Der Pharma- und Patente-Komplex
Die Covid-19-Pandemie hat viele Menschen nicht nur zu Hobby-Epidemiolog*innen und Laien-Virolog*innen gemacht, sondern auch die Debatten um das Eigentum an und die Verfügbarkeit von neu entwickelten Medikamenten und Impfstoffen aus den Fachkreisen in eine weite Öffentlichkeit gebracht – auch dank des ersten afrikanischen Generaldirektors der Weltgesundheitsorganisation WHO, Dr. Gebreyesus Tedros. Der sprach schon im Januar 2021 von einem „katastrophalen moralischen Versagen“, welches der weltweit ungleiche Zugang zu diesen lebensrettenden Medizinprodukten, die gerade entwickelt worden waren, darstellt. Dieses Versagen vergrößerte sich im Laufe des letzten Jahres mit jeder neuen Booster-Runde und wird auch in 2022 mit den versprochenen, auf die neue Omicron-Variante des Corona-Virus adaptierten Impfstoffen, die vorrangig für die wohlhabenden Länder zur Verfügung stehen werden, weiter vergrößern. Impfquoten von 70 bis 90% in den Ländern mit eigener Impfproduktion und bilateralen Verträgen stehen die meisten der ärmsten Länder gegenüber, die noch nicht über 15% Geimpfte in der erwachsenen Bevölkerung hinaus gekommen sind.
Mit seinen deutlichen Worten, dem noch viele ähnliche folgen sollten, skandalisierte Dr. Tedros diese extremen Unterschiede beim Zugang zu den seit Ende 2020 verfügbaren Impfstoffen. Ein entscheidender Faktor an dieser Kluft zwischen denen, die auf die Impfstoffe zugreifen können, und denen, die das Nachsehen haben, sind die global vertraglich gesicherten privaten Eigentumsrechte an solchen Neuentwicklungen – trotz der enormen staatlichen Investitionen in die Entwicklung von Diagnostika, Medikamenten und Impfstoffen gegen Covid-19.
Die Zahlen wurden immer wieder genannt: Der Entwicklung des mRNA-Impfstoffs von Moderna wurde von den USA mit einer Milliarde Dollar direkt gefördert, weitere 1,8 Milliarden betrugen die Lizenzgebühren für öffentliche Patente der Grundlagenforschung, die Moderna erlassen wurden. Der Adenovirus-Impfstoff von Johnson+ Johnson wurde mit 1,45 Milliarden USD gefördert, auch die Pfizer/Biontech- Impfstoffentwicklung bekam 475 Mio Dollar von der US-Regierung und 375 Mio. von der Bundesregierung. [1]
Trotz dieser enormen öffentlichen Finanzierung verbleiben die Produkte in der Verfügungsgewalt der Hersteller. Und das obwohl sie – bereits im Frühjahr 2020 vollmundig von EU-Kommissionschefin von der Leyen und anderen prominenten Staatschefs verkündetet – „globale öffentliche Güter“ für alle sein sollten.[2]
Die Realität sah und sieht anders aus: Besonders die mRNA und Adenovirus Impfstoffe der genannten Hersteller aus Europa und den USA, die sich als besonders wirksam gegen die schwere Covid-19-Erkrankung erwiesen, wurden noch 2020, Monate bevor die ersten dieser Impfstoffe in den USA, Europa und bei der WHO zugelassen waren, zum größten Teil per Vorverträgen an eine Handvoll reicher Staaten verkauft.[3] Kein Wunder, dass die Börsenwerte der Pharma-Multis Pfizer, AstraZeneca und Johnson & Johnson in der Folge durch die Decke gingen, ebenso wie die der deutschen und US-amerikanischen Entwicklerfirmen Biontech und Moderna.[4] Gigantische Milliardengewinne wurden für 2021 bereits ausgewiesen und werden auch in 2022 die Profite dieser Unternehmen weiter steigen lassen.[5] Auch die zu erwarteten Produktionen dieser Unternehmen in 2022 werden vornehmlich in Länder mit hohen und mittleren Einkommen verkauft.[6]
Diese enormen Profite lassen sich nur realisieren, wenn das Wissen um Entwicklung und Produktion in den Händen weniger bleibt – die Monopolstellung der Hersteller wird durch das global bei der Welthandelsorganisation durchgesetzte Patentsystem gesichert.
Verbissen für Patente
Bei dieser Durchsetzung spielten in den 1990er Jahren neben den großen IT-Konzernen auch die Pharmaindustrie (Pfizer war hier ein zentraler Akteur) vornehmlich der USA eine entscheidende lobbyistische Rolle. Angesichts der aufholenden industriellen Entwicklung wichtiger Schwellenländer wie Indien, Südkorea, Mexiko, Brasilien und China galt es, die Konkurrenz möglichst lange von Innovationen fernzuhalten, auch auf Kosten eines verzögerten Zugangs zu lebensnotwendigen Produkten. Das Abkommen über „Trade Related Aspects of Intellectual Property“ der Welthandelsorganisation wurde 1995 mit massiven Druck der USA durchgesetzt und verpflichtete alle Mitglieder der WTO (außer den ärmsten Ländern), einen „minimalen“ Standard von Produktpatenten mit einer Laufzeit von 20 Jahren in ihren nationalen Gesetzgebungen zu garantieren. [7]
Dabei sind die Mythen, die sich um dieses „Innovationsmodell“ der geistigen Eigentumsrechte ranken, längst widerlegt: Obwohl als Rechtfertigung für dieses Modell die hohen Forschungskosten und zahlreichen Fehlschläge bis zum neuen „Blockbuster“-Medikament angegeben werden, forschen die großen Konzerne oftmals gar nicht mehr selbst. Vielmehr nutzen sie ihre enormen Gewinne für Einkaufstouren und Fusionen: Kleine Biotechnologie-Unternehmen, die erfolgversprechende Forschungsergebnisse nachweisen können, werden, kaum haben sie den „Großen“ das Entwicklungsrisiko weitgehend abgenommen, geschluckt. Bei Biontechs mRNA-Impfstoff und dem US-Pharmagiganten Pfizer war dies genauso zu sehen, wie bei der Kooperation des britisch-schwedischen Unternehmen AstraZeneca mit den Entwickler*innen des Adenovirus-Impfstoffs an der Universität Oxford.
Ein besonders gut dokumentierter Fall dieser Strategie war die Entwicklung eines neuen wirksamen Medikaments gegen Hepatitis C: Das Hepatitis C Medikament Sofosbuvir (Sovaldi®) des Pharmariesen Gilead war ein relevanter Durchbruch in der Therapie dieser Infektionskrankheit, die aktuell immer noch über 43.000 Euro pro Behandlung in Europa kostet, während die internationale Generika-Konkurrenz den Preis für das Medikament auf unter 100 Euro gedrückt hat. Entwickelt wurde es von dem kleinen britischen Start-up Pharmasset, geschätzte Entwicklungskosten zur Zeit der Übernahme zwischen 43 Mio. (für Sofosbuvir allein) und 271 Mio. (incl. anderer, gescheiterter Kandidaten). In der Übernahmeschlacht 2013 zwischen mehreren Pharma-Giganten war schließlich die US-amerikanische Firma Gilead mit 11 Mrd. Dollar erfolgreich. Noch erfolgreicher erwiesen sich dann die Umsätze des Medikaments, das schon nach zwei Jahren 35 Mrd. Dollar eingespielt hatte.[8]
Öffentliche Forschung – Wo bleibt der Public Return on Public Investment?
Die Geschichte der Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe, von staatlichen und öffentlichen Institutionen nicht nur in den USA und Europa, sondern auch in Indien, China, Russland und Kuba mit umfangreichen Mitteln gefördert, zeigt einmal mehr, dass öffentliche Investitionen der zentrale Hebel zum raschen Erfolg sind – und gerade nicht das Patentsystem, das die Hersteller für ihre Investitionsrisiken im Erfolgsfall nachträglich entschädigen soll. An der Entwicklung der Impfstoffe enttarnt sich der Mythos, dass Patente in einem kapitalistischen System der zentrale Anreiz zur Produktion neuen Wissens und neuer Produkte darstellen. Denn kaum einer der großen Konzerne hatte in den letzten Jahren relevant in Impfstoffforschung investiert; ebensowenig wie in die dringliche Forschung neuer Antibiotika. Auch hier kann ein „Blockbuster System“ nicht zum Erfolg führen, denn neuartige Antibiotika dürfen eben nicht flächendeckend vermarktet und eingesetzt werden, wenn sie nicht zu Resistenzentwicklungen bei den Erregern führen sollen.[9] Dennoch wird die Legende vom Patent als dem Innovationsmotor weitergesponnen. Die globalen Spielregeln, die durch das Patentsystem der Welthandelsorganisation (WTO) den finalen Entwicklern dieser Produkte ein Monopol darauf einräumen, scheinen trotz globaler Pandemie in Stein gemeißelt zu sein.
Dabei lagen und liegen die Alternativen zum monopolbasierten Entwicklungssystem längst auf dem Tisch. Nötig wäre eine konsequente Trennung der Forschungs- und Entwicklungskosten von den Preisen der produzierten Medikamente. Eine solche Initiative scheiterte allerdings zuletzt bei der WHO, obwohl diese die richtige Bühne dafür wäre. Hier könnte sie sich in ihrer einzigartigen Funktion als der multilaterale Akteur der globalen Gesundheitspolitik mit dem Mandat zur Aushandlung völkerrechtlich verbindlicher Verträge bewähren.
Es war 2012, als die konsultative Experten-Arbeitsgruppe zu Forschung und Entwicklung nach einem Jahrzehnt der Analysen und Verhandlungen in der WHO-Kommission über geistige Eigentumsrechte, Innovation und Öffentliche Gesundheit (Commission on Intellectual Property Rights, Innovation and Public Health) einen solchen Vorschlag auf den Tisch legte. Er sah ein verbindliches Rahmenabkommen zu „Open Knowledge Innovation“ vor, mit dem eine gemeinsame öffentliche Forschungsfinanzierung durch die Mitgliedsstaaten der WHO entsprechend ihrer wirtschaftlichen Leistungsstärke vereinbart werden sollte. Damit wären das generierte Wissen, die Produkte und sogar Lizenzen unter öffentlicher Kontrolle. Auf diese Weise könnten Medikamente kostengünstig von allen reproduziert werden.[10] Noch im gleichen Jahr scheiterte dieser Vorschlag in der Weltgesundheitsversammlung, nicht einmal die damalige Generaldirektorin Margaret Chan hatte ihn unterstützt.
Patentpool würde helfen
Die Corona-Pandemie hätte – optimistisch betrachtet – die passende Gelegenheit sein können, diese Konzepte für offenes Wissen endlich einmal umzusetzen. Noch vor dem eingangs erwähnten großen Fundraising-Event der EU brachte Costa Rica mit Unterstützung der WHO und einer Reihe anderer kleinerer Staaten den Vorschlag eines neuen Covid-19 Technology Access Patent Pools (CTAP) [11] unter dem Dach der WHO ein, in dem das Wissen zum Virus und die Instrumente seiner Bekämpfung gebündelt und für alle in einem freien Lizenzverfahren verfügbar wären. Freiwillige Lizenzen, Studien- und Zulassungsdaten sowie Know-how zur Beschleunigung des Technologietransfers könnten hier gebündelt und für andere Unternehmen mit freien Kapazitäten und den entsprechenden Erfahrungen zur Produktion zugänglich werden. So ließe sich die Knappheit an Impfstoffen schneller überwinden und die schon lange währende Blockade zumindest für die aktuelle Krise überwinden.
Dieser CTAP nahm sich den seit einem Jahrzehnt erfolgreichen „Medicines Patent Pool“ zu Vorbild, der für HIV/AIDS Medikamente nach großem internationalen Kampagnen 2010 ins Leben gerufen worden, und in dem inzwischen auch Lizenzen für Tuberkulose und Hepatitis C Medikamente eingebracht wurden, was einen wesentlichen Anteil an der breiten Verfügbarkeit dieser lebenswichtigen Medikamente hat.
Das Pharmakartell und seine Unterstützer*innen in den wichtigen Regierungen der Welt hat den CTAP-Vorschlag allerdings am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Lediglich 34 kleinere und mittelgroße Länder (aus Europa: Portugal, Belgien, Norwegen, Niederlande, Spanien, Luxemburg) ohne starke Pharmaindustrie haben die Initiative offiziell unterstützt. Die erste und bisher einzige Lizenz für Covid-19-Antigen-Schnelltests vom spanischen nationalen Forschungsinstitut konnte CTAP Ende November 2021 bekannt geben.[12]
Dabei hätte mit der Bereitstellung enormer öffentlicher Mittel für Forschung und Entwicklung gegenüber den Konzernen genau das zur Bedingung gemacht werden können: die Verpflichtung zu einem „sozialverantwortlichen Lizensierungsverfahren“, wie es längst von einigen Universitäten und öffentlichen Forschungsinstituten debattiert und umgesetzt wird.
Aber auch die letzte Bundesregierung hat diese Blockadehaltung der Pharmaindustrie mitgetragen und verlässt sich weiterhin auf rein bilaterale Abkommen, wie sie etwa AstraZeneca mit dem südafrikanischen Unternehmen Aspen zur Abfüllung und Fertigung seines Adenovirus-Impfstoffes geschlossen hat, oder Biontech in Verträgen mit der ruandischen und senegalesischen Regierung angekündigt hat – ohne dass die Firmen bereit wären, ihre Kenntnisse und Technologien tatsächlich mit allen zu teilen, die zu einer Produktion in der Lage wären.
Wie problematisch das Vertrauen auf solche bilateralen Abkommen ist, wird besonders an dem vom Serum Institute India (SII) produzierten Adenovirus-Impfstoff Covishield, einer Lizenzproduktion des AstraZeneca/Oxford-Impfstoffes, deutlich: Das SII ist der weltgrößte Hersteller von Impfstoffen. Der Ausbau seiner Produktionsanlagen für den Corona-Impfstoff wurde zusätzlich von der Gates-Stiftung unterstützt. Diese Kooperation, die den Impfstoffbedarf für die ärmsten Entwicklungsländer decken sollte, geriet aber schon im März 2021 in die Krise, als die Delta- Variante des Coronavirus Indien überrollte und die indische Regierung zur notwendigen Beschleunigung und Sicherung des eigenen Impfprogramms den Export von Impfstoffen vorübergehend verbot. Erst im November 2021 begann das SII mit den bereits vertraglich zugesicherten Lieferungen an die internationale COVAX-Initiative, die Teil des konkreten Solidaritätsversprechen war, auf das sich die Welt im Frühjahr 2020 einigte, um die Pandemie schnellstmöglich eindämmen zu können.
Eine Freigabe der Lizenzen an andere Impfstoffproduzenten weltweit, wie die Oxford Universität sie noch 2020 vorgesehen hatte, bevor sie sich auf die exklusive Vermarktung durch AstraZeneca einließ, hätte diese massive Verzögerung der Impfstofflieferungen durch die COVAX-Initiative vermutlich verhindern oder zumindest reduzieren können. So konnten von den geplanten zwei Milliarden Impfstoffdosen bis zum Jahresbeginn 2022 nur knapp die Hälfte ausgeliefert werden.[13]
Spenden statt Solidarisches Handeln
Das eigentliche Problem mit COVAX und der sie tragenden Access to Covid19 Tools Accelerator (ACT-A) Initiative[14] unter der Federführung der WHO liegt aber noch tiefer: Im ursprünglichen Konzept hätte COVAX eine gemeinsame Anstrengung für reiche und arme Länder sein sollen, um schnellstmöglich für alle einen gerechten Anteil an Impfstoffen zu gewährleisten. Strategische Finanzmittel und eine entsprechende Verhandlungsmacht für niedrigere Preise und Produktionsausweitungen gegenüber den Pharmaunternehmen sollten gebündelt werden. Die WHO entwickelte einen Verteilungsplan, demzufolge allen Ländern prozentual zur jeweiligen Bevölkerungszahl schrittweise die Impfstoffe zur Verfügung gestellt würden, sobald sie produziert und zugelassen sind: zuerst für Gesundheitspersonal und besonders gefährdete Gruppen, danach für den Rest der Bevölkerung.[15]
Tatsächlich wurde COVAX aber zu einer rein karitativen Veranstaltung, bei der sich die reichen Länder mit einer „Solidaritätsfinanzierung“ für die ärmsten 92 „Empfänger-Länder“ freikauften. Diese müssen warten, bis die Pharmaunternehmen die meisten ihrer inzwischen 56 bekannten bilateralen Verträge mit reicheren Ländern (und einigen mit mittleren Einkommen) bedient haben. Auch bei der Registrierung der Impfstoffe bei der WHO, eine Voraussetzung für ihren Einsatz durch die COVAX Fazilität, waren die Unternehmen deutlich langsamer als bei ihren für die Geschwindigkeit gepriesenen „rolling reviews“ bei den US-amerikanischen, britischen und europäischen Zulassungsbehörden. So konnten erst Anfang März 2021 die ersten Lieferungen über den COVAX-Mechanismus verteilt werden. Gerade dann traf der Lieferstopp des Serum Institute India die geplanten Verteilungen besonders hart.
Und um die Sache noch schlimmer zu machen: Die dringend benötigte „Gesundheitssystem“-Komponente, die nur als nachträgliche Ergänzung in die beeindruckende ACT-Accelerator-Architektur eingeführt wurde, erhielt bis jetzt nur minimale Mittel. Dies wird sich als entscheidender Nachteil erweisen, denn ohne starke Gesundheitssysteme rückt das Ziel, Milliarden von Menschen weltweit schnell zu impfen, in immer weitere Ferne – ganz zu schweigen von dem erodierenden Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Systeme.
Auch bei den ab Sommer 2021 angekündigten Spenden von Impfstoffdosen durch die Länder, die sich massiv bevorratet hatten, wird der karitative Charakter von COVAX noch einmal dramatisch sichtbar.
Patente töten!
Angesichts dieser Blockade freiwilliger Kooperationen brachten Indien und Südafrika im Oktober 2020 bei der WTO einen Antrag ein, mit dem das erwähnte TRIPS-Abkommen für die laufende Pandemie und beschränkt auf Medizinprodukte für Covid-19 (technische Geräte, Medikamente, Diagnostika, Schutzausrüstungen und Impfstoffe) ausgesetzt werden sollte. Damit könnten diese Ressourcen von anderen Herstellern schneller und billiger kopiert werden und Engpässe, die es global gesehen nicht nur bei den Vaccinen gibt, verringert werden. Dabei geht es nicht nur um die Patente, sondern auch um geschütztes Wissen wie Zulassungsdaten, die für eine rasche Produktion von Nachahmer-Produkten (Generika) wichtig sind.
Auch diese Initiative hat einen historischen Vorläufer in der AIDS-Krise zu Beginn der 2000er Jahre, als die enorm hohen Kosten der Originalmedikamente zur Behandlung AIDS-Kranker (über 10.000 Dollar Jahreskosten für die gängigen Dreifach-Therapien) diese überlebenswichtige Option außer Reichweite der meisten Gesundheitssysteme und Patient*innen in ärmeren Ländern stellte. Auch damals mussten die im TRIPS-Abkommen für den Fall einer öffentlichen Gesundheitskrise formal vorgesehenen Ausnahmeregeln erst in hartnäckigen Verhandlungen bei der WTO im sogenannten Doha-Abkommen bestätigt werden. Dabei ging es vor allem um die Zwangslizenzen, die Länder für eigene Generika-Produzenten vergeben können falls sich die Patenthalter weigern, mit freiwilligen Lizenzen die lokale Produktion zu ermöglichen. Das Doha- Abkommen erlaubte explizit auch den Export dieser Produkte, was für die Versorgung von Ländern ohne eigene Pharmaproduktion, vor allem die meisten afrikanischen Staaten, entscheidend war.
Erst nachdem der Widerstand der mächtigen Pharmalobby aus dem globalen Norden überwunden war, konnten massive Preisreduktionen durch die Generika-Produktion vor allem in Indien ermöglicht werden. (Aktuell sind die günstigsten Kombinationen für unter 100 Dollar Jahreskosten verfügbar.)
Auch der TRIPS-Waiver, die zeitweise Aussetzung der TRIPS-Regeln, ist ein formal im Abkommen vorgesehenes Instrument des flexiblen Umgangs mit geistigen Eigentumsrechten. Aber in den Verhandlungen um den konkreten Text des Antrags von Südafrika und Indien, der inzwischen von mehr als 100 Ländern (vornehmlich aus dem Globalen Süden) unterstützt wird, stellen sich vor allem eine handvoll Länder quer: die Europäische Kommission als Vertreterin der EU Staaten, darunter vor allem auch Deutschland, die Schweiz und Großbritannien sowie die meisten OECD Staaten. Die USA hat zwar überraschend ihre Bereitschaft signalisiert, zumindest für Impfstoffe eine solche Flexibilisierung zu befürworten, macht aber in den Verhandlungen keinerlei Druck auf die verbleibenden Blockierer. Unterstützt werden die Blockierer von der machtvollen Pharmalobby, die die Kontrolle über die Produktion nicht aus ihren Händen geben will.
Seit dem Herbst 2020 protestieren breite zivilgesellschaftliche Kampagnen gegen diese Blockade. In Deutschland gründete sich im Frühjahr 2021 das „makethemsign“-Bündnis[16], das auf die Bundesregierung mit Social Media-Aktivitäten und „offline“ Demonstrationen Druck ausübt. International gab und gibt es Proteste in vielen Ländern und von der globalen „People’s Vaccine Campaign“ [17], deren Aufrufe auch von vielen Wissenschaftler*innen und Prominenten unterstützt werden.
Trotzdem sind auch nach über einem Jahr keine echten Fortschritte zu sehen – die erhoffte entscheidende Sitzung des Ministerialrats der WTO Ende November in Genf fiel bezeichnenderweise den wieder ansteigenden Infektionszahlen mit der Omikron- Variante des Coronavirus zum Opfer und wurde auf Juni 2022 verschoben, während die laufenden Verhandlungen im WTO TRIPS Council zäh bleiben, Kompromisse möglicherweise allein für Impfstoffe und nicht für Diagnostika und Therapeutika in Sicht sind sowie die wichtigen Pharmaproduktionsländer Indien und China ausgeschlossen bleiben.[18]
Die Konzerne und die reichen Staaten behaupten weiterhin, dass das Patentsystem die Versorgung mit Covid-19-Impfstoffen sichere – und nicht begrenze. Tatsächlich ist die Aufhebung oder Aussetzung des Patentschutzes die einzige Möglichkeit, die Pandemie und weitere zu befürchtende Pandemien in den Griff zu bekommen.
Der Druck auf die Blockierer bei der WTO muss ebenso weitergehen wie der Druck auf die Unternehmen, die mit hohen öffentlichen Mitteln entwickelten Instrumente zur Eindämmung von Covid-19 für alle verfügbar zu machen. Die Erfahrung mit Covid-19 unterstreicht die Dringlichkeit, essenzielles Gesundheitswissen den privaten Monopolen zu entziehen. Dies trifft nicht nur auf die Impfstoffe zu. Es gilt auch für Gesundheitsdienste in privatisierten Krankenhäusern und für Finanzierungssysteme, die auf Wettbewerb statt guter Planung aufgebaut sind. Das Schlagwort von der „Rekommunalisierung“ der Gesundheit macht nicht nur in Deutschland die Runde.
Dr. Andreas Wulf studierte Humanmedizin an der Freien Universität Berlin. 1996 war er Mitgründer des Berliner Büros für medizinische Flüchtlingshilfe (heute Medibüro – Netzwerk für das Recht auf Gesundheitsversorgung für alle Migrant*innen). Seit 1998 arbeitet er bei medico international als Referent für globale Gesundheit und seit 2019 zusätzlich als medicos Berlin Repräsentant. Er ist auch aktiv im Vorstand des Vereins demokratischer Ärzt*innen. Aktuell schreibt und veröffentlicht er zu den Themen globaler Gesundheitsgerechtigkeit und Gesundheitsfinanzierung, der Weltgesundheitsorganisation und dem Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln. Seine Beiträge zu Covid19 sind auf der Webseite von medico international https://www.medico.de/blog/andreas-wulf zu finden. Ein aktueller Beitrag von ihm zur Diskussion der globalen Gesundheitssicherheit erscheint in Peripherie Nr. 164.
Anmerkungen
- ↑Moderna: https://www.axios.com/moderna-barda-coronavirus-funding-disclosure-2775a517-a775-485a-a509-b6906c8535a9.html; Johnson & Johnson: https://www.biospace.com/article/j-and-j-vaccine-secures-additional-1-billion-in-funding-for-covid-19-vaccine/ ; Pfizer: https://www.internationalhealthpolicies.org/featured-article/why-does-pfizer-deny-the-public-investment-in-its-covid-19-vaccine/; Biontech: Pressemitteilung v. 15.9.2020 https://investors.biontech.de/de/news-releases/news-release-details/biontech-erhaelt-bmbf-foerderung-von-bis-zu-375-millionen-euro.
- ↑EU Press Corner: Von der Leyen announces Global Response and calls for united world front against coronavirus, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ac_20_749 .
- ↑Ivan Couronne: Pre-orders of COVID-19 vaccine top five billion, https://news.yahoo.com/pre-orders-covid-19-vaccine-171636222.html .
- ↑Lisa Springer: 10 Health and Pharmaceutical Companies fighting the Covid 19 Coronavirus, 18.05.2020, https://www.kiplinger.com/slideshow/investing/t052-s001-10-health-pharmaceutical-companies-coronavirus/index.html .
- ↑Oxfam: Pfizer, Biontech and Moderna making 1000 Dollar Profit every second while world’s poorest countries remain largely unvaccinated, Pressemeldung v. 16.11.2021 https://www.oxfam.org/ en/press-releases/pfizer-biontech-and-moderna-making-1000-profit-every-second-while-worlds-poorest .
- ↑Jake Johnson: Big Pharma’s „obscene“ Profits, in: Strategic Culture Foundation v. 19.11.2021 https://www.strategic-culture.org/news/2021/11/19/covid-19-big-pharmas-obscene-profits/ .
- ↑Alexander Zaitchik: Long, Strange TRIPS: The Grubby History of How Vaccines Became Intellectual Property, in: The New Republican v. 1.6.2020, https://newrepublic.com/article/162527/long-strange -trips-grubby-history-vaccines-became-intellectual-property .
- ↑HTA Austria: Finanzielle Spekulationen behindern Versorgung mit Arzneimitteln. Strategien der Industrie am Beispiel Gilead und Sofosbuvir, Newsletter Nr. 151 v. Oktober 2016, https://aihta.at/ page/finanzielle-spekulationen-behindern-versorgung-mit-arzneimitteln/de .
- ↑Marryn Mc Kennar: The antibiotics paradox: why companies can’t afford to create live saving drugs, in: Nature v. 19.8.2020, https://www.nature.com/articles/d41586-020-02418-x .
- ↑Sueri Moon, Jorge Bermundez, Ellen ´t Hoen: Innovation and Access to Medicines for Neglected Populations: Could a Treaty Address a Broken Pharmaceutical R&D System?, https://journals.plos. org/plosmedicine/article?id=10.1371/journal.pmed.1001218
- ↑The Covid19 Technology Access Pool, https://www.who.int/initiatives/covid-19-technology-access-pool.
xiiWHO News v. 23.11.2021, https://www.who.int/news/item/23-11-2021-who-and-mpp-announce-the-first-transparent-global-non-exclusive-licence-for-a-covid-19-technology . - ↑WHO News v. 23.11.2021, https://www.who.int/news/item/23-11-2021-who-and-mpp-announce-the-first-transparent-global-non-exclusive-licence-for-a-covid-19-technology
- ↑COVAX Vaccine Rollout, https://www.gavi.org/covax-vaccine-roll-out.
- ↑The Access to Covid19 Tools Accelerator, https://www.who.int/initiatives/act-accelerator.
- ↑WHO: Fair allocation mechanism for COVID-19 vaccines through the COVAX Facility, 9.9.2020, https://www.who.int/publications/m/item/fair-allocation-mechanism-for-covid-19-vaccines-through-the-covax-facility.
- ↑Makte them Sign! Jetzt Patentfreigabe durchsetzen, http://www.makethemsign.eu.
- ↑The People’s Vaccine: https://peoplesvaccine.org/.
- ↑Priti Patnaik: Efforts to limit the implementation of the TRIPS Waiver, proposals to exclude India & China, in: Geneva Health Files 04.02.2022, https://genevahealthfiles.com/2022/02/04/exclusive-efforts-to-limit-the-implementation-of-the-trips-waiver-proposals-to-exclude-india-china/ .