Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 235: Zwei Jahre Corona - und wie weiter?

Rezensionen - Wurzeln des „Quer­den­kens“

Andreas Speit, Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus, Ch. Links Verlag Berlin 2021, 240 S., 18,- Euro, ISBN 978-3-96289-110-7

In Politik und Medien wird das heutige Deutschland häufig als „Wissensgesellschaft“ charakterisiert. Aber wie ist es damit zu vereinbaren, dass z. B. bei einer von Jonas Rees und Pia Lamberty 2018/19 durchgeführten sozialwissenschaftlichen Erhebung knapp über die Hälfte der Befragten eine wissenschaftsfeindliche Haltung teilten und angaben, „dass sie ihren Gefühlen mehr vertrauten als sogenannten Expert_innen“? Der Sozialökonom und Journalist Andreas Speit führt in seinem hier vorgestellten Buch noch weitere Belege für die weite Verbreitung irrationaler Einstellungen in der Bevölkerung an: Nach der „Leipziger Studie“ von Oliver Decker u. a. aus dem Jahre 2020 erklärten über 40 Prozent der Befragten, dass sie Glücksbringer „für wirkungsvoll“ halten, und mehr als 30 Prozent trauten „Horoskopen korrekte Vorhersagen zu“ (S. 39). Decker u. a. greifen bei ihrer Beschäftigung mit Aberglauben und Verschwörungsmentalität auf Studien von Theodor Adorno und Max Horkheimer zum „autoritären Charakter“ zurück. Beiden Phänomenen wohnt danach die Tendenz inne, eigene unerwünschte, ambivalente oder beängstigende Eigenschaften und Gefühle auf andere Gruppen oder äußere Instanzen zu projizieren.

Nach Speit wird ein Hybrid aus beiden Erscheinungen, die conspirituality (ein Kofferwort aus conspiracy und spirituality) zunehmend populärer. „Deren Anhängerschaft steht anerkannten Wissensquellen – wissenschaftlicher Forschung, öffentlicher Bildung und etablierten Medien – nicht bloß kritisch gegenüber, sie negiert sie“ (S. 40). In der Tat: Es macht einen Unterschied, ob Meldungen von „offiziöser“ Seite mit dem gebotenen Maß an Skepsis aufgenommen und auf ihre Rationalität überprüft, oder ob sie in Bausch und Bogen als falsch abgelehnt werden und dafür den sich zahlreich im Netz tummelnden Scharlatanen blind Vertrauen geschenkt wird.

Nach seinen Bemerkungen grundsätzlicher Art widmet sich der Autor ausführlich den Aktivitäten der „Querdenker“-Szene, ihren Protagonisten wie z. B. Michael Ballweg oder dem Anwalt Markus Haintz, ihren Medien wie z. B. dem Magazin „Compact“ mit seinem – von ganz links bis nach rechts marschierten – Chefredakteur Jürgen Elsässer, Netzwerken wie „QAnon“ und Verbindungen zu den „Reichsbürgern“ und anderen rechten Kreisen.

In einem weiteren Kapitel kritisiert Speit der Verbreitung von Fake News über die Gefahren von Corona-Impfungen und die Geschichtsvergessenheit vieler Impfgegner:innen. Er erinnert daran, dass es noch in den fünfziger Jahren zwei Polio-Epidemien in Deutschland mit fast 10.000 Todesopfern gegeben hat, bevor die Kinderlähmung durch eine Massenimpfung eingedämmt werden konnte („Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“). Bereits damals, so sei hinzugefügt, dürfte das Risiko von Nebenwirkungen der Impfung schon deutlich geringer gewesen sein als das Risiko einer schweren Erkrankung ohne Schutzimpfung. Das Pro und Contra wurde seinerzeit ohnehin kaum in der Öffentlichkeit erörtert – schon gar nicht mit der heutigen Vehemenz.

Der Autor verweist auch darauf, dass die Ablehnung des Impfens durchaus in einer unseligen „völkischen“ Tradition steht. Als Beispiel wird hier Eugen Dühring genannt, der 1881 behauptete, dass das Impfen ein Aberglaube von jüdischen Ärzten sei, die sich persönlich bereichern wollten.

Rassistisches Gedankengut, zeigt der Autor, lässt sich auch bei den Gründern verbreiteter „alternativer“ Lebensmodelle nachweisen, so bei dem Vater der Anthroposophie, Rudolf Steiner. In seiner „Akasha-Chronik“ betrachtete Steiner die „Arier“ als den am höchsten entwickelten Teil der Menschheit. In seiner Schrift „Über Gesundheit und Krankheit“ von 1922/23 brachte Steiner seinen Ärger über einen „Negerroman“ zum Ausdruck: „Ich bin meinerseits davon überzeugt, wenn wir noch eine Anzahl Negerromane kriegen, und wir geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen (…), da braucht gar nicht dafür gesorgt werden, daß Neger nach Europa kommen, damit Mulatten entstehen; da entsteht durch rein geistiges Lesen von Negerromanen eine ganze Anzahl von Kindern in Europa, die ganz grau sind, Mulattenhaare haben, die mulattenähnlich aussehen werden“ (zit. auf S. 151). Speit weist indessen auch darauf hin, dass sich z. B. Vertreter_innen von Waldorf-Schulen inzwischen von solchen rassistischen Positionen deutlich distanziert haben. Von weit rechts allerdings erfahre Steiner eine erneute Wertschätzung. In einer Ausgabe von „Compact“ von 2020 wird der Begründer der Anthroposophie denn auch als „erster Querdenker“ gefeiert (S. 166).

Weiter geht der Reigen kritischer Beschäftigung mit „alternativen“ Lebenspraktiken u. a. mit dem lukrativen Markt der Homöopathie und anderen „nicht evidenzbasierten“ Behandlungsmethoden. Zwar sei, schreibt Speit, die Kritik aus dem entsprechenden Milieu an den ökonomischen Praktiken der Pharmaindustrie durchaus berechtigt, die von der Alternativmedizin verlangten hohen Preise würden indessen kaum in Frage gestellt.

Gleich zu Beginn seiner Darstellung fällt der Autor ein harsches Urteil über die „Querdenker“-Bewegung insgesamt: „Der vermeintliche Protest für die Freiheitsrechte aller ist letztlich ein Protest für das eigene Recht, sich zu verhalten, wie man gerade will. Die Demonstrant:innen denken nicht quer, sie denken egoman. Eine Form der ‚rohen Bürgerlichkeit‘ (Wilhelm Heitmeyer), die mit der eigenen Ignoranz gegenüber den Toten und ihren Angehörigen und Freund:innen einhergeht“ (S. 8).

Allerdings, so wäre hier einzuwenden, ist egozentrischer Individualismus alles andere als ein konsequenter Ausdruck der Lebensmodelle „alternativer“ Milieus in der Gesellschaft. Eine solche Haltung ist vielmehr der dominanten Ideologie des Neoliberalismus und seinem individualistischen Freiheitsbegriff immanent: „Jeder ist seines Glückes Schmied, und wem es schlecht geht, ist dafür selbst verantwortlich!“ Solidarische Verhaltensweisen, Empathie und die Übernahme von Verantwortung für Andere erscheinen da nur als sozialromantischer Ballast. Wie wirkmächtig solche sozialdarwinistischen Einstellungen in der heutigen Gesellschaft inzwischen sind, zeigt nicht zuletzt der Wahlerfolg der FDP gerade bei jungen Menschen.

Auf solche Einstellungen und ihre Propagandisten geht Speit leider zu wenig ein; gleichwohl bietet sein Buch eine Fülle von Informationen und Anregungen für die weitere Diskussion brennender Gegenwartsfragen.

Martin Kutscha

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