Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 243: Kritische Kriminalpolitik

Editorial

In ihren Anfängen bildete die Kriminalpolitik, neben der Abgrenzung von Kirche und Staat, einen Schwerpunkt der Bürgerrechtsarbeit der Humanistischen Union (HU). Prominente Justizpraktiker und Kriminalwissenschaftler wie Fritz Bauer, Heinrich Hannover und Herbert Jäger gehörten zu ihren aktivsten Mitgliedern. Im Jahre 1964 schaltete man sich mit einer Denkschrift in die Diskussion um die Strafrechtsreform ein. Sie beginnt mit dem Satz: „Der ‚Entwurf eines Strafgesetzbuches (EStGB 1962) mit Begründung‘ (Bundesratsdrucksache 200/62) entspricht in wichtigen Teilen nicht den Anforderungen, die an eine moderne Kriminalgesetzgebung zu stellen sind“ (Humanistische Union 1964: 1). Nach einer Darstellung der „grundsätzlichen Mängel des Entwurfs und seiner Begründung“ folgten zehn konkrete Vorschläge und Formulierungsentwürfe. Damals ging es der HU vor allem um die Abschaffung der Zuchthausstrafe als einer verschärften Form des Strafvollzugs, um eine Neufassung der Bestimmungen zur Schuldfähigkeit, eine Streichung der Bestimmungen zur „Gotteslästerung“ und zur „Beleidigung von Persönlichkeiten des politischen Lebens“, sowie um die Einschränkung der Strafbarkeit der Abtreibung, der „unzüchtigen Schriften und Sachen“, und der „Störung der Strafrechtspflege“. Zu den Unterzeichnern gehörten unter anderen Fritz Bauer, Ossip K. Flechtheim, Herbert Jäger, René König, Golo Mann, Alexander Mitscherlich und Wilhelm Weischedel.

Vieles davon konnte in den folgenden Jahren erreicht werden: Die Zuchthausstrafe wurde abgeschafft, die Gotteslästerung entkriminalisiert und das Sexualstrafrecht immerhin rechtsstaatlichen Maßstäben im Sinne der sexuellen Selbstbestimmung angenähert. Aber nicht Weniges ist geblieben beziehungsweise neu hinzugekommen, wozu aus der Humanistischen Union – abgesehen von einer Kritik an der Kriminalpolitik insgesamt – immer wieder kritische Aufsätze oder Stellungnahmen veröffentlicht wurden. Das Themenspektrum umfasst etwa das Drogenstrafrecht (Lorenz Böllinger, Till Müller-Heidelberg und Jürgen Roth), die Forensische Psychiatrie (Elisabeth Kilali und Heinz Kammeier), die lebenslange Freiheitsstrafe (Charlotte Maack und Martin Singe), den Schwangerschaftsabbruch (Hans Robinsohn und Rosemarie Will), das Sexualstrafrecht (Monika Frommel), den Strafvollzug (Helga Einsele, Helmut Ortner, Reinhard Wetter und Jens Puschke) und die Sicherungsverwahrung (Lorenz Böllinger und Jens Puschke).

Darüber sah sich die HU zunehmend veranlasst, auf den Sicherheitswahn (Hassemer 1993) und die Gefahren eines Feindstrafrecht (Sack 2007) zu reagieren. Grundlegende Reflexion und Kritik von Strafrecht und Strafvollzug trat demgegenüber zunehmend zurück. Eine Ausnahme bildete das Schwerpunktheft der vorgänge zum Reflexhaften Strafrecht. In dessen Editorial heißt es: „Gegen die sich historisch ergebende Akkumulation immer neuer Straftatbestände vertritt die Humanistische Union – wie viele Strafrechtler*innen übrigens auch – einen strafrechtlichen Minimalismus“ (Krieg/Lüders 2015: 3), allerdings ohne dass dieser Begriff dort näher erläutert wird.

In den meisten strafrechtlichen Lehrbüchern ist von Strafrechtskritik keine Rede und von strafrechtlichem Minimalismus erst recht nicht. Es sind eher Kriminolog*innen, die sich dieser Fragen annehmen. Eine Ausnahme stellt in diesem Punkt der Strafrechtslehrer Wolfgang Naucke dar. Er weist auf empirische Befunde und Einsichten der „kritischen Kriminologie“ hin, wonach der Anspruch einer rationalen präventiven Kriminalpolitik sich als fragwürdig erwiesen habe. Eine Straftatverhinderung durch zweckmäßiges Strafen sei nicht nachweisbar. Die Folgerung aus dieser Empirie liege auf der Hand: „[E]rsatzlose Abschaffung des Strafrechts, wo immer es durchsetzbar ist (Abolitionismus) und Regulierung des Schadens aus der Tat durch private Abmachungen (Täter-Opfer-Ausgleich) ohne formale Strafverfahren (Konsensprinzip im Strafverfahren); oder aber: Neubegründung eines engeren, klaren rechtsstaatlichen Strafrechts“ (Naucke 2002: § 1; 187). Diese Ansätze sollen im vorliegenden Heft näher erläutert und durch konkrete Vorschläge für die praktische Kriminalpolitik ergänzt werden. Der Kriminalpolitik ist im Koalitionsvertrag der gegenwärtigen („Ampel“-)Regierung kein eigener Abschnitt gewidmet. Bemerkungen dazu finden sich verstreut unter dem Titel „Innere Sicherheit, Bürgerrechte, Justiz, Verbraucherschutz, Sport“. In einem einzigen Absatz wird dort die kriminalpolitische Konzeption der Regierung zusammengefasst:

Das Strafrecht ist immer nur Ultima Ratio. Unsere Kriminalpolitik orientiert sich an Evidenz und der Evaluation bisheriger Gesetzgebung im Austausch mit Wissenschaft und Praxis. Wir überprüfen das Strafrecht systematisch auf Handhabbarkeit, Berechtigung und Wertungswidersprüche und legen einen Fokus auf historisch überholte Straftatbestände, die Modernisierung des Strafrechts und die schnelle Entlastung der Justiz. Das Sanktionensystem einschließlich Ersatzfreiheitsstrafen, Maßregelvollzug und Bewährungsauflagen überarbeiten wir mit dem Ziel von Prävention und Resozialisierung (Koalitionsvertrag 2021: 106).

Dagegen ist fast nichts einzuwenden, außer dass die bisher bekannt gewordenen Vorhaben diesem Anspruch nicht genügen können.

Die Beiträge in diesem Heft zeigen beispielhaft nötige Veränderungen des deutschen Strafrechts auf. Sie sind inspiriert durch unterschiedliche Varianten einer kritischen Kriminalpolitik und eines mehr oder weniger radikalen strafrechtlichen Minimalismus.

Zunächst werden wir auf theoretischer Ebene die Varianten kritischer Kriminalpolitik mit drei Beiträgen beleuchten. In einem kurzen Beitrag berichtet Johannes Feest über den Strafrechtlichen Minimalismus (penal minimalism, minimalismo penale), der im Ausland eine starke Gefolgschaft hat. In Deutschland wurde diese Richtung fast ausschließlich von Alessandro Baratta vertreten, dessen Erinnerung der Aufsatz gewidmet ist. Otmar Hagemann fasst in seinem Artikel die Substanz seines vor Kurzem erschienenen umfassenden Buches Restorative Justice. Heilung, Transformation, Gerechtigkeit und sozialer Frieden für uns zusammen. Zudem argumentiert Johannes Feest in einem weiteren Beitrag, dass die Forderung nach der Abschaffung des Strafvollzugs der gemeinsame Nenner unterschiedlicher Strömungen der abolitionistischen Kriminalpolitik ist.

Auf diesen theoretischen Part folgen Texte, die sich mit konkreten Kritikansätzen einzelner strafrechtlicher Praxen befassen. Katharina Reisch zeigt im Hinblick auf die bisher noch undeutlichen Pläne des Bundesjustizministeriums zur Umsetzung des Koalitionsvertrages von 2021, wie viele Straftatbestände von Seiten der Strafrechtswissenschaft schon länger zur Streichung vorgeschlagen werden. Henning Ernst Müller setzt sich mit dem, im Strafrecht und in der Öffentlichkeit viel verwendeten Bagatellbegriff auseinander und fragt sich, ob es gelingen kann, den Ladendiebstahl ganz aus dem Strafrecht herauszunehmen. Nicole Bögelein begründet die, von ihr schon im Rechtsausschuss des Bundestages vorgetragenen Argumente für einen Verzicht auf die Ersatzfreiheitsstrafe und geht dabei auch auf das Problem der sozialen Ungleichheit ein, da hier Armut bestraft wird.

Heino Stöver, einer der Vordenker der Entkriminalisierung im Drogenbereich, zeigt wie diese praktisch umgesetzt werden könnte. Thomas Meyer-Falk berichtet über zehn Jahre eigener Erfahrung mit der Sicherungsverwahrung, einer Institution, die er für nicht zeitgemäß hält. Heinz Kammeier wiederholt die vom Fachausschuss Forensik der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) erhobene Forderung, die psychiatrischen Maßregeln in eine „zeitgemäße, menschenrechtlich akzeptable, sozial fortschrittliche und diskriminierungsfreie Gestalt zu transformieren“. Ergänzt wird Kammeiers Analyse der Forensik durch den Beitrag von Susanne Lüftner und Werner Bergmann zur Beziehung von Kunstfreiheit und Forensik, anhand eines persönlich erlebten Anwendungsfalls. Über die bisher vergeblichen Versuche einer Entnazifizierung des Mordparagrafen berichtet Helmut Pollähne und argumentiert, dass eine Reform der Tötungsdelikte erst nach Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe mit Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann.

Es gäbe noch viele weitere Themen, die in diesem Heft nicht umfassend behandelt werden konnten. Dazu gehört etwa das reformbedürftige Strafbefehlsverfahren. Jedoch kann in diesem Heft leider nicht jedes der unzähligen Themen behandelt werden.

Dafür enthält diese Ausgabe wie gewohnt weitere Beiträge zu aktuellen bürgerrechtlichen Themen: Till Müller-Heidelberg fragt sich, ob Menschen, die bei Kirchen und kirchlichen Trägern angestellt sind, Arbeitnehmer*innen minderen Rechts sind und kritisiert die Sonderregelungen der Kirchen im Arbeitsrecht. Ferner berichtet Ernst Fricke über den Beschluss des Amtsgerichts München, nach dem das Abhören des Pressetelefons der „Letzten Generation“ keinen Eingriff in die Pressefreiheit darstelle und kritisiert die Intransparenz der Justiz im Kontext dieses fragwürdigen Urteils. Benjamin-Immanuel Hoff, selbst Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten in Thüringen sowie Chef der Thüringer Staatskanzlei, erörtert, warum akademische Qualifikationsstandards für Thüringer Minister*innen unnötig seien und nicht dazu beitragen, rechtsextreme und antidemokratische Personen als Minister*innen zu verhindern. Wir bleiben beim Thema Rechtsextremismus: Während die Humanistische Union diskutiert, was wir gegen den Aufstieg der AfD tun können und ob ein Parteiverbotsverfahren ein bürgerrechtlich sinnvolles Instrument ist, argumentiert Manfred Pappenberger für die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens, auch wenn er sich der damit verbunden Probleme bewusst ist.

Wir wünschen Ihnen – auch im Namen der gesamten Redaktion – eine anregende Lektüre der neuen Ausgabe der vorgänge und freuen uns über Rückmeldungen und kritische Anmerkungen.

Johannes Feest und Philip Dingeldey

 

Literatur

Hassemer, Winfried 1993: Zur aktuellen Situation der Sicherheitspolitik, in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 124 = Jg. 32, H. 4, S. 54-67.

Humanistische Union 1964: Vorschläge zur Strafrechtsreform, als Memorandum dem Strafrechtsausschuss des Deutschen Bundestages überreicht, München.

Koalitionsvertrag 2021: Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), Bündnis 90/Die Grünen und den Freien Demokraten, https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf.

Krieg, Claudia/Lüders, Sven 2015: Editorial, in: vorgänge. Zeitschrifrt für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 212 = Jg. 54, H. 4, S. 1-5.

Naucke, Wolfgang 2002: Strafrecht. Eine Einführung, München.

Sack, Fritz 2007: Wer den Rechtsstaat verteidigen will, muss die Gründe seines Niedergangs in den Blick nehmen, in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 178 = Jg. 46, H. 2, S. 5-26.

nach oben