Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 243: Kritische Kriminalpolitik

Entkri­mi­na­li­sie­rung von Bagatell­kri­mi­na­lität – das Beispiel Laden­dieb­stahl

Bagatellkriminalität ist ein Oxymoron, da Bagatellen nicht – wie strafrechtlich relevante Kriminalität – unerträglich sind. Dies nimmt Henning Ernst Müller zum Anlass, sich den Bagatellcharakter von Delikten anzusehen. Dabei fokussiert er insbesondere den Ladendiebstahl und arbeitet heraus, wie geringfügig der daraus entstehende Schaden ist, um für eine Entkriminalisierung im Sinne verfahrensrechtlicher Lösungen zu argumentieren. Dazu rekonstruiert er auch historisch die Entkriminalisierungsdebatten um den Ladendiebstahl in der BRD seit den 1970ern.

Bagatellkriminalität

Der Begriff Bagatellkriminalität ist kein Rechtsbegriff. Er kommt in der Alltagssprache und auch in der Kriminalpolitik häufig vor, aber welche Straftatbestände oder Verhaltensweisen darunterfallen, ist nirgendwo festgelegt (Portmann o. J.). Wenn Bagatelle alltagssprachlich definiert wird als „geringfügige, unbedeutende Sache“ oder als „Angelegenheit, die nicht ins Gewicht fällt“, dann wird im Wort Bagatellkriminalität ein erster Widerspruch erkennbar: Das Strafrecht soll ja nach verfassungsrechtlich begründeter Auffassung ohnehin nur solche Verhaltensweisen erfassen, die im Gemeinschaftsleben „unerträglich“ sind (BVerfG, Beschl. v. 26.02.2008 – 2 BvR 392/07). Die Androhung und Durchführung von strafrechtlichen Reaktionen soll Ultima Ratio sein, um solch gesellschaftlich „unerträgliches“ Verhalten zu unterdrücken (BVerfG, Beschl. v. 26.02.2008 – 2 BvR 392/07; Ignor et al. 2021:4). Aber wenn dies so ist, dann dürfte es keine Schnittmenge zwischen Bagatellen und Kriminalität geben. Die angeordnete strafrechtliche Reaktion stünde einer gleichzeitigen Bewertung als Bagatelle diametral entgegen. Wie „großer Zwerg“ oder „kleiner Riese“ handelte es sich dann beim Wort Bagatellkriminalität um ein Oxymoron.

 

Prof. Dr. Henning Ernst Müller geb. 1961, Dr. iur., ist Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Regensburg. Wichtigste Buchveröffentlichung: Falsche Zeugenaussage und Beteiligungslehre (Mohr Siebeck, Tübingen 2000). Derzeit arbeitet er im Forschungsprojekt zu rechtsextremistischen Gewaltdelikten in Bayern.

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