Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 241: Demokratie und Rechtsstaat verteidigen

Rezensionen - Machi­a­vellis populis­ti­scher Republi­ka­nismus

John McCormick, Machiavelli und der populistische Schmerzensschrei. Studien zur politischen Theorie, übersetzt von Mike Hiegemann. Mit einem Nachwort von Dirk Jörke, Suhrkamp Verlag, 1. Auflage 2023, 300 S., 22,00 €.

 

Das Werk des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers John McCormick zur politischen Theorie von Niccolò Machiavelli hat stets eine doppelte Stoßrichtung, die sich auch in den, im vorliegenden Band versammelten sechs Aufsätzen wiederfindet:

Erstens klassifiziert McCormick Machiavelli als demokratischen Republikaner, der die Macht der Reichen und Adeligen (grandi) durch das Volk (popolo) mittels Volksversammlungen, Volkstribunen und Gerichtsverfahren beschränken wollte und davon ausgeht, dass das Volk seine Freiheit dadurch herstellen und sichern will. Dabei verfalle es– erst einmal mit politischer Macht ausgestattet – auch nicht der Pöbelherrschaft.

Zweitens hofft McCormick mit machiavellischen Tools auf demokratische und teilweise linkspopulistische Weise die Herrschaft von politischen und finanzökonomischen Eliten in post-demokratischen repräsentativen Demokratien zu begrenzen. Beide Anliegen hat McCormick bereits 2011 in seinem stark rezipierten Buch Machiavellian Democracy vorgetragen. Mit der vorliegenden Sammlung aus Aufsätzen der vergangenen 17 Jahre liegen seine Ideen erstmals in deutscher Sprache vor.

Zunächst zu den drei ideengeschichtlichen Texten im vorliegenden Buch: Die Kernthese ist, dass für Machiavelli – insbesondere in den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (erschienen 1531) – die grandi die viel größere Bedrohung für eine Republik (lies: eine Mischverfassung zugunsten des Gemeinwohls) als der popolo darstellen. Damit widerspricht McCormick sowohl der Lesart von Leo Strauss (1958), Machiavelli sei ein Lehrer des Bösen oder ein Anhänger von Monarchie und Tyrannei, als auch der Cambridge School, die argumentiert, es gäbe einen italoamerikanischen Republikanismus, der sich von Machiavelli und dem italienischen Renaissance-Humanismus ausgehend bis hin zu den amerikanischen Gründervätern entwickelt habe (Pocock 1975; vgl. zum italoamerikanischen Republikanismus Dingeldey 2022: 108-158). McCormick entgegnet der Cambridge School, dass sich vielmehr die elitetheoretischen US-Gründerväter mit einem Repräsentativsystem durchgesetzt hätten, dass die Bürgerschaft von politischer Beteiligung durch eine natural aristocracy weitgehend ausschließe. Machiavelli stünde dem entgegen, indem er gerade klassenspezifische Institutionen für popolo und grandi fordere, sodass es hier keine historische Kontinuität, sondern vielmehr eine Trennung von aristokratischem und demokratischem Republikanismus gäbe. So betont McCormick, das für Machiavelli soziale Ungleichheit ein politisches Problem sei, da es Wohlhabenden ermöglicht, sich durch Geld, Rhetorik und Klüngel politische Macht zu sichern. Mehrmals betont der Politikwissenschaftler, das für Machiavelli ein Staat zwar reich sein solle, aber die Bürger arm, damit sie nicht durch Reichtum und Luxus korrumpiert werden und sich zum Zwecke der Freiheit vor Beherrschung politisch einbringen, statt aus Gier. (S. 118-145) So verteidigt McCormick Machiavelli vor elitetheoretischen Lesarten, auch indem er hervorhebt, dass der Florentiner den Ciompi-Aufstand und die römischen Volkstribunen Gracchen weniger negativ beurteile als gemeinhin angenommen. (S. 147-179)

In einem der Aufsätze geht der Autor gar so weit, Machiavelli als den demokratischen Republikaner schlechthin zu verkaufen und führt ihn dafür sogar ins Feld gegen Jean-Jacques Rousseau, der ansonsten gerne als Gewährsmann für einen demokratischen Republikanismus angeführt wird. Er bemängelt, dass Rousseau am Ende des Contrat Social gerade das römische Volkstribunat kritisiert und politische Versammlungen vorschlägt, in denen durch Stimmungleichgewicht doch nur eine Oligarchie herrsche, während Machiavelli den popolo durch eigene Institutionen und Repräsentanten Macht gegen die grandi geben will (S. 180-229).

Auch wenn McCormick damit einen wunden Punkt der Ideengeschichtsschreibung trifft, ist seine Rousseau-Interpretation ziemlich malevolent und einseitig. Denn gerade die (was das Politische, aber auch das Soziale betrifft) egalitären und partizipatorischen Teile des Contrat Social – die gewiss im Widerspruch zu seinen Betrachtungen der römischen Republik stehen – und damit die Rousseaus Texten immanente Spannung werden bei McCormick marginalisiert. Andersherum könnte man McCormicks (an sich recht überzeugende) Machiavelli-Interpretation etwas zu viel Benevolenz attestieren, da der Florentiner zwar den Aristokraten und Oligarchen generell misstraut und dem Volk Freiheitsliebe unterstellt, aber gleichzeitig – was zwar traditionell republikanisch, aber nicht dezidiert demokratisch ist – das Volk durch Tugend, Militarisierung, Züchtigung und politische Führer kontrollieren und steuern will.

Praktisch bedeutsamer als die Frage, wie ein politischer Klassiker zu deuten ist, ist die Frage, wie McCormick dies in drei weiteren Texten politisch aktualisiert. Dazu wendet er sich sowohl gegen die liberale Kritik am Populismus durch Nadia Urbinati als auch gegen die neorömisch-republikanische Kritik von Philip Pettit. Beide bemängeln das Erstarken des Populismus, setzen aber als Lösung auf Wahlen und auf gegenmajoritäre Maßnahmen, sehen also die Gefahr eher in vom Populismus verführten Durchschnittsbürger*innen als in politischen Eliten. McCormicks Punkt ist es, dass gerade ein modernes elektorales Repräsentativsystem zu Plutokratie und damit zur fundamentalen Reduktion der politischen Macht der Bürgerschaft führt, was wiederum als Widerstandsform den Populismus begünstige. (S. 15-49) Der Populismus sei somit nicht einfach nur der Feind der liberalen Demokratie, sondern ihre Folgeerscheinung. McCormicks machiavellische Lösungen sind klassenspezifische Institutionen, die mit dem Linkspopulismus zusammengedacht werden. Konkret schweben ihm minipublics als Volksversammlungen sowie die Einrichtung eines People’s Tribunate für die USA vor.

Letzteres sei eine Institution, die sich in das checks and balances integrieren und als demokratisches Korrektiv fungieren solle. Es bestünde aus 51 jährlich neu ausgelosten Bürger*innen. Dadurch wären die klassisch-demokratischen und -republikanischen Prinzipien Annuität, Iterationsverbot, Rotation und Kollegialität erfüllt, die ansonsten häufig in modernen Repräsentationssystemen kaum Platz finden. Ausgeschlossen seien aber die reichsten zehn Prozent der Bürger*innen, wodurch die Klasse des „Volkes“ sich hier präsentiere. Das wird damit begründet, dass an den anderen politischen Institutionen nur die reichsten Bürger*innen partizipieren würden. Der Ausgleich sei diese weitere Institution, die dafür auf den 90 Prozent und dem demokratischen Losverfahren basiere. Das People’s Tribunate hätte unter anderem die Kompetenzen, ein nicht überstimmbares Veto pro Jahr gegen einen Gesetzesentwurf vorzulegen, hätte auch die Gesetzesinitiative und könnte Amtsenthebungsverfahren und politische Prozesse gegen Berufspolitiker*innen und korrupte Akteur*innen führen. (S. 63-117/230-236) Zugleich vertritt McCormick ein positiveres Populismusbild als andere gegenwärtige Demokratietheoretiker*innen. So gehört für ihn der Populismus zur repräsentativen Demokratie mit ihren exklusivistischen Elementen als „Schmerzensschrei“ dazu, könne sich aber reaktionär (wie im Falle des Rechtspopulismus, der die imaginären Privilegien ethnischer oder kultureller Minderheiten angreift und sich als Repräsentant des wahren, weißen Volkes verkauft) oder eben progressiv gerieren (wie bei einem Linkspopulismus, der – womöglich vereinfacht – reiche Eliten kritisiert und dabei die Prinzipien Freiheit und Gleichheit politisch und wirtschaftlich einfordert), wobei beide Versionen sich weiterhin als die wahren Repräsentanten des Volkes verkaufen (S. 236-251). Insofern wäre das Tribunat linkspopulistisch, da das Einkommen und das Los – statt Herkunft, Kultur oder Hautfarbe – über die personale Zusammensetzung des Tribunats entscheiden würden. Gleichzeitig würde das Tribunat den Populismus durchbrechen, da sich hier der popolo präsentiere, anstatt von Abgeordneten (lies: grandi) repräsentiert zu werden.

Solche Institutionen ließen sich in ein System der liberalen Gewaltenteilung oder des checks and balances als weiteres check integrieren. Ein weiterer, vom Autor nicht angesprochener Vorteil wäre, dass die Diversität politischer Akteur*innen – über den Klassenfaktor hinaus – erhöht würde. Denn die 51 jährlich neu gelosten Personen würden innerhalb weniger Jahre eine durchschnittlich zur Bürgerschaft proportionale Menge an nichtweißen Menschen und marginalisierten Minderheiten zu Tribun*innen darstellen. Obwohl die Idee, der gegenüber den Wohlhabenden weitgehend entmachteten Menge politische Macht in einer modernen Republik zu geben, die den Gedanken der Mischverfassung ernst nimmt und die herkömmlichen Repräsentationsinstitutionen als Institutionen von Wohlhabenden für Wohlhabende demaskieren würde, als demokratietheoretischer Impuls positiv hervorzuheben ist, ergeben sich daraus praktische und konzeptuelle Probleme, die ich teilweise auch schon andernorts (Dingeldey 2021) bezüglich der Machiavellian Democracy (McCormick 2011: 170-188) angeführt habe:

Erstens ist die Idee, die reichsten zehn Prozent vom Tribunat de jure auszuschließen, weil die unteren 90 Prozent de facto von den anderen Institutionen exkludiert werden, konzeptuell unsauber, da hier Rechtsanspruch und Rechtswirklichkeit verwechselt werden. Etwa könnte man dann auch antidemokratisch argumentieren, dass folgerichtig die unteren 90 Prozent formal von konventionellen Repräsentationsinstitutionen ausgeschlossen werden müssten (man ihnen also mindestens das passive Wahlrecht entziehen müsste), wenn formal die Reichsten vom Tribunat ausgeschlossen werden. Auch scheint der Ausschluss der reichsten zehn Prozent vom Tribunat willkürlich gewählt. Warum etwa nicht nur das reichste oberste Prozent oder das reichste Fünftel? Es müsste klargestellt werden, inwiefern diese Prozentzahlen klassenspezifische Institutionen ausmachen würden beziehungsweise welches Klassenkonzept genau dahintersteckt.

Zweitens kann man kritisieren, dass auch ein People’s Tribunate eine Repräsentationsinstitution wäre. Zwar würde hier der aristokratische Wahlakt durch ein demokratisches Losverfahren ersetzt, aber die 51 Tribun*innen wären auch Repräsentant*innen, obgleich in mimetischer Form, da der popolo durch den popolo repräsentiert werde, was wesentlich weniger elitär wäre als die gängige distinktive Repräsentation (vgl. zu den Repräsentationsarten Manin 2007). Insofern könnten sich Tribun*innen auch als populistische Berufspolitiker- *innen verhalten – obgleich nur für ein Jahr. Dieser republikanische Populismus wäre tendenziell progressiv sowie in der Stoßrichtung egalitär und partizipatorisch. Da McCormick selbst zum Schluss kommt, dass die kapitalistische Demokratie die Macht des Volkes durch Repräsentant*innen, sprich politische Eliten, die meist deckungsgleich mit finanzökonomischen Eliten sind, verhindert, könnte man radikaldemokratischer als er also die politische Repräsentation durch Eliten an sich als nichtdemokratisch kritisieren, statt sie zu akzeptieren und lediglich zu ergänzen (Dingeldey 2022).

Drittens stellt sich die Frage, warum McCormick nur auf klassenspezifische Institutionen ausweicht, wenn er bemerkt, dass soziale Ungleichheit zu politischer Ungleichheit führt. Das ist zwar plausibel, aber warum fordert er nicht stattdessen, was folgerichtig wäre: sozioökonomische Gleichheit? Praktisch lässt sich für McCormicks Vorschlag jedoch einwenden, dass machiavellisch-republikanische oder populistische Institutionen immer noch realistischer wären als ein baldiger Erfolg des Sozialismus.

Zudem ist menschenrechtlich problematisch, dass McCormick bei einer Verurteilung reicher Akteur*innen wegen Kapitalverbrechen die Todesstrafe fordert, da sozioökonomische und politische Akteur*innen nur auf diese Weise aufgehalten werden könnten, sich auf Kosten der Bevölkerung zu bereichern (S. 58/249-251). Zwar kann er bei solchen Verbrechen sehr hohe und harte Strafen fordern, aber seine Argumente, warum dies die Todesstrafe sein müsse, überzeugen nicht. Denn solche Gerichtsprozesse sollen für McCormick gerade keine Lynchjustiz oder ein revolutionärer Umbruch sein, sondern ein rechtsstaatlicher Ablauf, der die Freiheit des Volkes sichert.

Wie die Machiavellian Democracy ist auch Machiavelli und der populistische Schmerzensschrei ein doppelt interessantes und lesenswertes Buch: für ideengeschichtlich Interessierte und für egalitäre Republikaner*innen und Humanist*innen. Auch wenn man nicht mit allem, was McCormick fordert, einverstanden ist, so leistet er doch eine weitgehend plausible, wenn auch selektive Neuinterpretation Machiavellis, eine berechtigte Kritik am Repräsentativsystem, am Klassencharakter politischer Entscheidungen und der (US-amerikanischen) Rechtsprechung sowie mit dem People’s Tribunate ein diskutables Gedankenexperiment zwischen demokratischen Republikanismus und progressiven Populismus. Damit schafft er es, weder dem Populismusbashing zur liberalen Selbstvergewisserung zu erliegen, noch rechte und reaktionäre Spaltungstendenzen in Politik und Gesellschaft zu relativieren.

 

Zusätzlich verwendete Literatur:

Dingeldey, Philip 2021: A People’s Tribunate in a Populist Democracy? A Thought Experiment between Republicanism and Populism re-visited, in: Mayr, Stefan/Orator, Andreas (Hrsg.): Populism, Popular Sovereignty, and Public Reason (= Central and Eastern European Forum for Legal, Political, and Social Theory Yearbook, Bd. 10), Bern et al., S. 71-84.

Dingeldey, Philip 2022: Von unmittelbarer Demokratie zur Repräsentation. Eine Ideengeschichte der großen bürgerlichen Revolutionen, Bielefeld.

Manin, Bernard 2007: Kritik der repräsentativen Demokratie, übersetzt von Tatjana Petzer, Berlin.

McCormick, John 2011: Machiavellian Democracy, Cambridge.

Pocock, John G. A. 1975: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton et al.

Strauss, Leo 1958: Thoughts on Machiavelli, Chicago.

Philip Dingeldey

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