Beitragsbild Klimaproteste und die Letzte Generation: Versammlungsfreiheit geht vor
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Klima­pro­teste und die Letzte Generation: Versamm­lungs­frei­heit geht vor

Seit Monaten regieren Polizei und Justiz mit wachsender Repression gegen die „Letzte Generation“, bis hin zum Vorwurf, bei der Gruppe handle es sich um eine kriminelle Vereinigung. Sind die Aktionen der „Letzten Generation“ – als Form des zivilen Ungehorsams illegal, da das Festkleben auf der Straße als Nötigung im Straßenverkehr verstanden werden kann? Clemens Arzt analysiert die politische Polemik und die strafrechtliche Frage. Dabei plädiert er für einen Vorrang der Versammlungsfreiheit.

 

Die Proteste der Aktivist*innen der „Letzten Generation“ wühlen die politischen Institutionen seit Monaten auf. Justiz und Polizei begegnen ihnen mit zunehmender Repression, bis hin zum strafrechtlichen Vorwurf, die „Letzte Generation“ sei eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 Strafgesetzbuch. Viele der Mitglieder stehen immer wieder vor Gericht im Zusammenhang mit ihren Aktionen, insbesondere wegen des Vorwurfs der Nötigung und auch des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamt*innen.

Der Freistaat Bayern nimmt viele der Beteiligten für Tage oder Wochen in Präventivgewahrsam, dessen Dauer von bis zu zwei Monaten der Bayerische Verfassungsgerichtshof in einer so genannten Popularklage am 14. Juni 2023 (Aktenzeichen Vf. 15-VII-18) als zulässig erachtete. Diese betraf indes nicht die gegen Klimaaktivisten genutzten Regelung im Bayerischen Polizeiaufgabengesetz, was in der Presse hierzu zumeist nicht beachtet wurde. Der ebenfalls in Bayern strafrechtlich vorgebrachte Vorwurf, eine kriminelle Vereinigung zu sein, eröffnete der Staatsanwaltschaft einen breiten Instrumentenkasten von Maßnahmen gegen Mitglieder der „Letzten Generation“. Dieser reicht von Hausdurchsuchungen und technischen Überwachungsmaßnahmen bis hin zur Sperrung der Website und von Konten. Hinzu kamen Telekommunikationsüberwachungen, die offenkundig auch viele Telefonate mit Journalisten betrafen. Ob die Landtagswahl in Bayern im Herbst 2023 hier nur eine zufällige Koinzidenz ist, kann mit gutem Grund bezweifelt werden.

I. Klimaschutz als Verfas­sungs­ziel

Im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur verfassungsrechtlich verankerten Pflicht zum Klimaschutz vom 24. März 2021 (Aktenzeichen 1 BvR 2656/18 u.a.) heißt es in den Leitsätzen prägnant zusammengefasst, der

„Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen.“

Subjektivrechtlich schützen damit die Grundrechte aus Sicht des BVerfG als intertemporale Freiheitssicherung vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Pflichten zur Minderung der Treibhausgase in die Zukunft. Der objektivrechtliche Schutzauftrag des Art. 20a GG schließe die Notwendigkeit ein, mit den natürlichen Lebensgrundlagen so sorgsam umzugehen und sie der Nachwelt in einem Zustand zu hinterlassen, dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten.

Viel zu wenig geht es dabei in der Diskussion und den Maßnahmen zum Klimawandel auch um einen Verzicht auf klimaschädliche Lebensweisen anstelle der Heilsversprechen einer allseits elektrisch oder – technologieoffen – mit Wasserstoff oder anderen Wundermitteln betriebenen Wirtschaft und Lebensweise im Sinne eines „Weiter Wie Bisher“, nur „grüner“. Statt eines inhaltlichen Streits über mögliche Lösungen und Veränderungen, steht indes die Legitimität von Formen des Protests gegen mangelnde Maßnahmen zur Eindämmung der Ursachen des Klimawandels seit Monaten nicht selten im Mittelpunkt des politischen, gesellschaftlichen und auch rechtlichen Diskurses anstelle der gesellschaftlichen Antworten auf den Klimawandel. Dies wird insbesondere angetrieben von der Empörung von Autofahrer*innen, die sonst jeden Stau erdulden und immer wieder auch Rettungswege blockieren, bei kurzfristigen Blockaden durch die „Letzte Generation“ aber die Nerven verlieren. Eine kurze rechtliche Verortung des Protestes ist hier sinnvoll und notwendig zur Verortung der Proteste.

II. Versamm­lungs­frei­heit und Verfas­sungs­recht

Nach der noch immer für die Auslegung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit maßgeblichen so genannten Brokdorf-Entscheidung des BVerfG 1985 (Aktenzeichen 1 BvR 233, 341/81) bieten Versammlungen

„[…] die Möglichkeit zur öffentlichen Einflußnahme auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest; sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren (…). Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Mißstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen.“

Nicht unerwähnt mit Blick auf diese Entscheidung sollte indes bleiben, dass im Zuge der Corona-Pandemie der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Heribert Reul (CDU), sehr deutlich zur Einhegung der liberalen und grundrechtssichernden Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit aufgerufen hat, was dann beispielsweise im Zuge der Pandemieregelungen zu teilweise abstrusen Ein- und Angriffen der Behörden bei Kleinstdemonstrationen führte oder etwa einer Diskussion, ob nicht das Maskentragen in Versammlungen während der Corona-Pandemie als Vermummung im Sinne des Versammlungsrecht verboten sei und mehr. Das Versammlungsgesetz NRW vom Dezember 2021 ist, wie schon das Bayerische Versammlungsgesetz vom Oktober 2008, ein Baustein in diesem Angriff auf ein liberales Versammlungsrecht als wesentlichem Element einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Wurde Bayern durch eine Eilentscheidung des BVerfG 2009 (Aktenzeichen 1 BvR 2492/08) in wesentlichen Fragen in die Schranken verwiesen, steht die verfassungsrechtliche Beurteilung der Anfang 2023 eingereichten Klage gegen das Versammlungsgesetz NRW noch aus. Dieses Gesetz kam beispielsweise gegen die Proteste gegen den Braunkohleabbau in Lützerath zur Anwendung und verbietet Versammlungen auf Autobahnen ausnahmslos.

Die versammlungsbehördlichen und polizeilichen Übertreibungen im Rahmen der Corona-Pandemie blieben – wie befürchtet – nicht an dieses Ereignis gebunden, sondern finden ihre Fortsetzungen bis heute im alltäglichen Versammlungsgeschehen, so etwa aus Gründen der deutschen Staatsräson bei „antiisraelischen Demonstrationen“ bei präventiven Flächenverboten durch Allgemeinverfügung rund um das politische Berlin und mehr.

Die gezielte Anwendung so genannter Schmerzgriffe gegen Aktivist*innen der „Letzten Generation“ ebenso wie die Masseneinkesselung von rund 1000 Demonstrierenden Anfang Juni im sächsischen Connewitz reihen sich ein in ein von vielen wahrgenommenes zunehmend freiheitsbeschränkendes Agieren von Versammlungsbehörden und Polizei gegen Versammlungen bei unterschiedlichsten Anlässen.

Doch zurück zur Brokdorf-Entscheidung: Zum Selbstbestimmungsrecht der Versammlungsteilnehmer*innen über Inhalt und Ausgestaltung einer Versammlung stellt das Gericht fest:

„Als Abwehrrecht, das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugutekommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung […]. Schon in diesem Sinne gebührt dem Grundrecht in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang; das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers.“

Mit Blick auf den Versammlungsort ist dabei zu beachten, dass bestimmte Straßenklassen – wie Bundesautobahnen – nicht grundsätzlich als Versammlungsorte von der Gewährleistung des Art. 8 GG ausgenommen sind, auch wenn das Versammlungsgesetz NRW hier sogar ein gesetzliches Verbot eingeführt hat. Es ist mit Blick auf die aktuelle Rechtsprechung kaum zu erwarten, dass das BVerfG dies als zulässig einordnen wird.

Wer also gegen den weiter ungehemmten Ausstoß von CO2 durch den Autoverkehr demonstriert, ist gerade auf der Straße – und sei es eine Autobahn – am richtigen Ort. Ein solcher Protest darf sich damit auch gegen die klimaschädliche Politik des Bundesverkehrsministeriums wenden. Grenzen der Versammlungsfreiheit ergeben sich aus dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Friedlichkeitsgebot, dem daraus folgenden Waffenverbot und den Strafgesetzen. Im Einzelfall geht es auch um die Abwägung zwischen der Versammlungsfreiheit und den Grundrechten Dritter im Rahmen der „praktischen Konkordanz“ von im Einzelfall konkurrierenden Grundrechten, soweit diese mindestens das gleiche „Gewicht“ wie die Versammlungsfreiheit haben. Bei kurzzeitigen Einschränkungen der Mobilität durch das Festkleben Demonstrierender auf auch sonst von Staus geprägten Straßen ist dies gerade nicht der Fall (vgl. LG Berlin – Aktenzeichen 502 Qs 138/22).

Der Protest der „Letzten Generation“ ist zudem friedlich im Sinne des Art. 8 I GG, selbst wenn die gewählte Form der Sitzblockade mit Blick auf die Begründung eines „vergeistigten“ Gewaltbegriffs durch den BGH, ausgehend vom so genannten Laepple-Urteil 1969 (Aktenzeichen 2 StR 171/69), aus Sicht vieler Gerichte eine Nötigung darstellt. Dies wurde indes Ende Mai 2023 zumindest durch das Landgericht Berlin (s.o.) deutlich in Frage gestellt.

Rechtlich ist sorgfältig zwischen der verfassungsrechtlichen Bewertung von Sitzblockaden und ihrer umstrittenen Einordnung als Nötigung im Sinne des § 240 StGB im Rahmen der so genannten Zweite-Reihe Rechtsprechung zu unterscheiden, wie das BVerfG im so genannten Mutlangen Beschluss vom 24. Oktober 2001 (Aktenzeichen 1 BvR 1190/90) hervorhob. Bei der Auslegung von Strafrechtsnormen und damit auch der §§ 240, 315b und 323c II StGB ist im Versammlungskontext stets der Schutzbereich des Art. 8 GG zu berücksichtigen, was Polizei und Versammlungsbehörden nicht selten großzügig übersehen.

Dabei ist auch die Sitzblockade einem Kammerbeschluss des BVerfG von 2011 (Aktenzeichen 1 BvR 388/05) zufolge von Art. 8 GG geschützt:

„Der Schutz ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfasst vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen, darunter auch Sitzblockaden […]. Bei einer Versammlung geht es darum, dass die Teilnehmer nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen.“

Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass es sich bei Straßenblockaden regelmäßig um Versammlungen im Schutzbereich des Art. 8 GG handelt, die damit auch dem Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes unterliegen. Ob diese als Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne des Versammlungsrechts im Falle einer Bejahung der Strafbarkeit nach § 240 StGB aufgelöst werden dürfen, ist eine andere Frage, die auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu beurteilen ist. Wenn ja, führt dies in Folge zur Anwendbarkeit des Polizeirechts, das einen Platzverweis bei einer Nichtbefolgung der versammlungsrechtlichen Auflösung erlaubt, weil diese nach dem Versammlungsrecht befolgt werden muss.

Dieser Platzverweis kann grundsätzlich bei Nichtbefolgung mit Zwang durchgesetzt werden, wobei ein Wegtragen als mildere Maßnahme gegenüber der gezielten Schmerzzufügung anzusehen ist. Die polizeiliche Ankündigung „Ich werde Ihnen jetzt Schmerzen zufügen“ ist dabei nicht als zulässige Androhung eines im Zwangsrecht vorgesehenen Zwangsmittels anzusehen.

III.             Klima­pro­teste und Straßen­blo­ckaden

Einen wesentlichen Anteil an klimarelevanten Emissionen und insbesondere am CO2-Ausstoß liefert in Deutschland der Straßenverkehr mit dem höchsten Anteil für den privaten PKW-Verkehr. Dennoch ist gerade in diesem Bereich ein Politikwechsel auch im Jahr 2023 nicht zu erkennen und nicht wenige halten „freie Fahrt für freie Bürger“ noch immer für ihr vorrangiges Grundrecht, das rechtfertigen kann, auch mal „Notwehr“ im Sinne einer Gewaltausübung gegen Klimaaktivist*innen anzuwenden, um diese von der Straße zu zerren.

Ob die Kritik an nicht hinreichenden Maßnahmen gegen die Erderwärmung den politischen Handlungsträger*innen und Parteien wie auch der Mehrheit der Bürger*innen berechtigt erscheint, spielt bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Proteste grundsätzlich keine Rolle. Allerdings sind repressive staatliche Maßnahmen gegen einen von weiten Teilen der Gesellschaft getragenen Dissens und Protest deutlich schwieriger zu vermitteln, als hier im Falle der Straßenblockaden, die offenbar von weiten Teilen der Bevölkerung und der Medien abgelehnt werden. Dennoch schützt Art. 8 GG gerade das Recht der abweichenden Meinung, und auf Dissens einerseits wie auf Teilhabe an der (kontroversen) politischen Willensbildung andererseits.

Dies galt entgegen vieler Stellungnahmen politischer Akteur*innen im Kontext der Lützerath-Proteste auch und gerade nachdem die politischen Instanzen entschieden hatten. Der Beschluss zum Braunkohleausstieg beispielsweise ist eine politische und rechtliche Entscheidung, die auf der Ebene der politischen Auseinandersetzung   außerhalb des Parlaments niemand zu akzeptieren braucht. Ein Bundestagsbeschluss bedeutet gerade nicht, dass die öffentliche Debatte zu dem Thema damit notwendiger Weise beendet sein muss, sondern kann im Gegenteil der Grund sein, erstmals oder abermals dagegen auf die Straße zu gehen.

IV. „Radikaler“ und „aggres­siver“ Protest

Wenn es in einem CDU-Antrag zur Verschärfung des Strafrechts im Versammlungsumfeld vor einigen Monaten im Bundestag (Drucksache 20/4310) heißt „[w]as jedoch als friedliche Demonstration begann, hat sich in Teilen der Klimabewegung in den vergangenen Wochen und Monaten zu einem radikalen und aggressiven Protest gewandelt, der kriminelle Mittel nicht scheut und dabei auch Leib und Leben von Menschen gefährdet“, verkennt dieser Ansatz gerade die Zielrichtung der verfassungsrechtlichen Garantie in Art. 8 GG. Dies gilt erst recht für Ausfälle etwa von Alexander Dobrindt (CSU) und anderen „Größen“ der Unionsfraktion zu einer „Klima-RAF“ Damit soll offenbar „radikaler“ Protest als unfriedlich eingeordnet werden, was mit der Rechtsprechung des BVerfG schlichtweg nicht kompatibel ist, solange inhaltlich oder auch der Form nach „radikaler“ Protest friedlich im Sinne dieser Rechtsprechung bleibt.

Begrifflichkeiten wie „radikal“ oder „extremistisch“ sind im versammlungs- oder auch polizeirechtlichen Kontext keine relevanten Rechtsbegriffe und finden sich nicht einmal im Bundesverfassungsschutzgesetz, sondern werden im vorliegenden Kontext dazu genutzt, im politischen Diskurs und bei polizeilichen Maßnahmen das Verhalten von Demonstrierenden negativ zu klassifizieren, um gegen diese vorzugehen oder sie sogar zu kriminalisieren, wofür – wie wir gesehen haben – § 129 StGB ein wunderbares Instrumentarium zur Verfügung stellt. Das Problem des Labels „radikal“ oder „extremistisch“ ist dabei, dass im Diskurs selten klargestellt wird, was damit genau gemeint ist und welche rechtlichen Grenzen hier überschritten sein sollen.

Eine Wohlverhaltenspflicht oder gar ein ausdrückliches Bekenntnis zur bestehenden Wirtschaftsordnung – wie in der aufgeregten öffentlichen Debatte zur nachrichtendienstlichen Beobachtung von Teilen der Klimabewegung eingefordert – ist gerade nicht Voraussetzung einer Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit, so „radikal“ die Kritik an den fehlenden Maßnahmen zum Klimaschutz oder gar am Kapitalismus sein möge, insbesondere da der Kapitalismus – im Gegensatz zu den Rechten künftiger Generationen – kein im Grundgesetz verfassungsrechtlich geschütztes Gut ist.

Hier sei auf die Ausführungen des BVerfG im Rahmen eines Nichtannahmebeschlusses von 2015 (Aktenzeichen 1 BvR 3279/14) verwiesen:

„Insbesondere begründen eine feindliche Positionierung der Versammlungsteilnehmer gegenüber dem deutschen Staat und die Tatsache, dass diese die Polizei als Exekutive und Repräsentant staatlicher Macht in besonderem Maße als Übel ansehen, ebensowenig einen tragfähigen Gesichtspunkt für die Prognose einer drohenden Gewalttätigkeit der Versammlung, wie die zu erwartende Teilnahme einer erheblichen Zahl von Angehörigen der linksautonomen Szene.“

Das BVerfG verneint eine Berufung auf die Versammlungsfreiheit (erst) bei „ersichtlich äußerliche[n] Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa Gewalttätigkeiten oder aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen“.

V. Fazit

  • Den sich anklebenden Klimaaktivist*innen ist durchaus bewusst, dass ihr Verhalten (noch immer) als strafrechtlich relevante Nötigung angesehen wird. Das Ankleben wird als Akt des zivilen Ungehorsams verstanden. Ob dieser sich nicht besser gegen die Herrschenden statt andere Bürger*innen richten sollte, ist eine gewichtige Frage, die politisch oder aktivismusstrategisch zu diskutieren ist. Die Versammlungsfreiheit wird hiervon nicht berührt.
  • Straßenblockaden können bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen mit verfassungsrechtlich zulässigen Maßnahmen nach dem Versammlungsrecht beschränkt oder aufgelöst werden, wobei die Grundrechtsgewährleistungen aus Art. 8 GG strikt zu beachten sind und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dabei hohes Gewicht zukommt.
  • Ob die so genannte Zweite Reihe-Rechtsprechung zu Nötigungen dauerhaft aufrechtzuerhalten ist, erscheint fraglich, wird derzeit aber wohl von der Mehrzahl der Gerichte bejaht. Hier ist auf eine Korrektur der Rechtsprechung zu hoffen und darauf hin zu arbeiten.
  • Die zunehmende Kriminalisierung des Protests und die insbesondere in Bayern mögliche Unterbindung durch Präventivgewahrsam von bis zu zwei Monaten zeigt, wie nervös viele Landesparlamente und -regierungen wie auch Versammlungsbehörden und Polizei angesichts dieser Proteste und des öffentlichen Drucks zu dessen Beendigung inzwischen sind. Hier wird zunehmend mittels Straf-, Versammlungs- und Polizeirecht versucht, Protest zu unterbinden, statt den politischen Streit zu befördern. Der Ruf nach „der ganzen Härte des Rechtsstaats“, wie vielfach gefordert, kehrt die Idee des Rechtsstaates in sein Gegenteil um: rule by law statt rule of law sind die Devise, nicht erst in dieser aufgeregten Debatte. Die Politik liefert mit immer neuen Sicherheitsgesetzen und Verschärfungen der geltenden Gesetze gern.
  • Vielleicht wäre auch ein wenig Demut der Blockierten einmal gut, die kein Grundrecht auf Leichtigkeit des Verkehrs haben und Staus und Verzögerungen auch sonst alltäglich akzeptieren (müssen).

 

Clemens Arzt ist Professor für öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt deutsches und ausländische Polizei- und Versammlungsrecht. Bis März 2023 unterrichtete er an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR), wo er 2013 Gründungsdirektor des Forschungsinstituts für Öffentliche und Private Sicherheit (FÖPS Berlin) war.

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