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Rezensionen - Nichts ohne behinderte Menschen

Raúl Aguayo-Krauthausen, Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden, Rowohlt-Verlag 2023, 240 S., € 17,00.

 

Als im April 2021 eine Pflegehelferin im Potsdamer Oberlinhaus vier Menschen mit Behinderungen ermordete und einen weiteren schwer verletzte, hätte öffentlich über das gesellschaftlich wirksame Bild von Menschen mit Behinderungen diskutiert werden können, das ganz häufig noch immer ausschließlich mit Leid konnotiert ist. In dieser Situation hätte deutlich gemacht werden können, dass die Opfer dieser Bluttat – wie alle anderen Menschen – ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben hätten führen können und wollen. Doch anstatt bei der Trauerfeier Bilder der Ermordeten aufzustellen, fanden sich in der Potsdamer Nikolaikirche vier weiß lackierte Rollstühle. Auf diese Weise wurden diese Menschen noch im Tod auf ihre Behinderung reduziert. Ihre Fähigkeiten, ihre Bedürfnisse und Wünsche als Individuen gerieten so zu keinem Zeitpunkt in den Blick. Dies ist nur ein (sehr drastisches) Beispiel für die Ausgrenzungen und Geringschätzungen, die Menschen mit Behinderungen alltäglich erleben. Ausgrenzungen und Geringschätzungen sichtbar zu machen und nach Wegen zu ihrer Beseitigung zu suchen, ist das Anliegen des neuen Buches des Aktivisten Raúl Krauthausen.

Im ersten Teil des Buches beschäftigt sich Krauthausen mit der Realität des Lebens mit Behinderung und lenkt den Blick auf die strukturelle Gewalt unter dem Deckmantel der Fürsorge, die Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen und Maßnahmen Möglichkeiten der Erfahrung und der Selbstbestimmung nimmt. Er stellt die unsichtbare Norm der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft dar und stellt klar, dass für ihn Inklusion nur als solche bezeichnet werden kann, wenn „[…] jeder Mensch in seiner Individualität als Teil der Gesellschaft akzeptiert wird und gleichberechtigt sowie selbstbestimmt die Möglichkeit hat, vollumfänglich an ihr teilzuhaben“ (S. 15). Daraufhin geht er den ungelösten Fragen der Inklusion nach. Zu diesem Zweck führt Krauthausen Interviews mit Aktivist*innen, Aktiven im Kampf gegen Ausgrenzungen und Barrieren. Themen der Gespräche sind die Barrieren im öffentlichen Raum, die Situation von Menschen mit Behinderungen in Schulen und auf dem Arbeitsmarkt, aber auch die Möglichkeiten ihrer Selbstvertretung. Darüber hinaus diskutiert Krauthausen auch, wie Menschen mit Behinderungen eine selbstbestimmte Sexualität erleben können und wie sie in den Medien und in der Kunst angemessen repräsentiert werden können. Ein wichtiges Thema seiner Interviews ist zudem die Notwendigkeit zur Intersektionalität, sprich unterschiedliche Diskriminierungen zusammen zudenken, um sie zu beseitigen. Im letzten Teil des Buches schließlich bemüht sich Krauthausen darum, Schlussfolgerungen aus den von ihm geführten Gesprächen für eine gelingende inklusive Gesellschaft zu formulieren.

Eine Stärke des Buches liegt darin, dass der Autor an vielen Stellen über seine eigenen Erfahrungen als Mensch mit Behinderung reflektiert und diese auch selbstkritisch wendet. So kann er deutlich machen, dass Sichtweisen der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft auch bei Menschen mit Behinderungen wirksam werden und deren Handlungsweisen mitbestimmen. In diesem Sinne berichtet er beispielsweise, dass er über lange Zeit seine Behinderung habe relativieren wollen. Er habe keine Belastung sein und sich an den gefühlten Leistungserwartungen Nichtbehinderter messen wollen. „Aber damit habe ich gleichzeitig andere behinderte Menschen – obwohl ich das in keiner Weise beabsichtigte – abgewertet, um meine Selbstwahrnehmung aufzuwerten“ (S. 182). Zugleich lässt Krauthausen aber auch keinen Zweifel daran, dass es sehr handfeste Barrieren gibt, die die Teilhabe von Menschen am gesellschaftlichen Leben verhindern. Sehr zu Recht stellt er deshalb fest, dass es nicht ausreicht, die sogenannten Barrieren in den Köpfen abzubauen „[…] – wenn wir die real existierenden Barrieren ignorieren, wird die Inklusion nur ein schönes Wort bleiben“ (S. 46).

Krauthausen legt Wert darauf, mit Menschen in den Austausch zu treten. Dieses Herangehen ermöglicht es ihm, viele Perspektiven auf sein Thema sichtbar zu machen. Wenn die Juristin Theresia Degener im Gespräch mit ihm festhält, dass Maßnahmen nicht darauf gerichtet sein dürfen, die Situation in diskriminierenden Einrichtungen zu verbessern, da die Einrichtungen auf diese Weise verstetigt würden, legt sie den Finger in eine offene Wunde der sogenannten Behindertenhilfe. Der ehemalige Bremer Staatsrat Horst Frehe wünscht sich eine starke selbstbestimmte Behindertenbewegung und orientiert in diesem Sinne auf eine selbstbewusste Selbstvertretung der Betroffenen. Krauthausen fasst die Aussagen seiner Gesprächspartner*innen stets affirmativ zusammen und belegt so eindrucksvoll die Aussage des Buchtitels: Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.

In seiner Gesamtheit liefert dieses Buch eine gut lesbare Streitschrift für die Durchsetzung der umfänglichen gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen. Ob indes alle Vorschläge des Autors zielführend sind, sollte weiter diskutiert werden. Wenn Krauthausen konstatiert: „Kosten für […] Sexualassistenzen und Ähnliches sind kein Fall für die Krankenkasse, sondern für die Sozialämter“ (S. 155), dann mag man fragen, ob diese entfremdeten Formen von Sexualität und Sexarbeit wirklich die besten Mittel zum Erreichen einer selbstbestimmten Sexualität (und wenn ja, von wem) sind. Missverständlich können zudem Krauthausens Überlegungen zum Zusammenhang von Teilhabe und der von ihm so bezeichneten Teilgabe sein. Liest man sie so, dass Teilhabe es tatsächlich immer erfordert, dass Menschen mit Behinderung der Gesellschaft etwas zurückgeben. Davon ausgehend, dass Krauthausen diese Auffassung nicht vertritt, hätte er an dieser Stelle doch deutlicher machen sollen, dass jeder Mensch – unabhängig von seinen Fähigkeiten – ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben und die volle Teilhabe hat. Davon unbenommen ist freilich, dass viele Menschen mit Behinderungen Leistungen erbringen können und wollen. Dieses Vermögen aber darf niemals zum Gradmesser für die Zuerkennung von Teilhabemöglichkeiten sein.

Vollständig zustimmen mag man dem Autor, wenn er festhält, dass Inklusion immer auch eine Neustrukturierung von bestehenden Machtverhältnissen bedeutet. Zweifelhaft bleibt jedoch, ob es dafür reicht, dass „[…] privilegierte Gesellschaftsgruppen […] ihre eigene Position kritisch reflektieren und Mitbestimmung marginalisierter Gruppen ermöglichen.“ (S. 215) Damit es wirklich keinen Lebensbereich ohne Menschen mit Behinderungen mehr gibt, in dem sie auch gesehen und gehört werden, wird es noch heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen geben müssen. Trotz – oder gerade wegen der genannten Unschärfe in der Argumentation – regt Raúl Krauthausen mit diesem Buch zu den notwendigen Diskussionen zur Organisation dieser Kämpfe innerhalb der Behindertenbewegung an. Aus diesem Grunde soll das Buch allen Menschen zur kritischen Lektüre empfohlen sein, die das Ziel der vollen gesellschaftlichen Teilhabe aller Menschen teilen.

Florian Grams

 

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