Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 235: Zwei Jahre Corona - und wie weiter?

"Der Mann, der Adolf Eichmann enttarnte"

So lautet der Titel eines Dossiers, das Bettina Stangneth und Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung im Sommer 2021 veröffentlichten.[1]Seitdem wissen wir, wer der Mann war, der den genauen Aufenthaltsort und die Identität Adolf Eichmanns kannte und wer alles dafür sorgte, dass diese brisanten Informationen an den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Frankfurt a.M. gelangten. Die SZ nennt in ihrer Wochenendausgabe vom 21./22. August 2021 ihre Quellen für den späten, sensationellen Befund:

„Die Süddeutsche Zeitung kann jetzt nach Gesprächen mit den Kindern und Enkeln der Eingeweihten, auf der Grundlage von Tagebüchern, Briefen und Dokumenten und langwierigen Recherchen in staatlichen und kirchlichen Archiven zum ersten Mal nachweisen, dass Eichmann mit Hilfe eines bis heute unbekannt gebliebenen Göttinger Akademikers enttarnt und deshalb in Jerusalem vor Gericht gestellt werden konnte.“

Der Unbekannte hieß Gerhard Klammer, ein Geologe aus Göttingen. Am 18. Oktober 1959 meinte er gegenüber dem mit ihm und seiner Frau Ilse Klammer (damals beide 38 Jahre alt) seit vielen Jahren befreundeten Ehepaar Rosemarie (38) und Giselher Pohl (33) bei einem Treffen in seinem Wohnort Duisburg: „Ich weiß, wo Eichmann lebt.“ Dieses Wissen gelangte auf skurrile Weise an den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer in Frankfurt.

Gerhard Klammer hatte nach dem Krieg in Filmen und Fotos die von den Nazis hinterlassenen Leichenberge gesehen. Das und seine Arbeitslosigkeit im Nachkriegsdeutschland waren Gründe, weswegen er Deutschland damals den Rücken kehrte und sich am 4. Januar 1950 in Buenos Aires einschiffte. Er fand Arbeit bei der Firma CAPRI, einer Firma für Bauprojekte und die Erstellung von Industrieanlagen (CAPRI steht für „Compagnia Argentina para Proyectos y Realizaciones industriales – Fuldner y Cia“). Der Capri-Gründer Carlos Fuldner, ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer, war als Subunternehmer für die Organisation der Aufbauarbeiten am Präsidentenpalast von Juan Péron zuständig und hielt viel von den Technik-Fachleuten, die sich unter den nach dem Krieg in Argentinien aufgetauchten Nazis fanden. Für einige Beschäftigte dort verwaltete die CAPRI-Sekretärin Ingrid Elisabeth Silbermann den gemeinsamen Briefkasten. Darunter: Ricardo Klement (Adolf Eichmann, „Judenreferent“), Juan Richwitz (Berthold Heilig, NSDAP-Leiter des Kreises Braunschweig), Pedro Geller (Herbert Kuhlmann, Kommandeur der 12. SS-Division „Hitlerjugend“) und weitere, oft nur mit Tarnnamen bekannte Nazis.

Von Rosemarie Pohl, die kurz vor ihrem Tod mit 92 Jahren ihrer Tochter vom besagten Besuch bei der Familie Klammer in Duisburg im Jahr 1959 berichtete, erfahren wir, dass sich diese Nazi-Familien in Argentinien untereinander gut kannten. Eichmann, 1950 nach Jahren des Untertauchens in Deutschland ebenfalls in Argentinien gelandet, hatte bald danach seine Familie nachkommen lassen; seine Kinder trugen keine Tarnnamen. „Ricardo Klement“ lebte als „Onkel“ bei ihnen. Er arbeitete bei einem Vermessungstrupp, sein Vorgesetzter: Gerhard Klammer. Dieser berichtet der Familie Pohl im Herbst 1959, er habe seinen früheren Kollegen in Buenos Aires aus einem Bus steigen sehen und sei ihm zu dem Haus in der 4261 Calle Chacabuco, Olivos, gefolgt. Bei Nachbarn habe er sich über diesen Mann erkundigt, um sicher zu sein, dass er dort wohnte.

Klammer musste befürchten, durch Hinweise auf Eichmann seine eigene berufliche Zukunft zu gefährden; die hatte sich erfolgreich entwickelt, mit weltweiten Kontakten, Reisen und auch einem Angebot an der Braunschweiger Universität. Daher sollte die Familie Pohl darüber entscheiden, was wie an wen lanciert werden kann, damit Eichmann aufgegriffen und bestraft wird. Wohin mit der brisanten Information?

Die Pohls sahen eine realistische Chance, die Informationen über Identität und Aufenthalt Eichmanns in die richtigen Kanäle zu geben. Gerhard Klammers Göttinger Studienfreund Pohl war 1959 einer der ersten Militärpfarrer in der neu gegründeten Bundeswehr. Dessen Vorgesetzter war Bischof Hermann Kunst. Der wüsste, wie weiter zu verfahren ist, waren die Pohls überzeugt. Hermann Kunst war 1957 als Vertreter der evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) zum ersten Militärbischof bestellt worden. Und in der Tat: Nachdem Giselher Pohl am 10. November 1959 beim Bischof in Bonn gewesen war, kam es zwei Wochen später zu einem Treffen der Familie Pohl mit Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Was dazwischen geschah, ist bemerkenswert und hat skurrile Seiten.

Mit dem exponiertesten Altnazi in der Adenauer-Regierung, Staatssekretär und Kanzleramtschef Hans Globke, Mitverfasser der Nürnberger Rassegesetze, stand der Militärbischof Kunst in engem Kontakt, sie waren zudem fast Wohnnachbarn. Globke hatte für den Militärbischof einen geheimen Sonderetat vorgehalten, der nicht nur für bedürftige Pfarrer genutzt wurde, sondern auch zur politischen Landschaftspflege, die unter „sozialpolitischen Zwecken“ und „staatspolitischer Erziehungsarbeit“ lief. Wieso informierte der Militärbischof nicht Globke oder den Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND) Reinhard Gehlen, der den Bischof unter dem Tarnnamen „Künstler“ führte? Gehlen war in der Nazizeit Chef der Spionage „Fremde Heere Ost.“ Wieso geht der Militärbischof, der noch in der Nazizeit Wehrertüchtigungsreden gehalten hatte und gute Verbindungen zu Globke und Gehlen besaß, ausgerechnet zu dem Sozialdemokraten, dem Juden, dem Remigranten Bauer in Frankfurt?

Nicht Globke oder Gehlen, sondern Fritz Bauer war der Adressat

Hermann Kunst fällt wohl in die Kategorie „Saulus-Paulus“. Er soll es sich nach dem Ende der Naziherrschaft zur Lebensaufgabe gemacht haben, die Täter von gestern zur Verantwortung zu ziehen. Hermann Kunst ging davon aus, dass der Altnazi Hans Globke kein Interesse daran haben würde, dass Eichmann der Prozess gemacht wird – egal wo. Kunst war sich der Gesamtsituation in der Bundesrepublik bewusst, wo der umfassende Wirtschaftsaufbau und das Verdrängen der ungeheuerlichen Naziverbrechen angesagt waren und nicht die Jagd auf Altnazis. Ein Haftbefehl gegen Eichmann lag bereits seit November 1958 vor und der BND wusste bereits seit 1952 vom Aufenthalt Eichmanns irgendwo in Argentinien. Die deutschen Behörden ermittelten nicht konsequent, es fehlte der politische Wille. Den aber hatte der Generalstaatsanwalt in Frankfurt a.M. Fritz Bauer, dessen Protegè und Mitwisser seiner Aktionen der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn war.

Bauer war auf Eichmanns Fährte; bereits 1957 hatte Bauer einen Brief des Holocaust-Überlebenden Lothar Hermann aus Argentinien erhalten mit der Nachricht, Eichmann lebe in Buenos Aires, Adresse inklusive. Wegen der vielen Nazis, die in den deutschen Ermittlungsbehörden wieder Beschäftigung gefunden hatten, fehlte Bauer jedes Vertrauen in seine Kollegen. Er wandte sich heimlich an den israelischen Geheimdienst. Seine Bemühungen, den israelischen Geheimdienst Mossad zur Initiative zu bewegen, schlugen jedoch zunächst fehl. Es gab Namensverwechselungen bei der Recherche des Mossad vor Ort in Argentinien und die Verlässlichkeit des fast erblindeten Zeugen Hermann stand beim israelischen Geheimdienst in Zweifel. Von dort war zunächst nichts zu erwarten.

In dieser Situation suchte Bauer die Familie Pohl am 25. November 1959 in Unna auf, nachdem der Militärbischof Hermann Kunst ihn über Eichmann informiert und Beweismittel übergeben hatte. Am 3. Dezember fliegt Bauer ohne Wissen seiner Behörde mit seinen brisanten Informationen nach Israel – und überzeugt seine Mossad-Freunde dieses Mal. Drei Tage später gibt Ben Gurion, der israelische Ministerpräsdent, den Befehl zur Ergreifung Eichmanns. Am 23. Mai 1960 erfährt die Weltöffentlichkeit durch Ben Gurion, dass Eichmann in Israel ist und ihm dort der Prozess gemacht wird.

Bis zur Veröffentlichung des Dossiers der Süddeutschen Zeitung im August 2021 behielten die unmittelbar Beteiligten für sich, wer der Mann war, der Fritz Bauer die den Mossad schließlich überzeugenden Beweismittel in die Hand gespielt hatte.

Der Coup im Film

Die Ergreifung Eichmanns ist in den Filmen, die in den letzten Jahren über Fritz Bauer gedreht wurden, ein dramatischer Erzählhöhepunkt für ein Publikum, dem zuvor drastisch geschildert worden war, für welche Verbrechen der Name Eichmann stand. Im Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2016), in dem dieser großartig von Burghart Klaußner dargestellt wird, rührt der „Tatort“-Macher Lars Kraume in seinem Drehbuch die Themen Naziverbrechen und Sex cineastisch gekonnt, aber teilweise fiktiv überhöht zusammen – „perfekt“ bis zur digitalen Applikation eines Geschlechtsteils bei einer den jungen Staatsanwalt aus Bauers Team erotisch anziehenden Dame aus dem Rotlicht-Milieu. Im Film wird aus der wohl zutreffenden Tatsache, dass einer der Söhne Eichmanns die Mitschülerin und Tochter des vor den Nazis nach Argentinien geflohenen Juden Lothar Hermann kennenlernte, eine zur Liebesgeschichte aufgedonnerte Beziehung gemacht, der zu verdanken ist, dass Lothar Hermann den Aufenthaltsort und die Identität Eichmanns an Bauer weitergeben konnte. Spielfilm darf das. Wer es realitätsnäher wissen will, findet im Film „Fritz Bauer – Tod auf Raten“ (2010) von Ilona Ziok die dokumentarische Aufarbeitung des Lebenswerks von Fritz Bauer.

Als Eichmann am frühen Morgen des 1. Juni 1962 gehängt wurde, mögen die Angehörigen der Opfer und Millionen andere so etwas wie Genugtuung empfunden haben. Und einige wie Hans Globke auch Erleichterung, denn stets mussten sie befürchten, dass im Eichmann-Prozess mehr hochkommen würde über ihre Naziverstrickungen, als dann tatsächlich im Prozess zur Sprache kam.

Politische Instrumentalisierung der Entführung Eichmanns?

Die Investigativ-Journalistin Gaby Weber hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf Ungereimtheiten und seltsamerweise sonst nicht aufgeworfene Fragen im Zusammenhang mit der Entführung Eichmanns hinzuweisen (Buchtitel: „Eichmann wurde noch gebraucht“, Berlin 2012). Sie hat die einschlägigen Archive durchforstet und oft vergeblich Akteneinsicht gerichtlich durchzusetzen versucht. Gaby Weber leuchtet das ganz große Bild aus über „die Hintergründe und die politische Instrumentalisierung der Entführung des NS-Kriegsverbrechers“, so der Klappentext. Es geht dabei u.a. um die vereinten Machenschaften Argentiniens, Israels und der Bundesrepublik Deutschland zur Finanzierung und Realisierung der Atomanlage in Dimona in der israelischen Wüste, die Israel atomwaffenfähig machen sollte.

Möglicherweise trägt die zukünftige Freigabe von Archivmaterial zur weiteren Aufklärung der Implikationen der Eichmann-Entführung in diese Zusammenhänge bei. Wie auch immer – so viel steht jedenfalls fest: Der Mann, der die entscheidenden Hinweise zur Ergreifung Adolf Eichmanns lieferte, war Gerhard Klammer. Er starb 1982 und war nie in Israel. Der Familie Pohl überbrachte Fritz Bauer beim Besuch in Unna am 1. Juli 1961 die Einladung nach Israel. „Wir wurden wie Staatsgäste empfangen“, schrieb Rosemarie Pohl in ihr Tagebuch. Der Mossad schickte im Jahr 2011 eine Ausstellung über die Entführung Eichmanns und den Prozess gegen ihn um die ganze Welt: „Operation Finale. The Capture & Trial of Adolf Eichmann – Mossad sponsered“. Der Militärpfarrer Giselher Pohl starb 1996. Die SZ schließt diese grandiose Geschichte mit den Worten ab: „Das Schweigegebot, das sich 1959 beide Familien auferlegt haben, gilt bis heute. Die Kinder und Enkel haben den Zugang zu den Familiendokumenten nur unter der Bedingung ermöglicht, dass sie selber nicht näher identifiziert werden.

 

Werner Koep-Kerstin war Vorsitzender der Humanistischen Union von 2013 bis 2021. Er ist Politikwissenschaftler und Historiker. Als Referatsleiter im Bundespresseamt war er an der Förderung des Films „Fritz Bauer – Tod auf Raten“ von Ilona Ziok beteiligt.

Anmerkungen

  1. Bettina Stangneth, Willi Winkler: Der Mann, der Adolf Eichmann enttarnte. Süddeutsche Zeitung v. 20.8.2021
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