rechtlichen Nachrichtenredaktion hat kürzlich ein Insider gewährt, der allerdings anonym bleiben wollte, um seinen Job nicht zu gefährden (Arnold 2021). Ganz einfach ist es in einem zunehmend polarisierten Mediensystem leider nicht, die Leitmedien-Herde in eine andere Richtung zu bewegen. Zumal in der anderen Richtung sich jenseits des tiefen Grabens, der inzwischen auch unser Land teilt, neben Bild und Welt vor allem Publikationen wie Tichys Einblick, Achgut, die Junge Freiheit positioniert haben – „Schmuddelkinder“, mit denen sich nicht einlassen sollte, wer im etablierten Mediensystem, nicht zuletzt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, weiterhin mit Aufträgen und Einladungen bedacht werden möchte. Es sind allerdings auch die Medien, auf die man andererseits zunehmend ausweichen muss, wenn man sich mit bestimmten medienkritischen Aussagen überhaupt Gehör verschaffen möchte (vgl. z.B. das Interview von Hans-Mathias Kepplinger in der Jungen Freiheit – Schwarz 2021)

  1. Journalismus als Frühwarnsystem: Haben wirklich „nur“ die Regierungen und ihre Geheimdienste die Relevanz von Corona lange unterschätzt, oder haben die Medien selbst das Thema zunächst verschlafen? Konnten sich Auslandskorrespondenten in China während des Lockdowns von Wuhan in den deutschen Medien angemessen und rechtzeitig Aufmerksamkeit verschaffen? Weshalb wurde nicht bereits vor und während des Karnevals 2020 mehr von den Medien gewarnt?

Wahrscheinlich wäre ein Journalismus, der sich selbst als „Frühwarnsystem“ konzipiert, hoffnungslos überfordert. Gleichwohl würde ein Ausbau der Auslands- und Wissenschaftsberichterstattung helfen, an diesem neuralgischen Punkt den Journalismus deutlich zu verbessern – wobei insbesondere die öffentlich-rechtlichen Anstalten über die Ressourcen gebieten würden, die all dies ermöglichten, wenn man nur wollte …

Betrüblich ist auch der Verfall der Interview- und Recherchekultur, zumal beim finanziell gut ausgestatteten öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wenn eine Talkmasterin wie Anne Will, von der jeder Fernsehzuschauer aus besseren Zeiten weiß, dass sie kritische Nachfragen zu stellen vermag, in ihrer Sonntagabend-Sendung der Bundeskanzlerin zu einem Solo-Auftritt[4] verhilft, dann dürfen Zuschauer und Beitragszahler eigentlich schon erwarten, dass das staatliche Corona-Missmanagement kritisch beleuchtet wird – und die Moderatorin nicht nur Stichworte liefert, als sei sie Merkels Regierungssprecherin. Stattdessen durfte die Kanzlerin ihre Sicht auf die Unvermeidbarkeit eines weiter verschärften Lockdowns verbreiten und fand bei den Medien allzu willige Helfershelfer, die – wie etwa der Berliner Kurier tags darauf – über die ganze Titelseite neuerlich „Angst vor der Super-Mutante“ verbreiteten.

Corona und die Medien­for­schung

Corona-monomane Berichterstattung ist eine Spielart von Desinformation – und zwar obendrein eine, die Angst und Schrecken erzeugt. Als Corona alle anderen Themen aus der Medienberichterstattung verdrängte, hätte allein schon diese Thematisierungs-Einseitigkeit Medien- und Journalismusforscher als kritische Stimmen auf den Plan rufen müssen. Für sie gab es indes kaum eine Chance, sich Gehör zu verschaffen. Es gelang in Deutschland allenfalls einer Handvoll Medienforschern an die breitere Öffentlichkeit durchzudringen.

Wer eine Pandemie eindämmen will, kommt an den Erkenntnissen von Virologen und Epidemiologen nicht vorbei. Wer „Infodemien“ vermeiden und den Journalismus stärken möchte, braucht aktuelle Erkenntnisse der Medienforschung. Es gälte, diese ernst zu nehmen – statt Medienforscher-Bashing zu betreiben, wie es in jüngster Zeit ausgerechnet die FAZ mehrfach im Kontext des Diskurses um die Corona-Berichterstattung getan hat (D’Inka 2020; Hanfeld 2020).

Was heißt das für die Politik?

Der Journalismus unterliegt in der Aufmerksamkeitsökonomie der Zyklizität, und diese Zyklen sollten auch Politiker und Politikberater kennen und in ihr Räsonnement mit einbeziehen. Analytisch und idealtypisch unterscheiden lassen sich in aller Regel mehrere Phasen eines Aufmerksamkeitszyklus (Luhmann 1971; Downs 1972, ausführlicher: Russ-Mohl 1981, 16 ff. und 1993) – und damit einhergehend auch unterschiedliche Ausprägungen von Journalismus-Versagen.

  • In der Latenzphase entwickelt sich ein Problem, das meist zu spät erkannt wird: Im konkreten Fall brach im fernen Wuhan eine Corona-Epidemie aus. Wer von den Medien sich eine Frühwarnfunktion erhoffte, wurde enttäuscht. Die meisten Nachrichtenmedien waren „off-guard“ und schätzten den Pandemie-Ausbruch falsch ein: entweder würde das Virus auf China begrenzt bleiben, oder es wäre weniger gefährlich als eine Grippe (Quandt/Boberg 2021 m.w.N.). Wer bereits in dieser Phase Covid19 ernst nahm, wurde dagegen ausgelacht (vgl. als Beleg ein Video des Bayerischen Rundfunks, Süss 2020).

  • In der Aufschwungphase wird die mediale Aufmerksamkeitsschwelle (Eccles et al. 2007) durchbrochen; immer mehr Medien fokussieren auf das Thema. Weil steigende Nachfrage zu bedienen ist und sich die Redaktionen intensiv gegenseitig beobachten, schaukelt sich Corona schnell hoch und erlangt im öffentlichen Diskurs Dominanz. Dabei mündet die mediale Konkurrenz um Aufmerksamkeit oft auch in einen Dramatisierungs-Überbietungs-Wettbewerb – wobei bisherige Untersuchungen zu Corona, die das nicht bestätigen (Quandt et al. 2020; Quandt/Boberg 2020) vielleicht ja auch deshalb zu kurz greifen, weil sie der schieren Quantität und damit dem Übermaß der Corona-Berichterstattung kaum Aufmerksamkeit zollten. Jedenfalls setzt sich in dieser Phase eine „herrschende Sichtweise“ durch, die im Fall von Covid19 stark von den Regierungen und ihren wissenschaftlichen Beratern bestimmt wurde. Irritierende Nachrichten und Fakten wurden vom Mainstream lange ausgeblendet. Im Fall von Corona absorbierte das Thema mit nie dagewesener Wucht die mediale Aufmerksamkeit und blieb über viele Monate in der Medienarena – inzwischen über ein Jahr hinweg und mithin ungewöhnlich lange.

  • Schließlich wurden erste Gipfelpunkte erreicht: die Berichterstattung zum Thema selbst wurde breiter, facettenreicher: Spekulationen und Übertreibungen werden in solchen Umschwungphasen schrittweise korrigiert. Damit verliert das Drama allmählich an Drive, zumal sich ein Teil des Publikums inzwischen überinformiert (overnewsed) fühlt und sich abzuwenden beginnt. Im Fall von Corona hielten die Redaktionen jetzt nicht mehr immer denselben Virologen, Epidemiologen und Regierungsvertretern die Mikrophone unter die Nase. Sie gewährten auch anderen – Medizinern, aber auch Verfassungsrechtlern, Finanzexperten, Mittelständlern, Politologen, Medienforschern und Psychologen – die Möglichkeit, zu einem differenzierteren Bild dessen beizutragen, was die Pandemie und die Lockdowns an Folgen verursachen. Im Fall von Corona folgten dieser Umschwungphase nach dem Sommer 2020 allerdings neue Corona-Wellen und damit auch erneuter Alarmismus.

  • Zu guter Letzt flacht in der Abschwungphase eines typischen Zyklus die Berichterstattungsdichte ab, und das Thema verschwindet allmählich aus der Medienagenda. Im Fall von Corona wurde diese einsetzende Abschwungphase im Herbst 2020 allerdings jäh von der zweiten Infektionswelle unterbrochen, so dass anders als bei „normalen“ Medienhypes bislang statt eines Dromedarbuckels derzeit der Doppelhöcker eines Kamels den Verlauf prägt.

Der Corona-Aufmerksamkeitszyklus hat somit auch Facetten, die weitere Forscheraufmerksamkeit verdienen, weil sie neu waren und sind, zum Beispiel seine Intensität und seine Dauer. Keiner von uns kann sich nach 1945 an ein Thema erinnern, das mit vergleichbarer Wucht und vergleichbar lange die Medienagenda beherrscht hat.

Vorschläge zur Verbes­se­rung der Corona-­Be­richt­er­stat­tung

Wie lässt sich die Corona-Berichterstattung verbessern? Es ist stets heikel, als Medienforscher und -beobachter das Rad neu erfinden zu wollen, aber ein paar Vorschläge ließen sich ohne allzu viel Aufhebens im redaktionellen Alltag umsetzen. Sie sind auch deshalb nötig, weil sonst ja wohlfeil argumentiert werden könnte, der Elfenbeinturm-Wissenschaftler bleibe konkrete Empfehlungen schuldig.

Tipps für den redaktionellen Alltag

Beginnen wir damit, was jede Redaktion leisten könnte:

  • Ziemlich absurd, aber im Blick auf Panikmache äußerst effektiv, ist das tagtägliche Starren auf Infizierten-Statistiken. Wenn mehr getestet wird, steigen natürlich die Fallzahlen – aber was letztlich zählen sollte, sind nicht die erfassten Infektionen, sondern die Zahl der schweren Fälle. Würden nur diese von den Medien aufgegriffen, wäre die medial generierte Dramatik längst in sich zusammengeklappt. Es würde dann auch nicht mehr unentwegt politischer Handlungsbedarf signalisiert, den alle drei Seiten in der Politik, die Scharfmacher, die moderaten Öffnungsbefürworter ebenso wie die unbelehrbaren Coronaleugner unentwegt aufmerksamkeitsökonomisch zur Profilierung nutzen, was wiederum die Berichterstattungsmaschinerie ölt. Besser heute als morgen sollten Journalistinnen und Journalisten sich also bei jeder Corona-News fragen, ob sie fürs eigene Publikum relevant ist. Wenn nein – wie zum Beispiel die Zahl der Neuinfektionen, die einfach wenig aussagekräftig ist, solange nichts über die Schwere der Infektionen bekannt ist -, schrumpft schon auf diese Weise die Corona-Berichterstattung drastisch. Wenn ja, sollte die Meldung kontextualisiert, also angemessen eingeordnet werden.

  • Wann immer über Schäden der Pandemie berichtet wird, ist zu differenzieren, ob diese direkt dem Virus zur Last gelegt werden können – oder ob sie durch Lockdowns und andere Regulierungsmaßnahmen der Pandemie entstanden sind. Das wird nicht immer gelingen, aber „das Virus“ ist zweifelsfrei nicht an allen unsinnigen Vorschriften schuld, die sich Regierende und Bürokraten von der Bundeskanzlerin abwärts bis zum lokalen Ordnungsamt als lebensfremde Schikanen einfallen lassen, um mündige Bürgerinnen und Bürger zu bevormunden und zu infantilisieren.

  • Journalisten müssen lernen, mit Echtzeitmessung von Resonanz und Nachfrage angemessen umzugehen: Auch großes Publikumsinteresse an einem Thema rechtfertigt nicht, alle anderen wichtigen Themen stiefmütterlich zu vernachlässigen – seien das andauernde Massenproteste in Belarus oder in Russland, sei es die Klimakrise oder die Verfolgung der Uiguren in China, seien es die Folgen des Berliner Mietendeckels oder die Schicksale von Obdachlosen, von Behinderten oder anderen Minderheiten, die auch ohne Pandemie krass benachteiligt sind.

  • Medien sollten bewusster mit PR und Propaganda umgehen, stets die Herkunft von Nachrichten bekanntgeben und, wo nötig, Quellenkritik betreiben. Dazu würde auch gehören, eigene Kompetenzgrenzen in der Auslandsberichterstattung freimütig einzugestehen – bei einem von Zensur kontrollierten, autoritär regierten Riesenland wie China ebenso wie bei einem kleinen, demokratischen Nachbarstaat wie Schweden, wo schlichtweg die eigenen Ressourcen für eine angemessene Würdigung nicht ausreichen.

  • Journalistinnen und Journalisten sollten Nachrichten, wenn sie faktisch zutreffen und hohen Nachrichtenwert haben, nicht herunterspielen, nur weil sie nicht in ihr Weltbild passen und nicht den eigenen „Confirmation bias“ bestätigen. Was in der Silvesternacht 2015 passiert ist, hat sich soeben wiederholt: Dass knappe Intensivbetten – immerhin Auslöser von Lockdowns, welche uns unserer Grundrechte berauben, Millionen von Existenzen gefährden und Milliarden und Abermilliarden an Steuergeldern verschlingen – weit überproportional von Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit Migrationshintergrund belegt sind, ist solch eine Top News, die – in diesem Fall wohl gerade wegen ihrer Sprengkraft, weil eben manchmal „nicht sein kann, was nicht sein darf“ – nicht genügend Aufmerksamkeit erhielt (Schuppelius 2021). Diese Nachricht spricht nun einmal leider Bände nicht nur über die Corona-Kommunikationspolitik, die offenbar bestimmte Bevölkerungsgruppen zu wenig erreicht, sondern auch insgesamt über unzureichende Integrationsanstrengungen. Es sind mitten in Deutschland Parallelwelten entstanden, in denen vermutlich Putins und Erdogans Propagandasender, aber auch Islamisten und arabische Antisemiten mehr Resonanz erzielen, als deutsche Regierungen und deutschsprachige Medien. Das ist brisanter Berichterstattungsstoff, den Leitmedien, zumal öffentlich-rechtliche Anbieter, nicht Tichys Einblick und Achgut überlassen dürfen, wenn sie Glaubwürdigkeit beanspruchen möchten.

  • Leitmedien sollten Corona-Verschwörungstheoretikern sowie Rechts- und Linkspopulisten weniger Platz gewähren, aber auch nicht alle „Querdenker“ und Gegner von bevormundenden Regulierungen in dieselbe Schublade stecken. Außerdem sollten sie auf Gegenseitigkeit fragwürdiger, überflüssiger oder fehlerhafter Berichterstattung von Mainstream-Medien mehr Aufmerksamkeit zollen – und vielleicht endlich auch selbst eine Fehlerkultur entwickeln, um eigenes Versagen zu korrigieren.

  • Sie sollten weniger Gewissheiten kommunizieren und mehr Zweifel zulassen – auch und gerade, wenn es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht. Wenn sich Regierende oder Aktivisten, von der Bundeskanzlerin bis hin zu Greta Thunberg, auf Wissenschaftler und „die Wissenschaft“ berufen, unternehmen sie meist den Versuch, Forscher zu instrumentalisieren. Dieses Spiel sollten Journalisten durchschauen, nicht mitbetreiben und auch dann skeptisch bleiben, wenn sie es mit begnadeten, sendungsbewussten Wissenschaftlern und Wissenschaftskommunikatoren wie Christian Drosten zu tun haben.

  • Die hohe journalistische Kunst bestünde sodann darin, Wissenschaftler-Aussagen angemessen einzuordnen. Der Mainzer Medienforscher Hans Mathias Kepplinger schlägt vor,[5]
    Wissenschaftsjournalisten sollten darauf achten, wie Aussagen von Forschern, im konkreten Fall von Epidemiologen und Virologen zur Corona-Pandemie, zu klassifizieren sind:

    • Substantielle Aussage auf der Basis eigener Forschung

    • Substantielle Aussage auf der Basis angelesener Forschung

    • Substantielle Aussage ohne erkennbare Basis

    • Trivialitäten, die jeder Zeitungsleser kennt und sagen kann, etwa der Art „die dritte Welle kommt“. Wann bitte, wie groß?

    • Moralische Ermahnungen, Wertungen, Ermutigungen usw.

Gegebenenfalls könnten Journalisten nachfragen, wenn das unklar ist. „Mancher Lautsprecher wäre dann schnell als Heißluftgebläse erkannt“, so Kepplinger. An die eigenen Fachkollegen aus der Medienforschung gewandt, schlägt er vor, die publizierten Aussagen nach solch einem Schema inhaltsanalytisch zu untersuchen, um festzustellen, inwieweit Forscher – insbesondere dann, wenn sie prominent geworden sind – ihre Kompetenzgrenzen einhalten oder eben mehr oder minder häufig überschreiten.

  • Gerade wenn es um Leben und Tod geht, sollte Sicherheit vor Schnelligkeit rangieren. Berichterstatter, die vom Forschungsbetrieb und seinen Usancen keine Ahnung haben, könnten bei der Berichterstattung über heikle Forschungs-Ergebnisse und deren Einordnung vielleicht gestandenen Wissenschaftsjournalisten den Vortritt lassen.

  • Einzufordern ist mehr konstruktiver Journalismus, der Erfolge im Corona-Management angemessen würdigt. Das ist weiterhin Mangelware – sonst hätten Tübingen, Böblingen und Rostock, aber auch Länder wie Finnland, Südkorea, Taiwan und die Schweiz, wo immerhin die Schulen seit Mai 2020 durchgehend offen waren, in den Medien mehr Aufmerksamkeit erzielt (vgl. auch Gerhards/Zürn 2021).

  • Humor ist, wenn man trotzdem lacht“. Wünschenswert wäre – last not least – mehr „sense of humour“, und zwar trotz oder wegen der ernsten Lage.

Als sich im April 2021 nach einem Jahr Lockdown-Verzweiflung 52 teils prominente Schauspieler aus der Deckung wagten und sich in kurzen, frechen Youtube-Videos mit der Rolle der Medien und der Regierungen bei der Corona-Bekämpfung auseinandersetzten, spuckten Kommentatoren linksliberaler oder liberaler, jedenfalls einstmals kulturaffiner Blätter wie der Spiegel (o.V. 2021), der Tagesspiegel (Leber 2021), der FAZ (Hanfeld 2021), aber auch der Branchendienst Übermedien Gift und Galle und verschubladisierten mehrheitlich die Künstler in der AfD-Ecke. Hanfeld etwa bescheinigte vom hohen FAZ-Ross herab den Künstlern „Flachsinn“ und warf ihnen vor, ihre Aktion sei „so unterkomplex wie unzutreffend, dass man es nicht witzig finden kann“ – was freilich viele, die nicht selbst im Glashaus sitzen und tagtäglich mit Steinen werfen, anders gesehen haben dürften.

Als Mediennutzer hatte man unweigerlich den Eindruck, die Leitmedien-Autoren seien inzwischen selbst Opfer eines Corona-Kollers geworden, so bierernst machten sie sich über die nonkonformistischen Kritiker aus der Kulturszene her. Und einige der kritisierten Akteure – wie Heike Makatsch – schlugen gleich die Rolle rückwärts. Wobei dahingestellt bleiben mag, ob sie auf diese Weise zum unfreiwilligen Lebendbeweis von illiberaler Cancel Culture wurden, oder – was von ganz besonders zynischem Raffinement zeugen würde – gleich doppelt die aufmerksamkeitsökonomische Prämie der Aktion kassieren wollten.

Was Chefre­dak­ti­onen und Medien­ma­nager veranlassen sollten

Wichtig wäre auch, dass Chefredaktionen und Medienmanager, die für die Ressourcenverteilung im Medienbetrieb zuständig sind,

  • die eigenen Grenzen konzedieren und im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit vermehrt kommunizieren, wie Redaktionen arbeiten und Medien in der Aufmerksamkeitsökonomie funktionieren;

  • den Wissenschafts- und Medienjournalismus pflegen – und in den Redaktionen diese Ressorts aufwerten oder wiedereinführen. Wobei davon auszugehen ist, dass das Interesse an solchen Themenfeldern beim Publikum vorhanden ist, sich notfalls auch wecken ließe – und ein besseres Verständnis des Medienbetriebs und journalistischer Praxis ja vielleicht sogar die Zahlungsbereitschaft für „Qualitätsjournalismus“ steigern könnte;

  • dem Faktencheck sowie Berichtigungen mehr Aufmerksamkeit zollen. Es ist ja einerseits absurd, dass genuine journalistische Aufgaben wie eben die Faktenüberprüfung aus den Redaktionen an eigene „Faktenchecker“ (selbst bei der ARD!) ausgelagert werden, und andererseits es viel zu wenig Ombudsleute gibt, die Beschwerden über die Berichterstattung nachspüren: Beim Impfstoff von Astra-Zeneca erwarten die Medien, dass die zuständigen Gremien nach millionenfacher Verimpfung fast ohne Nebeneffekte dennoch den wenigen Fällen massiver Nebenwirkungen nachgehen. Wo sind entsprechende Medienberichte oder Kontrollgremien, wenn es um das Immunisieren gegen Infantilisierung, Verdummung, Fake News und von Massenmedien weiter verbreiteten Unfug geht? Redaktionen mögen sich in den Schockstarre-Monaten von Februar bis April 2020 von ihrer Kernaufgabe, der „Routinisierung des Unerwarteten“, überrollt und überfordert gefühlt haben – geschenkt. Aber seither sollten fehlende Kontrollschlaufen in Redaktionskonferenzen und ungeklärte Verantwortung für Berichterstattungsmängel eigentlich genauso wenig akzeptabel sein wie Regulierungsschikanen oder Fehler bei der Impfstoffbeschaffung und -verteilung.

  • Nicht zuletzt gälte es, jene Wissenschaft, die sich mit dem eigenen journalistischen Metier befasst, endlich ernst zu nehmen: Wer eine Pandemie eindämmen will, kommt an den Erkenntnissen von Virologen und Epidemiologen nicht vorbei. Wer „Infodemien“ vermeiden und den Journalismus verbessern möchte, sollte sich regelmäßig schlau machen, was es an neuen kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnissen gibt und wie sich diese nutzen lassen – statt Medienforscher-Bashing zu betreiben.

Wohl fast alle von uns haben Angst bekommen, angesteckt zu werden. Über Ansteckungsrisiken war gleichwohl zu wenig zu erfahren (vgl. dazu grundlegend: Nida-Rümelin/Weidenfeld 2021). Dagegen wurde das Impfrisiko mit dem Astra-Zeneca-Impfstoff so medial dramatisiert, dass die Impfkampagne ernsthaft gefährdet wurde – unter Vernachlässigung der tatsächlichen Gefährdungsrisiken, die sich, soweit wir das bisher wissen können, nur minimal von den anderen Impfstoffen unterscheiden.

Ansonsten gilt fraglos das Präventionsparadox: Wir werden nie erfahren, wie die Pandemie ohne Lockdowns bei uns verlaufen wäre. Hätten indes einige Medien schon vor Jahren mit ihren kühnen Bedrohungsszenarien recht behalten, gäbe es kein Covid19-Infektionsrisiko mehr: Die Deutschen wären dann nämlich ebenso wie die Schweizer und Österreicher bereits wegen Rinderwahn oder spätestens an SARS ausgestorben. Die wenigen Überlebenden, darunter vor allem „Covidioten“, die bei Demos keine Abstandsregeln wahrten, wären inzwischen ebenfalls Corona-Opfer; und alle Schweden, die monatelang keine Masken zu tragen brauchten, sowieso.

Es fehlt offenkundig an Demut vor der Unberechenbarkeit des Virus, es dominiert Selbstüberschätzung bei Regierenden und Medienleuten, und es mangelt an Bereitschaft, Fehler einzugestehen. Die Medienvertreter mögen es nicht so gemeint haben, sie verbreiten jedoch unablässig dieses merkwürdige Narrativ, das Virus ließe sich durch harte und härtere Lockdowns „kontrollieren“ – und zwar ohne dass dadurch Kollateralschäden entstehen, die weitaus größer sind als alles Elend, welches das Virus selbst anzurichten vermag.

Kritik an der Corona-Berichterstattung gibt es tröpfchenweise, aber die Leitmedien verhindern, dass man damit an die breitere Öffentlichkeit durchdringt. Selbst hochangesehene Journalisten-Kollegen wie Jakob Augstein, Claus Kleber oder Gabor Steingart gelingt das nur gerade so weit, dass Journalisten gegenüber Corona-Querdenkern und später einmal gegenüber Historikern argumentieren können, es habe auch kritische Stimmen zur Corona-Berichterstattung gegeben.

Es fehlt aber eben auch ein „Jahresbericht zum Status des Journalismus und des Nachrichtenwesens“ bzw. ein „Jahrbuch Qualität der Medien“, wie es sie seit mehr als zehn Jahren sowohl in den USA als auch in der Schweiz gibt. Wir benötigen auch in Deutschland und Österreich dringend eine vergleichbare kontinuierliche Analyse, um wenigstens die Qualitätsverluste des Journalismus zu dokumentieren. Unabhängiger, hochwertiger, recherchierender Journalismus ist und bleibt für eine Demokratie systemrelevant, selbst wenn er aufmerksamkeitsökonomisch deformiert ist und obendrein finanziell ausblutet. Für die Pressefreiheit und damit auch für die Qualität der Nachrichten drohen die Corona-Lockdowns mit all ihren inzwischen zumindest teilweise absehbaren, nachfolgenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Kollateralschäden zu einem Tsunami zu werden. Er baut sich erst allmählich auf, wird aber vermutlich in unseren freiheitlichen Gesellschaften länger und verheerender wüten als das Covid19-Virus.

 

Stephan Russ-Mohl Jahrgang 1950, ist ein deutscher Medienwissenschaftler. Er war von 1985 bis 2001 Publizistik-Professor an der Freien Universität Berlin und von 2002 bis 2018 Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Lugano.

* Bei dem Text handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung eines Beitrags des Autors aus Roland Schatz (Hrsg.): Bericht zur Lage der Informationsqualität in Deutschland. Analysen und Vorschläge für die Zeit nach Corona. Zürich: InnoVati o Verlag.

Anmerkungen

  1. S. https://www.ifem.de/aktuelles/jahr-2020/corona-newsmonitor.
  2. Kein auch nur näherungsweiser Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt es mit grosser Wahrscheinlichkeit angesichts der unüberschaubaren Publikationsfülle wissenschaftliche Studien, die ich nicht auf dem Radar habe.
  3. Vgl. exemplarisch sogar die New York Times (Goodman 2020) sowie als Antwort Karlsten 2020.
  4. Anne Will, ARD am 28.3.2021.
  5. E-Mail an den Verfasser.
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