Beitragsbild Gefängnis-Abolitionismus als Kritische Kriminalpolitik
Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 243: Kritische Kriminalpolitik

Gefäng­nis-A­b­o­li­tio­nismus als Kritische Krimi­nal­po­litik

Während der Begriff Abolitionismus im 19. Jahrhundert noch die Forderung nach Abschaffung der Sklaverei bedeutete, hat sich bis heute der Begriff auf verschiedenste kriminalpolitische Abschaffungsforderungen ausgedehnt. Johannes Feest geht der vielleicht prominentesten Form auf den Grund: dem Gefängnis-Abolitionismus. Dazu rekonstruiert er nicht nur die Geschichte und den Forschungsstand des Gefängnis-Abolitionismus im 20. und 21. Jahrhundert, sondern systematisiert verschiedenste Ansätze und Strategien mit verschiedener Radikalität zu einer Abschaffung der Gefängnisse wie auch die juristische Kritik daran.

Dabei geht es ihm jedoch eher um die Gemeinsamkeiten der abolitionistischen Konzepte, als um theoretische Differenzen. Für Feest ist der Abolitionismus eine Haltung und rechts- und sozialtheoretisch fundierte Bewegung zur Abschaffung von Gefängnissen. Gegen die Kritik am Abolitionismus als illusionär, argumentiert er, dass der Abolitionismus eine langfristige Strategie und konkrete humane Utopie der Emanzipation sein kann.

Das Wort Abolitionismus bezeichnet Lehren und Bestrebungen zur Aufhebung rechtlich institutionalisierter Zwangsverhältnisse und Sanktionsformen. Im 19.Jahrhundert war es vor allem im anglo-amerikanischen Raum zunächst mit dem Kampf gegen die Sklaverei, dann auch mit dem gegen die Reglementierung der Prostitution verbunden. Als Abolitionisten bezeichneten sich dort aber auch damals schon die Anhänger einer Abschaffung der Todesstrafe. Heutzutage bezeichnet das Wort Abolitionismus auch eine im engeren Sinne kriminalpolitische Strömung, die auf die Abschaffung der Gefängnisse und des Strafrechtssystems sowie eine Neudefinition der bisher als Kriminalität bezeichneten Phänomene und auf einen völlig anderen, weniger Leid verursachenden Umgang mit diesen Situationen abzielt. (Scheerer 1991: 287)

Dieser Versuch einer lexikalischen Definition erweist sich nach wie vor als zutreffend. Was ihre ersten beiden Sätze betrifft, so hat der Begriff inzwischen erhebliche Ausweitungen erfahren. Er wird nicht nur auf die Polizei (Loick 2018), sondern, insbesondere in den USA, auf immer mehr Herrschaftsphänomene ausgedehnt: auf Grenzen und Flüchtlingslager, Familie, Schule, Universität, Sozial- und Arbeitsämter, Psychiatrische Anstalten (Loick/Thompson 2022: 42); leider noch nicht auf den Krieg, obwohl der Pazifismus eindeutig eine Form von Abolitionismus ist. Das ist im Einzelnen anregend, insgesamt wohl der Versuch, viele verschiedene soziale Bewegungen zu einer Art revolutionären Kraft gegen Kapitalismus und ökologische Zerstörung zusammenzuführen (Loick/Thompson 2022: 36ff.; vgl. auch Scheerer 2022). Über den gegenwärtigen Zusammenhang einer kritischen Kriminalpolitik geht das weit hinaus. Ich beschränke mich daher auf den Abolitionismus als kriminalpolitische Strömung, wie er in den letzten beiden Sätzen der obigen Definition umrissen wird. Dieser kriminalpolitische oder pönale Abolitionismusi steht in engem Zusammenhang mit der kritischen Kriminologie. Ebenso knapp wie klar hat dies Alessandro Baratta (2019: 22) ausgedrückt: „Die Kritische Kriminologie analysiert die Widersprüche und Grenzen des Strafrechtssystems. Ihre epistemologische Grundlage ist die Erkenntnis, dass Kriminalität keine natürliche Eigenschaft der Subjekte und ihres Verhaltens darstellt, sondern eine Eigenschaft, die diesen in Definitionsprozessen attribuiert wird“. Und Sebastian Scheerer (2018: 167f.) hat beschrieben, wie sich in Deutschland im Sommer 1969 aus verschwundenen Reformhoffnungen „eine radikalisierte Sicht auf das Gefängnis innerhalb der kritischen Kriminologie“ entwickelt hat. Einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hat diese Sicht der ehemalige Gefängnisleiter Thomas Galli (2016; 2017; 2020).

Gefängnisse abschaffen

Es gibt nicht einen, sondern viele pönale Abolitionismen (vgl. Smaus 1986; Feest/Paul 2008). Gemeinsam ist allen die Forderung, Gefängnisse abzuschaffen. Die Begründungen dafür sind unterschiedlich, verstärken sich aber gegenseitig:

  • „Gefängnisstrafe (imprisonment) ist moralisch verwerflich und unhaltbar und muss abgeschafft werden” (Knopp et al. 1976).

  • „Diese Institutionen sind ein Übel in sich selber, geradeso wie die Folter, ja sie sind eine Art Folter!“ (Herman Bianchi, zitiert von van Dijk 1989: 438)

  • Die Freiheitsstrafe hat keine intellektuelle Rechtfertigung; die üblichen Straftheorien sind unhaltbar (Steinert 1976; ähnlich Mathiesen 1979).

  • Das Gefängnis ist eine politische Waffe der Herrschenden (Mitford 1977: 12).

  • Gefängnisstrafe ist „eine sinnlose Form von Schmerzzufügung, die nichts bringt. Dieses Leiden ist sinnlos“ (Hulsman 2023: 72; ähnlich Christie 1986).

  • „Strafrecht ist die Darstellung von Herrschaft mit Menschenopfern. Abolitionisten haben einen zunächst ganz bescheidenen Wunsch. Die Menschenopfer sollen aufhören“ (Steinert 1988: 1).

  • Böses mit Bösem zu vergelten ist in einem laizistischen Staat nicht hinnehmbar (Ferrari/Pavarini 2018: These 1).

  • „Es ist an der Zeit, das Gefängnissystem als globales Desaster wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren. Es ist nicht nur gescheitert, es ist auch kontraproduktiv.“ (Scheerer 2018: 175).

  • „Der Freiheitsentzug in Gefängnissen stellt eine ebenso unnötige wie menschenunwürdige Einrichtung dar“ (Feest et al. 2019: These 2).

In der abolitionistischen Literatur gibt es aber so gut wie keine Auseinandersetzung zur Frage, wann ein Gefängnis ein „Gefängnis“ ist. Es ist aber kaum zweifelhaft, dass es primär um Anstalten zur Verbüßung von Freiheitsstrafe geht. Aus den Beispielen bei Bianchiii geht hervor, dass er auch die Untersuchungshaft im Auge hat. Auch Mathiesen meint sicherlich nicht nur Strafanstalten im engeren Sinne (sein erstes Buch handelt von einer Sicherungsanstalt, der erste Erfolg von KROM war die Abschaffung des Arbeitshauses). Hulsman ist an der Frage nicht interessiert, weil er ohnehin das ganze Strafsystem (penal system) abschaffen möchte.

Nur in dem Buch No Prison findet sich eine genauere Auseinandersetzung mit dieser Frage. Sollen wirklich alle Gefängnisse abgeschafft werden? Und sollen alle „gefährlichen Straftäter“ freigelassen werden? Die Antwort ist zugleich einfach wie schwierig. Sie ist einfach, weil Abolitionismus bedeutet, dass Strafanstalten total beseitigt werden sollen, wie immer sie auch genannt werden. Die Abschaffung der Gefängnisse bedeutet die Entfernung der Freiheitsstrafe aus den Strafgesetzbüchern, sodass kein Gericht sie mehr über jemand verhängen kann. Sie ist zugleich unbefriedigend, da die Abschaffung der Strafhaft nicht das Ende aller Formen von Einsperrung bedeutet. Beispiele solcher, nicht primär als Strafe gedachten Einrichtungen sind Erziehungsanstalten, Untersuchungshaftanstalten, Forensische Kliniken, Abschiebehaftzentren, Konzentrationslager und andere Beispiele für Administrativhaft. „Diese wichtigen gefängnisartigen Institutionen müssen als solche untersucht werden, sie fallen jedoch nicht in den Bereich des Abolitionismus i.e.S.“ (Feest/Scheerer 2018: 38f.)iii.

Einige Strategien

Auch was die Strategien zur Abschaffung der Gefängnisse betrifft, gibt es mehrere Schulen, die sich nicht notwendigerweise ausschließen.

Strategie der Negation

Wie oben erwähnt, war Mathiesen sehr einflussreich mit seiner „Strategie der Negation“. Nur „negative“ Reformeniv sollten angestrebt werden, nur solche, die das System nicht stärkten (vgl. Mathiesen 1979). Diese konnte allerdings auch als Absage an jegliche Reformbemühungen (miss-)verstanden werden. Mathiesen hat sich später von einem solchen dogmatischen Verständnis seiner frühen Begriffsbestimmung distanziert: „Damals dachten wir […], dass positive Reformen, welche die Gefängnisse humaner machen, zugleich das System verstärken. Es ist jedoch zweifelhaft, ob das wirklich so ist“ (Mathiesen 2015: 24). Er hält zwar an der Auffassung fest, dass Abolitionist*innen sich nicht mit „System-Rechtfertigung“ befassen, sich nicht mit der Verfeinerung des Bestehenden beschäftigen sollten. Aber er bietet jetzt auch eine positive Definition des Abolitionismus an:

Abolitionismus ist eine Haltung. Es ist die Haltung ‚nein‘ zu sagen“. Er erläutert dies wie folgt: „Ich wollte damals zweifellos Strategien für konkrete Abschaffungen entwickeln und das möchte ich immer noch. Dazu gehören auch kleine Abschaffungen, die kleine Siege bedeuten und zum Paradigma des Abolitionismus gehören. Das ist ein wichtiger Aspekt, der heute nicht übersehen werden sollte. Aber ich war auch bestrebt, eine abolitionistische Haltung zu entwickeln und zu nähren, eine ständige und zutiefst kritische Haltung zu Gefängnissen und Strafsystemen als menschliche (und unmenschliche) Lösungen (Mathiesen 2015: 32).

Strategie der Attrition

Die Quakerinnen um Fay Honey Knopp legten frühzeitig eine Strategie vor, die sie, in aller Bescheidenheit, zur nicht allein seligmachenden erklärten. Sie nannten diese Strategie attrition, das heißt Abbau des Gefängnissystems durch einen graduellen Prozess von Abnutzung, Verschleiß, Zermürbung. Das System soll von verschiedenen Seiten her abgebaut werden. Fünf Hauptpunkte werden genannt:

  • Der Verzicht auf jegliche Gefängnis-Neubauten (moratorium),

  • die Entwicklung von zusätzlicher Entlassungsmöglichkeiten (decarceration),

  • die Entwicklung von Alternativen zur Einsperrung (excarceration),

  • die Beschränkungen der Einsperrung auf Wenige (restraint of the few)

  • und der Aufbau einer aufnahmebereiten Gesellschaft (caring community) (Knopp et al. 1976; Knopp 1991).

Dies ist offensichtlich ein Minimalismus oder Reduktionismus im Gewand des Abo-litionismus. Er zeugt von politischem Realismus und ist nach wie vor sehr lesenswert und hilfreich.

Dem in Deutschland veröffentlichten abolitionistischen Manifest liegt ein ähnlicher Gedanke zu Grunde (Feest et al. 2019): Die Abschaffung von Strafanstalten wird zum Langzeitprojekt erklärt, mit dem Abbau müsse jedoch sofort begonnen werden. Als Einstieg wird angeregt, die Ersatzfreiheitsstrafe ersatzlos abzuschaffen; die Durchsetzung von Geldstrafen solle ausschließlich zivilrechtlich erfolgen (These 3). Die Untersuchungshaft solle weitestmöglich vermieden werden, etwa durch die Ermöglichung sozialer Bürgschaften (These 4). Ferner werden Regelungen außerhalb des Strafrechts vorgeschlagen „etwa im gesamten Drogenbereich, bei Schwarzfahren und Ladendiebstahl“ (These 5).

Strategie der Ent-To­ta­li­sie­rung

Nach Erwing Goffman ist das Gefängnis der Prototyp einer totalen Institution. „Eine totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen“ (Goffman 1973: 7). Ein Blick auf die Realität zeigt, dass viele Gefängnisse von diesem Extremtyp abweichen: Insbesondere die Abschottung von der Gesellschaft ist durch Besuchsmöglichkeiten, Briefkontakte und Medienzugang teilweise aufgehoben. Der sogenannte Angleichungsgrundsatz fordert eine möglichst weitgehende Normalisierung des Gefangenenstatus in faktischer wie rechtlicher Hinsicht. Die Schriftstellerin und Aktivistin Jessica Mitford hat die Logik und Dynamik dieser Entwicklung wie folgt beschrieben: „Durch das Bestreben, die Rechte des Gefangenen als Bürger und Arbeiter zu etablieren, wird die Trennung zwischen ihm und denen draußen verringert. In einem entscheidenden Sinne ist die innere Logik einer solchen Bewegung die Abschaffung des Gefängnisses, da in dem Maße, in dem solche Trennungen verwischt werden, das Gefängnis seiner lebendigen Funktion entkleidet wird“ (Mitford 1977: 30). Wolfgang Lesting hat dies mit Thomas Mathiesens Konzeption verglichen (und dabei bereits dessen „pragmatische Wendung“ berücksichtigt). Er kommt zum Ergebnis: „Für die kriminalpolitischen Initiativen kann die Normalisierungsidee zum Einstieg in eine abolitionistische Kriminalpolitik […] werden. Weil der Angleichungsanspruch des Strafvollzugsgesetzes (zusätzliche) Legitimationsdefizite schafft, bietet er einen entscheidenden strategischen Ansatzpunkt für eine Kritik des Gefängnissystems“ (Lesting 1988: 118).

Aboli­tio­nismus als Bewegung

Als internationaler Bezugspunkt der Abolitionist*innen existiert bisher nur die 1983 gegründete International Conference on Prison Abolition (ICOPA), deren Name später um Penal Abolition erweitert wurde. Initiiert wurde die ICOPA von Ruth Morris, einer kanadischen Quakerin, die später auch den Begriff Transformative Justice prägte (Morris 2000). Die (normalerweise) alle zwei Jahre stattfindende Konferenz hat eine Alleinstellung als globales Forum der Gefängnis- und Strafrechtskritik. Auf ihren Tagungen treffen sich Gefolgsleute des Abolitionismus mit solchen aus dem Lager der Restorative Justice, der Transformative Justice und anderen strafrechts- und strafvollzugskritischen Gruppen (Hagemann 2023)v. Zuletzt hat die ICOPA im Jahre 2018 in London stattgefunden. Nach einer durch Corona entstandenen Lücke, soll über Zeit und Ort der nächsten Konferenzen Ende 2023 entschieden werden (nach Auskunft von Justin Piché).

In den USA strebt auch die 1997 gegründete Vereinigung Critical Resistance den Aufbau einer internationalen Bewegung an. Sie beruft sich auf die Kritische Kriminologie, aber auch auf W. E. B. DuBois. Zu den Gründer*innen gehören Ruth Gilmore Wilson und Angela Y. Davis. Das auf ihrer Homepage verkündete Motto lautet „Abolition now. Building an international Movement to abolish the prison industrial complex”vi. Die Abschaffung des Prison Industrial Complex (PIC) ist eine politische Vision mit dem Ziel, Einsperrung, Polizei und Überwachung zu eliminieren und dauerhafte Alternativen zu Strafe und Einsperrung zu schaffen. Die Zeitschrift der Critical Resistance, The Abolitionist, erscheint dreimal pro Jahr, wird im Abonnement verkauft und gratis an interessierte Gefangene abgegeben. In deutscher Übersetzung sind wichtige Beiträge der Protagonist*innen abgedruckt im Abolitionismus-Reader von Daniel Loick und Vanessa Thompson (2022). Über die USA hinaus, hat auch das Journal of Prisoners on Prison Bedeutung. Angeregt auf der dritten ICOPA in Montreal, erscheint die Zeitschrift seit 1988 und ist der abolitionistischen Bewegung verbunden geblieben. Die Beiträge werden von Gefangenen und ehemaligen Gefangenen verfasst und vor der Veröffentlichung einem peer-review-Verfahren unterzogen. Seit 2018 erscheint die Zeitschrift im Rahmen der Ottawa University Press. Herausgeber ist der Kriminologe und Abolitionist Justin Piché.

Von besonderer Bedeutung war das Erscheinen des ersten internationalen Handbook on International Handbook on Penal Abolition (Coyle/Scott 2021). Es stellt die bisher umfassendste Sammlung von Originalbeiträgen über abolitionistische Bewegungen weltweit dar. „Kriminalpolitische Abolitionisten in aller Welt haben stets darauf hingewiesen, dass alle Formen staatlicher Zufügung von Schmerz und Schaden moralisch und politisch ungerechtfertigt sind und dass gewaltlose, statt dessen an Bedürfnissen orientierte soziale Organisation und Intervention gefördert werden müssen“ (Coyle/Scott 2021: 2). Der Begriff penal abolition wird daher in einem weiten Sinne verwendet: Der Band enthält Beiträge über Strafhaft, Untersuchungshaft, psychiatrische Unterbringung, Abschiebungshaft, und er geht dabei dem Zusammenhang mit Kolonialismus, Rassismus und Sexismus nach. Die europäischen Theoretiker*innen des Abolitionismus werden nur am Rande erwähnt, das Handbuch der Quaker gar nicht. Im einleitenden Essay der Herausgeber werden sechs Nuancen (hues) des Abolitionismus unterschieden: erstens eine theoretische Perspektive, zweitens eine Kritik der Straf-Sprache, drittens eine soziale Bewegung, viertens Strategien zum Abbau des Strafapparats, fünftens eine Philosophie/Ethik des Strafens und sechstens eine revolutionäre Praxis. Das allein ist sehr lesenswert und müsste Gegenstand universitärer Seminare werden. Das Buch ist jedoch zu teuer, um weite Verbreitung zu finden. Sein langfristiger Einfluss auf die abolitionistischen Bewegungen bleibt abzuwarten.

Argumente gegen den Aboli­tio­nismus

Die Vorstellungen und Forderungen des kriminalpolitischen Abolitionismus sind nicht ohne Widerspruch geblieben. Eine eingehende, kenntnisreiche Kritik des Abolitionismus haben vor allem zwei Autoren vorgelegt: der deutsche Jurist und Kriminologe Günther Kaiser und der argentinische Kriminalwissenschaftler Maximo Langer. Als wichtigste Einwände werden vorgebracht: der utopische/illusionäre Charakter, die mangelnde Praktikabilität und die Gefahren von Rechtsunsicherheit und Selbstjustiz sowie die Immunisierung gegen Kritik. Angesichts der Verschiedenheit der abo-litionistischen Positionen treffen diese Einwände einzelne ihrer Vertreter*innen mehr als andere.

Ein durchaus ernst zu nehmendes Argument ist die Entformalisierung als Gefahr von Rechtsunsicherheit und von Selbstjustiz. Dazu schreibt Kaiser:

Gerade im Hinblick auf verfassungsrechtliche Vorgaben und Garantien erscheint die Vorstellung, dass Sanktionen von ‚autonomen‘ Instanzen oder einzelnen Bürgen abhängig wären äußerst befremdlich, in engem Zusammenhang damit steht die Willkürgefahr. Wo sich aber der Abolitionismus von juristischen und rechtsstaatlichen Verfahren sowie vom Menschenrechtsansatz zugunsten einer Entformalisierung entfernt, stellen sich die erwähnten Bedenken verstärkt ein“. Deshalb seien die praktisch-kriminalpolitischen Implikationen der abolitionistischen Perspektive ‚unannehmbar‘. (Kaiser 1988: 286)

Das kann aber schwerlich dann gelten, wenn sich der Abolitionismus schrittweise im Rahmen von Verfassung und Rechtsstaat entwickelt. Das wird auch vom garantistischen Flügel des Abolitionismus so gesehen, weshalb Baratta (2003: 227; vgl. auch Baratta 2019) – vorläufig – für ein minimales „Strafrecht in den Grenzen der Verfassung“ plädiertvii.

Ein weiterer Einwand betrifft die Ineffizienz alternativer Verfahren. So heißt es bei Kaiser (1988: 387): „Dass und wie wenig alternative Konfliktlösungsmechanismen in der Lage wären, die sogenannte Gewalt in der Familie und schwere Wirtschaftsstraftaten zu bewältigen oder auch ‚nur‘ das Verkehrs- und Umweltrecht wirksam durchzusetzen, ist offenkundig“. Das könnte gegen eine vorschnelle Abschaffung jeglicher staatlichen Polizei sprechen, aber nicht gegen den Abbau des Gefängniswesens und die Förderung spezifischer außerstrafrechtlicher Strategien in den von Kaiser genannten Problembereichen.

Eine positivere Einstellung zum Abolitionismus kennzeichnet den ausführlichen Artikel von Maximo Langer (2020). Er berichtet davon, dass während seiner juristischen Ausbildung in Buenos Aires der kriminalpolitische Abolitionismus eine große Rolle gespielt habe, im Gegensatz zum völligen Fehlen dieses Gegenstandes Ende der 1990er Jahre in Harvard. Er sieht als wichtigste Herausforderung die Frage, wie man ohne Polizei und Gefängnisse mit schwerwiegend schädigendem Verhalten umgehen soll. Als Beispiele nennt er Mord, Vergewaltigung, häusliche Gewalt, schwere Körperverletzungs- und Raubdelikte sowie Brandstiftung. Hinzukommen massenhafte Menschenrechtsverletzungen (Holocaust, Genozide, Apartheid etc.). Er findet, dass diese Frage von den Fans des Abolitionismus mit Ausweichen, Verschiebung der Antwort auf eine utopische Gesellschaft oder mit einem Rückzug auf einen strafrechtlichen Minimalismus (dem Langer selbst anhängt) beantwortetet wird (Langer 2020: 58). Das trifft drei Schwachpunkte der abolitionistischen Literatur. Nur auf einen soll hier kurz eingegangen werden:

Auch Kaiser (1987: 1036) findet, der Abolitionismus sei „utopisch“ und auch in seinen gemäßigten Formen „realitätsblind und sozialromantisch, ja totalitär“. Der Begriff totalitär passt allerdings auf keine der oben erwähnten Richtungen des Abolitionismus, schon gar nicht auf das Ziel einer Abschaffung von totalen Institutionen. Dagegen spricht auch die staatskritische Haltung mancher Abolitionist*innen, die man im weitesten Sinne als anarchistisch (vgl. Cuellar 2023), schwerlich aber als totalitär bezeichnen kann. Dem Vorwurf des Utopismus ist entgegenzuhalten, dass es für die meisten Abolitionist*innen nicht um abstrakte, in die ferne Zukunft verlegte und unrealistische Gesellschaftsentwürfe geht, sondern um „konkrete“ (Bloch 1967) oder „reale“ (Wright 2010) Utopien. Davon spricht man, wenn Ansätze schon in der Gegenwart vorhanden sind. Beispiele dafür sind offene und „freie Formen“ des Strafvollzuges, aber auch zivilgesellschaftliche und zivilrechtliche Formen der Konfliktverarbeitung (Hulsman/Bernat de Celis 2023: 137ff.). Vieles davon entwickelt sich, auch ohne ausdrücklichen Bezug auf den Abolitionismus, im Rahmen der Bewegung für eine Restorative Justice (Hagemann 2023). Kurzum: „Abolitionismus ist kein Quietismus, der bis zu einem messianischen Ereignis die Hände in den Schoß legt“ (Loick/Thompson 2022: 45f., mit Beispielen für „nichtreformistische Reformen“). Das entspricht auch Mathiesens zentralem Konzept des „Unfertigen“, wonach es nicht nur um das Anstreben eines umfassenden und langfristigen Ziels geht, „sondern auch gleichzeitig um die ganz nahe Zielsetzung, falls notwendig, auf einem sehr begrenzten Teilfeld“ (Mathiesen 1979: 182).

Fazit

Vor Jahrzehnten wurde der Abolitionismus als eine Bewegung bezeichnet, „die im Begriffe steht, in der Gesetzgebungspolitik der Bundesrepublik, aber auch im westlichen Ausland, Einfluss zu gewinnen“ (Kaiser 1987: 1029). Diese Prognose hat sich zwar als verfrüht erwiesen, aber vielleicht kann ein erstarkender Abolitionismus etwas Bewegung in unsere zögerliche Kriminalpolitik bringen. Aber schon jetzt ist der intellektuelle Abolitionismus sehr real, als „Programm des denkerischen ‚Probehandelns‘, in dem festgehalten wird, was sogar empirisch offensichtlich ist: dass die Konflikte und sonst schwierigen Situationen, die unter ‚Kriminalität‘ ver- und behandelt werden, auch anderes bewältigt werden können – ohne Einschalten der staatlichen Strafgewalt, wie es in Alltagspraktiken im Großteil der vergleichbaren Fälle (was ‚Dunkelfeld‘ genannt wird) ohnehin geschieht“ (Cremer-Schäfer/Steinert 2021: 251f.).

Der Abolitionismus ist also eine Haltung, eine vielgestaltige Bewegung, mit unterschiedlichen Strategien zur Abschaffung von Gefängnissen und anderen unmenschlichen Praktiken, genährt von verschiedenartigen Theorie-Ansätzen. Viele halten den kriminalpolitischen Abolitionismus für utopisch und illusionär und erst recht den Versuch einer Ausweitung auf andere repressive Institutionen. Als langfristige Strategie und konkrete humane Utopie verdient er jedoch sehr ernst genommen zu werden.

Prof. Dr. Johannes Feest hat Rechtswissenschaft in Wien und München sowie Soziologie in Tübingen und in Berkeley studiert. Er war von 1974 bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand 2005 Professor für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht an der Universität Bremen. Von 1995 bis 1997 leitete er das International Institute for the Sociology of Law im baskischen Oñati. Im Ruhestand kümmert er sich verstärkt um Fragen des Strafvollzuges und der Sicherungsverwahrung. Von 1977 bis 2011 leitete er das Strafvollzugsarchiv. Seit 2009 ist er Mitglied der Jury des Ingeborg-Drewitz Literaturpreises für Gefangene. Von 2011 bis 2014 war er Vorsitzender des Beirats des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien. Er ist Mitglied im Beirat des Kriminologischen Journals und Mitglied im Schildower Kreis, welcher sich für die Legalisierung von Drogen einsetzt. Seit 2022 ist der Vorstandsmitglied der Humanistischen Union.

Literatur

Baratta, Alessandro 2019: Criminologia critica e critica del diritto penale: introduzione alla sociologia giuridico-penale, Milano.

Baratta, Alessandro 2003: Kriminalpolitik und Verfassung. Überlegungen zum minimalen Strafrecht und zur Sicherheit der Rechte, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Jg. 86, H. 2, S. 210-231.

Bemmann, Kai 2002: Im Bannkreis des Heiligen. Freistätten und kirchliches Asyl als Geschichte des Strafrechts. Hamburg.

Bloch, Ernst 1967: Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. v. Holz, Hans-Heinz, Frankfurt am Main.

Christie, Nils 1986: Grenzen des Leids, Bielefeld.

Coyle, Michael J./Scott, David (Hrsg.) 2021: The Routledge International Handbook on Prison Abolition, London/New York.

Cremer-Schäfer, Helga/Steinert, Heinz 2021: Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie, 2. Auflage, Münster.

Feest, Johannes et al. 2019: Manifest zur Abschaffung von Strafanstalten und anderen Gefängnissen, abrufbar unter https://strafvollzugsarchiv.de/abolitionismus/manifest.

Feest, Johannes/Paul, Bettina 2008: Abolitionismus: einige Antworten auf oft gestellte Fragen, in: Kriminologisches Journal, H. 1, S. 6-21.

Feest, Johannes/Scheerer, Sebastian 2018: Against penitentiaries, in: Pavarini, Massimo/Ferrari, Livio (Hrsg.): No Prison, Capel Devi, S. 13-54.

Ferrari, Livio/Pavarini, Massimo 2014: NO PRISON: Manifesto, auch abrufbar in mehreren Sprachen unter: http://noprison.eu/home/page2.html.

Galli, Thomas 2016: Die Schwere der Schuld, Berlin.

Galli, Thomas 2017: Die Gefährlichkeit des Täters, Berlin.

Galli Thomas 2020: Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemand nützen, Hamburg.

Goffman, Erving 1973: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main.

Hagemann, Otmar 2023: Restorative Justice. Heilung, Transformation, Gerechtigkeit und sozialer Frieden, Köln.

Hulsman, Louk/Bernat de Celis, Jacqueline 2023: Pain in Vain – Challenging the Penal System, in: Piché, Justin (Hrsg.): Pain in Vain. Penal abolition and the legacy of Louk Hulsman, Ottawa, S. 23-145.

Kaiser, Günther 1988: Kriminologie. Ein Lehrbuch, Heidelberg.

Kaiser, Günther 1987: Abolitionismus – Alternative zum Strafrecht? Was läßt der Abolitionismus vom Strafrecht übrig? In: Küper, Wilfried (Hrsg.): Festschrift für Karl Lackner, Berlin/New York.

Knopp, Fay H. 1991: Community Solutions to Sexual Violence. Feminist/abolitionist perspectives, in: Pepinsky, Harold E./Quinney, Richard (Hrsg.): Criminology as Peace-Making, Bloomington, S. 181-193.

Knopp, Fay H. et al. 1976: Instead of Prisons, a handbook for abolitionists, Syracuse/New York, abrufbar unter: https://www.prisonpolicy.org/scans/instead_of_prisons/.

Langer, Máximo 2020: Penal Abolitionism and Criminal Law Minimalismus, in: Harvard Law Review, Jg. 134, H. 42, 42-77.

Lesting, Wolfgang 1988: Normalisierung im Strafvollzug. Potential und Grenzen des § 3 Abs. 1 StVollzG, Pfaffenweiler.

Loick, Daniel 2018: Kritik der Polizei, Frankfurt am Main/New York.

Loick, Daniel/Thompson, Vanessa (Hrsg.) 2022: Abolitionismus. Ein Reader, Berlin.

Mathiesen , Thomas 1974: The Politics of Abolitionism, Bergen.

Mathiesen, Thomas 1979: Überwindet die Mauern. Die skandinavische Randgruppenbewegung als Modell politischer Randgruppenarbeit, hrsg. und eingeleitet von Schumann, Karl F., Neuwied/Darmstadt.

Mathiesen, Thomas 2015: The Politics of Abolition Revisited, Milton Park.

Mitford, Jessica 1977: Für die Abschaffung der Gefängnisse, Teltge-Westbevern.

Morris, Ruth 2000: Stories of Transformative Justice, Toronto.

Pavarini, Massimo/Ferrari, Livio (Hrsg.) 2018: No Prison, Capel Devi.

Radbruch, Gustav 1932: Der Erziehungsgedanke im Strafwesen, in: Monatsblätter des deutschen Reichszusammenschlusses für Gerichtshilfe, Gefangenen- und Entlassungsfürsorge der freien Wohlfahrtspflege, Jg. 7, S. 103-109.

Scheerer, Sebastian 1991: Abolitionismus, in: Sieverts, Rudolf/Schneider, Hans Joachim (Hrsg.): Handwörterbuch der Kriminologie, Berlin, 287-300.

Scheerer, Sebastian 2018: Abschaffung der Gefängnisse. Prison abolition, in: Kriminologisches Journal, Jg. 50, H.3, S. 167-177.

Scheerer, Sebastian 2022: Rezension: Abolitionismus. Ein Reader, hrsg. Von Daniel Loick & Vanessa Thompson, 2022, in: Criminologia.de, abrufbar unter: https://criminologia.de/2022/09/rezension-abolitionismus-ein-reader/.

Smaus, Gerlinda 1986: Gesellschaftsmodelle in der abolitionistischen Bewegung, in: Kriminologisches Journal, Jg. 18, H. 1, S. 1-17.

Steinert, Heinz 1976: Über die Funktionen des Strafrechts, in: Neider, Michael (Hrsg.): Festschrift für Christian Broda, Wien, S. 335-371.

Steinert, Heinz 1988: „Sicherlich ist Zweifel am Sinn von Strafe, von Freiheitsstrafe erlaubt“. Über Abolitionismus als intellektuelle Praxis, in: Schumann, Karl F./Steinert Heinz/Voß, Michael (Hrsg.): Vom Ende des Strafvollzugs. Ein Leitfaden für Abolitionisten, Bielefeld, S. 1-15.

Van Dijk, Jan 1989: Strafsanktionen und Zivilisationsprozess, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 72, S. 437-450.

Wright, Erik Ohlin 2010: Envisioning real Utopias, New York.

Anmerkungen:

i Die Übertragung dieses Begriffs auf das Gefängnis geht auf Mathiesens The Politics of Abolition (1974) zurück. Dieses Buch beruht seinerseits auf einer norwegischen Fassung unter dem Titel Det uferdige von 1971, welches nunmehr das erste Kapitel seines oben genannten Hauptwerks bildet. Dessen erster Satz lautet; „I have gradually acquired the belief that the alternative lies in the unfinished, in the sketch, in what is not yet fully existing. The ‚finished alternative’ is finished in a double sense of the word” (Mathiesen 2015: 47).

ii Herman Bianchis Vorstellungen von Freiplätzen haben sich zwar in der Kriminalpolitik bisher nicht durchgesetzt, sie sind aber Vorbild für das Kirchenasyl geworden (Bemmann 2002).

iii Man muss sich aber fragen, ob alle Formen der Einsperrung, etwa kurzfristige und/oder komfortable, immer noch unter Steinerts Kategorie der „Menschenopfer“ fallen. Daran zweifelt offenbar auch Scheerer, selbst wenn diese der Vollstreckung von Freiheitsstrafe dienen (https://www.rescaled.org/replacing-prisons-with-detention-houses/).

iv Schon 50 Jahre vorher hatte Gustav Radbruch in einer Rede vermerkt, dass – zumindest in nächster Zeit – „unsere Kriminalpolitik wesentlich negative Kriminalpolitik“ bleiben soll (Radbruch 1932: 107).

v Zur konzeptuellen Beziehung von Restorative Justice und Transformative Justice vgl. den Beitrag von Otmar Hagemann in diesem Heft.

vii Zum Garantismus vgl. auch meinen Beitrag zum minimalen Strafrecht in diesem Heft.

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