Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 235: Zwei Jahre Corona - und wie weiter?

Zur Situation in Afghanistan

Als der afghanische Staat im vergangenen Sommer innerhalb weniger Tage zerfiel, war das internationale Entsetzen groß: Die langjährigen internationalen Bemühungen um eine Neuorganisation des Landes, mit viel Geld und Personal ausgestattet, lösten sich schon während des Abzugs der letzten US-Soldat*innen quasi in Luft auf. Wie dieses Scheitern vor dem Hintergrund der langen (Bürger) Kriegsgeschichte des Landes zu verstehen ist, erläutert Ute Finckh-Krämer im folgenden Beitrag.

Der erste Europäer, der im heutigen Afghanistan einmarschierte, war Alexander der Große auf seinem Indienfeldzug vor etwa 2350 Jahren. Er belagerte und eroberte diverse Städte und nahm keinerlei Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Nach heutigen Maßstäben hat er zahlreiche Kriegsverbrechen begangen, angefangen damit, dass sein gesamter Indienfeldzug eine Serie von Angriffskriegen war.

In den folgenden Jahrtausenden wurde das heutige Afghanistan mal von persischen, mal von indischen Herrschern erobert, mal gab es kleinere oder größere selbstständige Herrschaftsgebiete. Die nächste Begegnung mit europäischen Invasoren gab es ab dem 19. Jahrhundert, als Russland bzw. später die Sowjetunion und Großbritannien versuchten, ihre Einflusssphären bzw. Kolonialgebiete in Zentralasien zu erweitern. Nach zwei britischen Angriffskriegen im 19. Jahrhundert wurde 1893 von der britischen Seite die so genannte Durandlinie als Westgrenze ihres indischen Kolonialgebiets durchgesetzt, die mitten durch das Siedlungsgebiet paschtunischer Stämme verlief. Sie wurde nach dem Ende des britischen Kolonialregimes von Pakistan, aber nicht von Afghanistan als Staatsgrenze anerkannt und spielt im pakistanisch-afghanischen Konflikt bis heute eine entscheidende Rolle.

In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geriet Afghanistan in den Sog des Kalten Krieges. Ende 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan zur Unterstützung einer kommunistisch geprägten Regierung ein. Die USA, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützten daraufhin die militanten Gegner dieser Regierung, die islamistischen Mudschahedin. Dies führte zu einem blutigen Krieg und Bürgerkrieg, der auch nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 nicht endete. 1992 wurde Kabul von den Mudschahedin eingenommen. Der Bürgerkrieg ging allerdings weiter, diesmal als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Mudschahedin-Führern. Ab 1994 kamen die Taliban als neue Bürgerkriegspartei hinzu, die sich teilweise von den Truppen der Mudschahedin abgespalten hatten, teilweise in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan rekrutiert und ausgebildet worden waren – mit tatkräftiger Unterstützung des pakistanischen Geheimdienstes und aus Saudi-Arabien. 1996 hatten die Taliban fast das gesamte Land unter ihre Gewalt gebracht und gründeten das Islamische Emirat Afghanistan, das noch strengere islamistische Gesetze erließ als Saudi-Arabien. Es wurde nur von Pakistan, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten diplomatisch anerkannt. In Teilen des Landes (vor allem im Norden) ging der Bürgerkrieg zwischen den Taliban und den Mudschahedin, die sich nun wieder zusammenschlossen, weiter; dazu kam das gewalttätige islamistische Regime der Taliban dort, wo die Mudschahedin vertrieben worden waren.

Als am 11. September 2001 der Terroranschlag auf die Twin Towers und das Pentagon stattfand, hatte Afghanistan also schon über 20 Jahre Krieg, Bürgerkrieg und Gewaltherrschaft hinter sich. Millionen Menschen waren dem Krieg und Bürgerkrieg zum Opfer gefallen, weitere Millionen in andere Länder geflohen. Das Land war in dieser Zeit zum ärmsten Land der Welt geworden, mit niedriger Lebenserwartung, hoher Kinder- und Müttersterblichkeit und hoher Analphabetenrate. In vielen Teilen des Landes gab es immer wieder Hungersnöte und kaum oder gar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.

Diese Vorgeschichte ist wichtig, um zu verstehen, warum der Interventionskrieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan zum Scheitern verurteilt war. Es war von Anfang an ein weiterer Krieg um Macht und Einfluss in Zentralasien, bei dem – wie in allen Kriegen zuvor – das Wohlergehen der Menschen in Afghanistan den Kriegsparteien egal war. Nicht umsonst wurde dieser Krieg von den USA als „War on Terror“ bezeichnet – als ob man Terrorismus mit Krieg bekämpfen könnte. Dabei war und ist Afghanistan ein gutes Beispiel dafür, dass manche Formen von Terrorismus erst durch Krieg oder Bürgerkrieg entstehen und gestärkt werden; auch und gerade dann, wenn Gewaltakteur*innen von außen nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ finanziert und bewaffnet werden.

Wie in allen Ländern, in denen Krieg, Bürgerkrieg oder ein gewalttätiges Regime herrschen, waren und sind die meisten Menschen in Afghanistan keine Unterstützer* innen von Krieg und Gewalt, sondern wünschen sich Frieden und eine Gesellschaft, in der alle Menschen genug zum Leben haben. Allerdings wollen sie so weit wie möglich selber bestimmen, wie ihr Staat und ihre Gesellschaft organisiert sind. Und sie wollen an eigene gesellschaftliche Traditionen anknüpfen, die sich nach ihrer Einschätzung bewährt haben. Zunächst herrschte im Land große Erleichterung, als das Taliban-Regime militärisch besiegt und abgesetzt wurde. Was machten aber die Sieger? Sie beriefen eine Afghanistankonferenz (auf dem Petersberg bei Bonn) ein, in der die Kriegsverbrecher aus dem Bürgerkrieg der achtziger und neunziger Jahre und ihre Unterstützer*innen mit über die Zukunft Afghanistans entscheiden durften; diejenigen, die trotz Krieg und Bürgerkrieg im Land überlebt hatten, ohne sich einem Warlord anzuschließen, aber nicht. Sie schlossen zusätzlich die größte ethnische Gruppe des Landes, die Paschtun*innen, von den Verhandlungen aus, weil die Mehrzahl der Talibanführer Paschtunen waren – legten dann aber den Paschtunen Karsai, der die Mudschahedin unterstützt hatte, als Übergangspräsidenten fest. Die traditionelle Versammlung der Stammesführer, die Loja Dschirga, durfte diese Entscheidung nur noch abnicken. Da der Al-Kaida-Anführer Osama bin Laden weiterhin in Afghanistan vermutet wurde, ging der „War on Terror“ weiter. Und weil in manchen Regionen Afghanistans der Anbau von Opium das sicherste Mittel geworden war, um zu überleben, wurde neben dem „War on Terror“ nun auch noch ein „War on Drugs“ geführt. Dass sich ein Großteil der Talibankämpfer mitsamt ihren Waffen nach Pakistan in die dortigen so genannten Stammesgebiete zurückgezogen hatte, wurde kaum beachtet.

Nun wurde versucht, gleichzeitig Krieg zu führen und das Land aufzubauen – und zwar nach den Vorstellungen der westlichen Länder, die auf dem Petersberg mit am Tisch gesessen hatten, nicht nach den Vorstellungen der Bevölkerung. Da man die Warlords militärisch brauchte, bekamen sie wichtige politische Posten. Da man meinte, eine starke Zentralregierung als Ansprechpartner zu brauchen, wurde der Wiederaufbau in einem traditionell dezentral organisierten Land nicht auf der Ebene der Dörfer, Regionen und Städte begonnen, sondern mit zentralen Institutionen. Dabei sollten verschiedene Institutionen von verschiedenen Ländern aufgebaut werden, was die dann angelehnt an ihre eigenen Institutionen umzusetzen versuchten. Die waren aber für die afghanische Bevölkerung nicht nur völlig fremd, sondern passten auch untereinander nicht zusammen. Da klar war, dass es viele Jahre dauern würde, bis bei diesem Ansatz die kriegszerstörte Infrastruktur wieder aufgebaut und die dringend nötige Hilfe für die Bevölkerung geleistet werden könnte, wurde über staatliche und nichtstaatliche Hilfsorganisationen aus aller Welt versucht, schnelle Erfolge auf lokaler Ebene zu erzielen. Die Organisationen brachten der Einfachheit halber vieles, was sie zur Abwicklung ihrer Projekte brauchten, mit – schon deswegen, weil sie keine oder kaum Mitarbeiter*innen hatten, die die Sprachen des Landes sprachen. Es gab keinen Mechanismus, der die Projekte koordinierte oder auch nur einen Überblick darüber verschaffte, wer wo was für Projekte machte. Verantwortlich waren die Projektmitarbeiter*innen ausschließlich gegenüber ihren Geldgeber*innen, nicht gegenüber den Menschen vor Ort, denen die Projekte helfen sollten.

Auch hier gab es dementsprechend Vieles, was gut gemeint war oder für die Geldgeber*innen plausibel klang, aber nicht zu den Gegebenheiten vor Ort passte. Während ein Teil der afghanischen Bevölkerung – vor allem in Kabul und anderen städtischen Zentren – trotz dieser widrigen Umstände versuchte, aktiv an der Entwicklung mitzuarbeiten und dabei von den ins Land fließenden Geldern und den damit bezahlten Projekten profitierte (was die statistischen Zahlen zu Lebenserwartung und Bildungsstand verbesserte), gab es nach wie vor Provinzen, in denen Hunger und Not herrschten. Die fatalste Folge dieser Politik war jedoch, dass damit jeglicher Anreiz dafür entfiel, lokale Verwaltungen oder politische Strukturen zu schaffen oder wiederherzustellen – sie hätten eh nichts zu sagen gehabt.

Die Kriegsverbrecher, die zu Gouverneuren, Generälen und Ministern gemacht worden waren, erwiesen sich als korrupt und regierten – wie in den neunziger Jahren – außerhalb der von ausländischen Truppen geschützten Gebiete mit Hilfe von Privatarmeen, also mit brutaler Gewalt. Sie genossen de facto Immunität, weil niemand sich traute, sie vor Gericht zu bringen. Die Taliban, die sich nach Pakistan zurückgezogen hatten, wurden daher in manchen Regionen wieder als das kleinere Übel angesehen. Und der Opiumanbau erwies sich für viele Menschen einmal mehr als das sicherste Mittel zum Überleben. Aus der städtischen Mittelschicht, die teilweise aus der Emigration zurückgekehrt war, teilweise Krieg und Bürgerkrieg überlebt hatte, engagierten sich viele für den Wiederaufbau von Schulen und Universitäten oder im Gesundheitswesen, gründeten kleine und mittlere Unternehmen. Gegen die wachsende Korruption und die Kleptokratie einer schmalen Oberschicht, die Milliarden unterschlug und ins Ausland brachte, konnten sie wenig ausrichten.

Schon 2011 schilderte die norwegische Afghanistan-Expertin Astri Suhrke in ihrem Buch „When More Is Less: The International Project in Afghanistan“ detailliert, welche grundlegenden Fehler in Afghanistan gemacht wurden. Ihre Analysen trugen vermutlich dazu bei, dass Norwegen 2014 sein Afghanistan-Engagement beendete. Von der Bundesregierung und vom Bundestag wurden derartige Analysen ignoriert. Jahr für Jahr gab es so genannte „Fortschrittsberichte“, die den Eindruck erwecken sollten, dass in Afghanistan im Wesentlichen Erfolge erzielt wurden. Dabei wurde das von außen aufgebaute und finanzierte Staatssystem immer instabiler. Es gab nie eine ernsthafte Analyse des Gesamtengagements des Westens in Afghanistan, wie Astri Suhrke oder das „Afghanistan Analysts Network“ sie leisteten. Stattdessen wurde in der deutschen Debatte so getan, als ob die Zukunft Afghanistans im Wesentlichen von Entscheidungen in Berlin abhing. Also wurde darüber gestritten, wie die Zusammenarbeit zwischen Verteidigungsministerium, Auswärtigem Amt und Innenministerium verbessert werden könnte. Die dramatischen Widersprüche des Gesamtengagements externer Akteur*innen im Land wurden ebenso ignoriert wie die grundlegenden Fehler im Verhandlungsprozess mit den Taliban, in dem der Abzug der NATO-Truppen verhandelt, aber keine Zukunftsperspektive für das Land als Ganzes entwickelt wurde, weil ein weiteres Mal über die Köpfe der meisten Menschen, die in Afghanistan leben, hinweg verhandelt wurde.

Den plötzlichen Zusammenbruch der instabilen Regierung in Kabul und die beschämende Tatsache, dass es kein umfassendes Konzept dafür gab, diejenigen rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, die durch eine erneute Machtübernahme der Taliban absehbar in großer Gefahr waren, haben wir alle noch gut in Erinnerung. Wichtig ist jetzt, dass die richtigen Konsequenzen gefordert und von der SPD-geführten Bundesregierung umgesetzt werden:

  1. Eine umfassende Analyse des Gesamtengagements der NATO in Afghanistan und nicht nur des deutschen Anteils daran – am besten in einer Enquête-Kommission, ggf. zusätzlich zu einem Untersuchungsausschuss, der die Versäumnisse beim Rückzug der Bundeswehr analysiert.

  2. Eine klare Entscheidung zur Aufnahme aller gefährdeten Afghan*innen, die es schaffen, das Land zu verlassen – egal, ob sie für die Bundeswehr oder deutsche Hilfsorganisationen gearbeitet haben oder in den vom Westen geförderten Partnerorganisationen und Institutionen tätig waren. Insbesondere müssen unbürokratisch und zeitnah Visa erteilt werden, sowohl für die Betreffenden als auch für ihre nächsten Familienangehörigen.

  3. Bereitstellung von genügend Mitteln für direkte humanitäre Überlebenshilfe für die von Hunger und Not bedrohten Menschen in Afghanistan und diplomatische Unterstützung der Hilfsorganisationen, die Geld oder Hilfsgüter trotz der nach wie vor bestehenden US-Sanktionen ins Land bringen wollen.

  4. Unterstützung des Dialogprozesses zwischen Talibanvertretern und Vertreter*innen der afghanischen Zivilgesellschaft, der mit einem Treffen am 23.1.2022 in Oslo begonnen hat und zu dem die norwegische Regierung eingeladen hatte.

  5. Unterstützung der Initiative des Generalsekretärs der Vereinten Nationen für eine umfassende Unterstützung des Afghanischen Volkes.

Ute Finckh-Krämer Diplom-Mathematikerin und Dr.rer.nat., war von 2013 bis 2017 SPD-Bundestagsabgeordnete und in dieser Zeit im Auswärtigen Ausschuss, im Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe und in den Unterausschüssen für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie für Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln. Sie ist seit 45 Jahren in verschiedenen Organisationen friedenspolitisch aktiv.

Literatur

Afghan Analysts Network: https://www.afghanistan-analysts.org/en/

Suhrke, Astri (2011): When More is Less: The International Project in Afghanistan. New York/London: Columbia/Hurst.

Vereinte Nationen (2022): „We cannot abandon the people of Afghanistan“ Guterres tells Security Council, UN News v. 26.1.2022, https://news.un.org/en/story/2022/01/1110622

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