Beitragsbild Ein Blick auf zehn Jahre Sicherungsverwahrung – aus der Innenperspektive
Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 243: Kritische Kriminalpolitik

Ein Blick auf zehn Jahre Siche­rungs­ver­wah­rung – aus der Innen­per­spek­tive

Auch wenn ein Aufenthalt von zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung den Gerichten zufolge nur die Ausnahme sein sollte, ist es doch die Regel. Thomas Meyer-Falk berichtet in seinem Beitrag über zehn Jahre eigener Erfahrung mit der Sicherungsverwahrung, einer Institution, die er für nicht zeitgemäß hält. Meyer-Falk schreibt über den prekären Alltag in der Sicherungsverwahrung, die Verzweiflung der Inhaftierten ob ihrer Ohnmacht, die unmenschlichen Bedingungen und auch den Tod von Inhaftierten.i

„Bitte lächele nicht darüber, aber für mich ist die Entlassung wie eine Geburt!“ Das schrieb mir W., als er nach 48 Jahren Freiheitsentzug freigelassen wurde. In seiner Jugend hatte er erst in Psychiatrien, danach im Jugend-, hernach im Erwachsenenvollzug und zuletzt fast elf Jahre in der Sicherungsverwahrung (SV) zugebracht. Die wenigen Tage, die er sich in diesen fast fünf Jahrzehnten außerhalb von Anstaltsmauern befand, waren jeweils Folgen von Geiselnahmen. Nach seiner letzten, im Jahre 1995 wurde er über 15 Jahre lang in strenger Einzelhaft gehalten, solange, bis die taz ihm und seinem Mittäter F. eine Doppelseite widmete. Das brachte Bewegung in die Sache.

Ich habe selbst zehn Jahre in der Sicherungsverwahrung zugebracht. Als ich 2013 in Freiburg auf Station 2 der Abteilung Sicherungsverwahrung ankam, begrüßte mich H. und noch bevor ich in meiner Zelle anlangen sollte, wusste ich, dass in genau jenem Bett, in welchem ich heute Nacht schlafen würde, vor wenigen Monaten ein Insasse tot aufgefunden worden war. Er selbst, fügte er noch hinzu, sei übrigens nicht wirklich ein Sexualtäter, denn er habe „ihn nicht hineingesteckt“ und spende seit Jahren sein Anstaltstaschengeld dem Weißen Ring! Einige Monate später sollte H. tot an meiner Seite im Freizeitraum der Station sitzen.

„Lasset alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet“, so schrieb es in der Göttlichen Komödie vor rund 700 Jahren Dante über den Eingang zur Hölle – es könnte auch der Wahlspruch der Sicherungsverwahrten sein, denn an Hoffnung mangelt es allerorten. Auch wenn der Leiter der Freiburger Sicherungsverwahrung, Herr G., versichert, er hege bei allen, die hier ankommen, eben jene Hoffnung, die Zuversicht nämlich, sie eines Tages in die Freiheit begleiten zu können, so wie er dann auch mich in den zurückliegenden circa zehn Monaten begleitete.

Es wurden lange zehn Jahre für mich! Anfang 2014: H. saß still auf der Couch vor dem Fernseher im Freizeitraum, ich setzte mich neben ihn und zappte ein bisschen durch die Fernsehkanäle. Wenn H. mal schwieg, ließ ich ihn lieber still sein, denn sonst würde er mir wieder ungefragt und sehr detailfreudig berichten. Vielleicht zwanzig Minuten später fielen einem Mitverwahrten und mir auf, dass H. sich jetzt schon eine Weile gar nicht mehr bewegt hatte. Wir tippten ihn an, suchten nach Atemanzeichen. Als wir diese nicht fanden, informierten wir den Stationsbeamten. Sofort wurde „Alarm“ ausgelöst, alle Stationsbewohner sofort in den Zellen weggeschlossen, und später stellte sich heraus: H. war gestorben – wie die Obduktion ergab, an einem Hinterkammerinfarkt.

Immer wieder würden in den folgenden Jahren Mitverwahrte sterben, meist auf der Station, auf der ich selbst lebte, weshalb diese bald sarkastisch die „Todesstation“ genannt wurde. Insassen siechten vor sich hin: K. lief brabbelnd, mit entblößtem Unterkörper und abnorm vergrößertem Hoden dem Flur auf und ab. P. wiederum nässte und kotete sich regelmäßig ein, so dass phasenweise A., ein als Stations- und Desinfektionsreiniger tätiger Mitinsasse, täglich dessen Bettwäsche wechselte.

Die personelle Situation in der Sicherungsverwahrung ist dabei immer noch wesentlich besser als im sonstigen Bereich des Justizvollzugs. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2009 und – diesem zumindest in Teilen folgend – das Bundesverfassungsgericht die Haftbedingungen in den SV-Anstalten beanstandeten, wurden zum Sommer 2013 die gesetzgeberisch auf Bundes- wie auf Länderebene verabschiedeten Reformen, in die Tat umgesetzt. So habe ich mit meinem eigenen Antritt der SV den reformierten Vollzug der Sicherungsverwahrung kennengelernt.

Personell stockte der Staat erheblich auf. Berichtete der heutige Leiter der Freiburger Sicherungsverwahrung noch vor der Reform in einer Zeitschrift davon, dass ihm seinerzeit eine halbe Stelle für den Bereich der Sicherungsverwahrung im Bereich Sozialer Arbeit zur Verfügung gestanden habe, so sind heute vier Mitarbeitende des Sozialdienstes tätig. Im Bereich des Strafvollzugs sprechen wir von einem Personalschlüssel von etwa 90 bis 100 Insass*innen auf eine Fachkraft, im Bereich der Sicherungsverwahrung von circa eins zu 16.

Trotzdem vermag dies aus meiner Sicht an dem Vor-sich-hinsiechen – körperlich und vor allem seelisch – nichts zu ändern. Postulierte das BVerfG in seinem Urteil vom 04. Mai 2011 zur SV, dass die Verwahrung über zehn Jahre hinaus die Ausnahme bleiben müsse, ist sie de facto zur Regel geworden. Zumindest in Freiburg. Wie eine taz-Journalistin recherchierte, säßen in Freiburg mittlerweile mehr als 50 Prozent der Untergebrachten schon länger als zehn Jahre in der SV.

Wie viele Neuankömmlinge habe ich im Laufe der Jahre dort gesehen, die, wie dereinst ich selbst, mit Energie und Elan, den Vollzugsalltag nicht für wahr haltend könnend, meinten, sie würden etwas verändern können und dann nach einigen Monaten zu resignieren begannen. Meine ersten SV-Jahre waren geprägt von vielen Anträgen an die Gerichte und sonstige Institutionen. Die Telefone wanderten von den Fluren, wo jeder mithören konnte, in die Zellen. Die Zugangsmöglichkeit zum Hofareal wurde erheblich ausgeweitet, die Stromkostenbeteiligungen mussten gesenkt werden, und anderes mehr. Zudem hatte ich stets das Glück, von freundlichen Menschen vor den Mauern begleitet, besucht, unterstützt zu werden. Die Besuche, Telefonate, Briefe waren für mein Überleben essenziell.

Im Laufe der Jahre weitete sich mein Blick. In der Tat ist die jeweilige Anstaltsleitung nicht für jeden Missstand persönlich verantwortlich, denn sie ist eingebunden in die hierarchische Struktur einer Behörde. Es sprechen viele Beteiligte mit – gerade und besonders im Bereich der SV – Justizministerium, Sicherheitsbeauftragten etc. Aber viel Lebenszeit wird investiert in das Verfassen von Beschwerden und geht einerseits damit verloren. Andererseits gibt die Möglichkeit sich zu beschweren auch Halt und Struktur. Zudem ist es die einzige legale Möglichkeit, doch punktuell etwas zu verbessern.

Mit den Jahren schien ich immer deutlicher den unartikulierten Schmerz von Mitbewohnern zu spüren, wenn ich nur genau genug hinhörte und hinsah. Wie sie sich innerlich verzehrten und durch offiziell in reichlichem Maße verordnete Psychopharmaka zu dämpfen versuchten oder aber gleich zu Drogen griffen.

Zu Ostern 2023 ereignete sich der erste offizielle Suizid der vergangenen Jahre. Ein Insasse, Anfang 40, erhängte sich! Ich kannte ihn schon aus der vorangegangenen Zeit in der Strafhaft – und mich machte es traurig, dass er keinen anderen Weg für sich gefunden hat. Aber ich konnte seine Entscheidung nachfühlen. Das Leben dort zermürbt. Für ihn war seine Selbsttötung sogar eine Art von Fortschritt: zuvor hochaggressiv, als Psychopath klassifiziert, prügelnd durch sein und das Leben anderer gewalzt, richtete sich seine finale Gewalthandlung nicht mehr gegen andere. Aber seinen Schmerz, seine Ohnmacht so zu verarbeiten, dass er sich, aber auch seiner Familie – er hinterlässt Ehefrau, Adoptivmutter und Kinder – eine Chance auf eine Zukunft in Freiheit hätte geben können, dies gelang ihm nicht.

Für mich selbst öffneten sich am 29. August 2023 letztmalig die Stahltore der Haftanstalt; ich wurde entlassen. Nach zehn Jahren und knapp zwei Monaten in der Sicherungsverwahrung, nach insgesamt ununterbrochener Freiheitsentziehung von 26 Jahren und 10 Monaten. Ich ließ eine ganz eigene Welt hinter mir: etwa 600 Männer und mittlerweile drei Frauen leben in Deutschland im dunkelsten, hintersten Winkel des Blinddarms der Justiz und Gesellschaft. Fast vergessen, vielfach sich selbst überlassen!

Thomas Meyer-Falk geb. 1971, wohnt in Süddeutschland, wurde im Oktober 1996 verhaftet und war von Juli 2013 bis 29. August 2023 in der Sicherungsverwahrung. Er schreibt seit vielen Jahren Artikel und Berichte aus dem Strafvollzug, über den Strafvollzug und auch zur Innenpolitik. Mittlerweile ist eine Auswahl seiner Artikel und Gedichte in zwei kleinen Büchern erschienen. https://www.freedomforthomas.wordpress.com/

Anmerkungen:

i In einem etwa einstündigen Radiointerview mit Professorin Dr. Graebsch, sprach der Autor mit ihr über verschiedenste Facetten des Themas Sicherungsverwahrung. Es wurde deutlich, wie prekär die rechtliche und soziale Lage der Betroffenen ist, und auch wie ohnmächtig sich oftmals deren anwaltliche Vertreter*innen fühlen. https://www.freie-radios.net/123707

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