Editorial
Als vor gut zwei Jahren die ersten Meldungen über Infektionen mit einem neuartigen Corona-Virus in der chinesischen Provinz Wuhan aufkamen, konnte kaum jemand ahnen, welche weltweiten Auswirkungen dieses Virus einmal haben würde. Gut zwei Jahre später sehen wir, wie weitreichend und wie schnell es das Leben vieler Menschen verändert hat – von den mehr als 6 Millionen Toten, die an oder mit dem Virus weltweit gestorben sind, ganz zu schweigen.
Von den Bürger- und Menschenrechten heißt es immer, sie seien keine Schönwetter-Rechte, sondern müssten sich in Krisenzeiten bewähren. Insofern war die Pandemie der letzten zwei Jahre auch ein Belastungstest für all das, was unsere Verfassungsordnung vorsieht, um individuelle Freiheiten, soziale Sicherheit, demokratische Gewaltenteilung sowie Teilhabe zu gewährleisten. Auch wenn es noch zu früh dafür ist, eine abschließende Bilanz davon zu ziehen, welche Spuren die Pandemie in unserem Gemeinwesen hinterlassen hat – eine erste Bestandsaufnahme wollen wir mit dieser Ausgabe der vorgänge wagen.
Bevor wir uns die Auswirkungen des Virus in Deutschland ansehen, verweist Andreas Wulf in seinem einleitenden Beitrag auf die globale Dimension der Pandemie. Während hierzulande über Sinn und Zweck einer Impfpflicht gestritten sowie Skeptiker*innen mit neuen Impfstoffen überzeugt werden sollen, fehlt in vielen Ländern des globalen Südens schlicht der Impfstoff. Welche Rolle dabei die Pharmaindustrie und der Patentschutz für die Impfstoffe spielen, zeigt der Autor deutlich auf. Alternative Modelle wie ein öffentlicher Patentpool oder die freie Vergabe von Produktionslizenzen, die seit Jahren existieren, wurden kaum umgesetzt, weil führende Industrienationen (allen voran: Deutschland) sich dem verweigerten und ihre Standortvorteile gnadenlos ausnutzten.
Die Corona-Pandemie war und ist eine soziale wie politische Ausnahme-Situation, ein Ereignis, für dessen Bewältigung zunächst einmal der Bevölkerungs- und Katastrophenschutz gefordert ist. Welche Defizite sich dabei offenbart haben, beschreibt Bennie Thiebes in seinem Beitrag. Da absehbar ist, dass diese Pandemie nicht einfach endet und Vergleichbares wieder eintreten kann, fasst er seine Einsichten als „Lessons to learn für Deutschland“ zusammen.
Auch wenn die Corona-Pandemie alle Bereiche des öffentlichen Lebens beeinträchtigt hat, gilt dies in besonderer Weise für das Gesundheitswesen und die dort Beschäftigten. Sie standen von Beginn an im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, wurden als „Corona-Helden“ gefeiert und beklatscht. Jenseits der neuen Sichtbarkeit und der symbolischen Anerkennung fiel die konkrete Unterstützung für diese Berufsgruppe jedoch dürftig aus, wie Monja Katja Schünemann in ihrem Beitrag schildert. Selbst elementarste Schutzmittel fehlten für jene, die tagtäglich mit dem Virus konfrontiert waren; von Maßnahmen gegen die immer weiter steigende Arbeitsbelastung ganz zu schweigen. Schünemann fordert deshalb eine neue Pandemieethik, die nicht nur auf die Behandlung der Kranken, sondern auch auf deren (meist weibliche) Pfleger*innen achtet.
Eine weitere Gruppe, die von den Folgen der Pandemie besonders betroffen ist, sind Kinder und Jugendliche. Ihnen widmet sich Michael Klundt in seinem Text. Er sieht die Heranwachsenden in der Pandemie gleich mehrfach benachteiligt: weil sich die Gefährlichkeit des Virus in Abhängigkeit von den Wohnverhältnissen und den Arbeits- bzw. Schulbedingungen für die sozialen Schichten und Altersklassen stark unterscheide; weil viele Lockdown- und Schutzmaßnahmen Kinder und Jugendliche in besonderer Weise einschränken; und weil sie bei den Unterstützungs- und Hilfeleistungen benachteiligt seien.
Diese mangelnde Aufmerksamkeit für die Belange der Heranwachsenden konstatiert auch Wolfram Grams, der sich mit dem deutschen Bildungssystem in der Pandemie befasst. Die Ausgangslage sei dabei denkbar schlecht: „Die Pandemie traf auf ein Schulsystem, dessen sachliche, bauliche und personelle Ausstattung desaströs ist“, so Grams. Die notwendige Teilung der Schulklassen, der sprunghaft gestiegene Bedarf für digitale Unterrichtsplattformen sowie der nötige Umbau von Unterrichtsräumen hätten schnell zur Überlastung des Systems geführt, was entsprechende Ausfallzeiten bzw. Schulschließungen nach sich zog.
Auf einen ganz anderen Aspekt der Corona-Krise schaut zum Abschluss unseres Themenschwerpunkts Stephan Russ-Mohl: die journalistische Vielfalt und Qualität der Corona-Berichterstattung, der gerade in solchen Krisenzeiten eine wichtige Kontrollfunktion zukommt. Russ-Mohl wertet dazu erste Untersuchungen zur Berichterstattung über die Pandemie im deutschsprachigen Raum aus, die auf Versäumnisse und problematische Tendenzen hinweisen: etwa die thematische Verengung der Berichterstattung; die übertriebene Krisenrhetorik in vielen Berichten, wodurch bisweilen eine apokalyptische Endzeitstimmung heraufbeschworen wurde; die fehlende kritische Hinterfragung und Kontextualisierung von Informationen (z.B. in der Fixierung auf bestimmte Kennzahlen wie die Inzidenz) oder die vorauseilende Diskreditierung kritischer Stimmen zur Pandemiepolitik in den Medien.
Neben dem Themenschwerpunkt finden Sie in dieser Ausgabe der vorgänge auch zahlreiche Beiträge zu anderen Themen: etwa der gescheiterten Entwicklung in Afghanistan, dem Regierungsprogramm der neuen Koalition oder dem Konzept einer gesetzlich verankerten Demokratieförderung. Ich wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und freue mich auf Ihre Reaktionen.
Sven Lüders
für die Redaktion der Zeitschrift