Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 241: Demokratie und Rechtsstaat verteidigen

Editorial

„Demokratie und Rechtsstaat verteidigen“ war der Titel des Symposiums zu Ehren von Martin Kutscha, das die Humanistische Union am 12. Mai 2023 gemeinsam mit der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ), mit der Deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und dem Forschungsinstitut für öffentliche und private Sicherheit (FÖPS) an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR) veranstaltete.

Das Symposium und sein Titel waren gleichermaßen Ehrung für den am 5. September 2022 verstorbenen Verfassungsrechtler Martin Kutscha, war doch die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat zentrales Anliegen seiner wissenschaftlichen Arbeit als Jurist wie auch seines politischen Wirkens. Bereits der Titel seiner Dissertation Verfassung und ‚streitbare Demokratie‘ von 1979 verwies auf die Programmatik seiner folgenden wissenschaftlichen Arbeit. Der Erstellungszeitraum der Dissertation fiel in die Ära der demokratiefeindlichen Berufsverbote in Westdeutschland. So lautete dann auch der Untertitel der Arbeit Historische und rechtliche Aspekte der Berufsverbote im öffentlichen Dienst, mit der er sich als Wissenschaftler couragiert zugleich politisch verortete.

Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen im Jahr 2022 – mehr als vierzig Jahre nach der Veröffentlichung seiner Dissertation – plante Marin Kutscha in seiner Funktion als Mitglied des Bundesvorstandes der Humanistischen Union erneut eine Veranstaltung zu dem Risiko einer Neuauflage der Berufsverbote, die sich nun vermeintlich vornehmlich gegen die Rechtsentwicklung und die faschistischen Kräfte innerhalb der AfD richten sollten. Martin Kutscha befürchtete zu Recht, dass sich eine solche Entwicklung schnell auch gegen kritische demokratische Kräfte richten werde.

Diese tief verwurzelte kritische Haltung gegen jede Gefährdung der Demokratie und des Rechtsstaates spiegelt sich in dem gemeinsam mit Norman Paech 1981 herausgegebenem Buch Im Staat der ‚inneren Sicherheit‘. Hier befasst er sich mit Polizei, Verfassungsschutz und Geheimdiensten. Deren Wirken und Wirkungen reflektierend verteidigt er den Rechtsstaat.

Immer wieder war der Verfassungsschutz und seine Verfasstheit Gegenstand des Verfassungsrechtlers. Gemeinsam mit Cornelia Kerth veröffentlichte er zwei Jahre vor seinem Tod Was heißt hier eigentlich Verfassungsschutz? Ein Geheimdienst und seine Praxis. Eindringlich warnte Martin Kutscha vor den Risiken eines Geheimdienstes, der die Verfassung zu schützen vorgibt, um demokratische Rechte zu unterminieren.

Das Themenspektrum des Geehrten war umfangreich. Bereits 1981 erhob er seine warnende Stimme gegen „Datenkontrolle im Betrieb“.

In seinem gemeinsam mit Karl-Jürgen Bieback 1984 veröffentlichtem Handbuch für Beamt*innen führt der Jurist dezidiert in die Rechte der beamteten Angehörigen des Öffentlichen Dienstes ein und schuf bedeutsame Voraussetzungen für demokratische Widerstandsformen. Er ermutigte zu couragiertem Handeln.

Sein Ansinnen, Demokratie und Rechtsstaat zu verteidigen, erweiterte das Spektrum seines verfassungsrechtlichen Engagements stetig. 2013 befasste Martin Kutscha sich intensiv mit dem Grundrechtsschutz im Internet und veröffentlichte dazu gemeinsam mit Sarah Thomé. In den 1980er Jahren engagierte er sich parteinehmend gegen die „Totalerfassung“ der Bürger*innen angesichts der Volkszählung. Seine dazu gemeinsam mit Paech herausgegebene Veröffentlichung war für die damalige kritische Diskussion richtungsweisend. Gleiches galt für sein Eintreten für das Demonstrationsrecht. Sein dazu 1986 erschienenes Buch Demonstrationsfreiheit. Kampf um ein Bürgerrecht war für viele bürgerrechtlich Engagierte eine wichtige Argumentationshilfe.

Eine Fülle von Veröffentlichungen in Zeitschriften ergänzt die hier dargestellte kleine Auswahl eines umfangreichen wissenschaftlichen Schaffens. Martin Kutscha publizierte zu Fragen des Polizeirechts und damit zusammenhängend der Gefahr des Abbaus demokratischer Rechte, zur Gefahr des Abbaus des Sozialstaats und vor allem zum Zusammenhang zwischen Sozialabbau und der Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaat, und er verstand es, diese Zusammenhänge darzulegen.

Martin Kutscha war ein Meister darin, sein profundes Wissen in die politische Diskussion und die Arbeit der Organisationen einzubringen, denen er zur Seite stand. Das in dieser Ausgabe der vorgänge dargelegte Symposium wurde von den Organisationen, in denen er wirkte und denen er mit Rat und Tat zur Seite stand, realisiert. Das Spektrum der Themen spiegelt die Vielfalt der Themenzusammenhänge, in denen der Verfassungsrechtler sich bewegte und die er mit seiner Expertise auszufüllen vermochte, wider.

Der vorliegende Heftschwerpunkt zu Ehren Martin Kutschas ist dazu zweigeteilt: Zum einen versammelt es die Vorträge des Symposiums; zum anderen haben wir hier weitere Beiträge von Freunden und Kollegen von Martin Kutscha versammelt, die sich hier dem Thema „Demokratie und Rechtsstaat verteidigen“ widmen und dabei stets das Œuvre von Kutscha mit verhandeln.

Auf dem Symposium zum Werk von Martin Kutscha hielt Marianne Egger de Campo die Laudatio. In ihrem Artikel fordert sie, das Beamtentum durch Beamtenmut zu ergänzen. Ausgehend von ihren persönlichen Erlebnissen mit Martin Kutscha in der HWR entwickelt sie den Gedanken, dass Beamt*innen nicht einfach nur folgsam sein sollten, sondern verfassungstreu und damit auch mutig Grundrechte gegen Widerstände verteidigen.

Ausgehend von der Frage, ob rechte Personen noch Positionen im öffentlichen Dienst einnehmen sollten, beschäftigt sich John Philipp Thurn in seinem Vortrag und seinem Artikel mit der historischen Aufarbeitung von Berufsverboten, ausgehend vom Radikalenerlass. Dabei vertritt er die These, dass Berufsverbote – auch wenn sie Nationalist*innen oder dergleichen treffen – nicht verfassungskonform sind. „Entlassungen oder Ablehnungen wegen einer Parteimitgliedschaft bleiben Mittel eines „vorverlagerten Staatsschutzes, die nicht zu einer liberalen Demokratie passen“, schreibt er und erinnert dabei an die bürgerrechtlichen Werte von Martin Kutscha.

Ein weiterer rechtshistorischer Beitrag wird von Andreas Engelmann geliefert: zum Friedensgebot im Grundgesetz und seiner sukzessiven Aufweichung. Engelmann rekonstruiert dazu verschiedene Schichten der Verfassungsgeschichte, die sich nach und nach von der völligen Ablehnung eines Militärs oder dem Beitritt zu Militärbündnissen wegbewegt haben: über die Wiedereinführung eines Militärs, die Notstandsgesetze, die das Eingreifen des Militärs im Inland erlauben, bis hin zu neuen Auslandseinsätzen und dem jüngsten Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr. Engelmann leitet daraus eine Spannung zwischen der Friedenswahrung und der Militarisierung der BRD sowie der NATO-Mitgliedschaft ab.

Diese Symposiumsbeiträge ergänzen wir um weitere Beiträge zum Kutschas Motto „Demokratie und Rechtsstaat verteidigen“. Ralf Hohmann beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit den sogenannten Huckepackgesetzen im Deutschen Bundestag, also Gesetzesentwürfen, die – einem blinden Passagier gleich – an andere Gesetzesentwürfe angehängt werden, um so eine positive Abstimmung für fragwürdige Entwürfe zu ermöglichen. Hohmann kritisiert dieses Verfahren und bemängelt vor allem die Intransparenz des Verfahrens.

Nicht vergessen werden darf auch, dass Martin Kutscha nicht nur ein vehementer Kritiker des Verfassungsschutzes war, sondern auch polizeiliche Befugnisse – insbesondere gegenüber politischen Versammlungen – problematisierte. Diese Kritik teilt er mit Benjamin Derin, der in seinem Beitrag die Ausweitung polizeilicher Befugnisse und die damit zusammenhängende Rolle, die Polizist*innen als vermeintlich objektive Expert*innen im öffentlichen Diskurs einnehmen, kritisiert.

Gerade das Verhältnis von demokratischer Partizipation und dem Schutz von Menschenrechten beleuchtet Olaf Winkel in seinem Artikel zur digitalen Demokratie. Dazu geht er auf die konventionellen Positionen der Technikoptimist*innen, Technikpessimist*innen und Technikneutralist*innen ein und analysiert sie im Hinblick auf ihre Aktualität. Dabei inkludiert er nicht nur technische und demokratietheoretische Überlegungen, sondern auch die Frage von Datenschutz und Überwachung. Dem Thema Datenschutz widmet sich auch Hartmut Aden in seinem Kommentar zu Kutschas Arbeit zu dem Thema.

Auch Martin Kutschas Betrachtungen zu sozialen Menschenrechten kommen nicht zu kurz: Welche sozial- und wirtschaftspolitischen Erwartungen etwa mit der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens verbunden sind und welche Folgen dies für Deutschland hätte, beleuchtet Christoph Butterwegge in seinem Beitrag und kommt zum Schluss, dass dadurch in Deutschland die soziale Ungleichheit nur zementiert werden würde.

Dieser Themenbereich wird abgerundet durch einen Artikel von Martin Kutscha selbst. Sein Text „Warum soziale Menschenrechte“ ist bereits im Heft Nummer 219 der vorgänge erschienen und wird hier abermals abgedruckt, um noch einmal die Person zu Wort kommen zu lassen, der dieses Heft gewidmet ist.

Daneben bietet die vorliegende vorgänge-Ausgabe wie immer auch Beiträge, die sich mit aktuellen Themen befassen: Etwa analysiert Clemens Arzt die Protestformen der „Letzten Generation“ im Hinblick auf deren Versammlungsrecht, das kontrastiert wird mit den Kriminalitätsvorwürfen gegenüber den Aktivist*innen. Zudem kritisiert Wolfram Grams wie Privatschulen ihre Schüler*innen absondern und damit einem gleichen und inklusiven Menschenrecht auf Bildung im Wege stehen. Zudem beschäftigt sich Ralf Lankau mit dem Gebrauch von KI-Technologien im schulischen Kontext und kritisiert, wie dies eine Erziehung zur Mündigkeit untergräbt. Um die Chancen und Risiken von Künstlicher Intelligenz wird sich auch der Schwerpunkt der folgenden Ausgabe der vorgänge beschäftigen. Wir wünschen Ihnen – im Namen der gesamten Redaktion – eine anregende Lektüre des aktuellen Heftes.

Wolfram Grams und Philip Dingeldey

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