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Wehrhafte Demokratie ohne Verfas­sungs­schutz

Steinke, Ronen: Verfassungsschutz – Wie der Geheimdienst Politik macht, Berlin Verlag, 1. Auflage Juni 2023, 224 S., 24,00 €.

Signalfarbener Umschlag und zum Einstieg eine packende Anekdote: Steinkes Buch will gelesen werden und macht den Einstieg leicht. Auf rund 200 Seiten wird der Verfassungsschutz untersucht. Passend zum ersten äußeren Eindruck ist das Buch keineswegs ein Buch für Ex-pert*innen. Die Sprache bleibt durchweg glasklar. Wer schreibt? Steinke ist Jurist, seit geraumer Zeit zudem Journalist, insbesondere für die Süddeutsche Zeitung. Weiterhin schreibt er Bücher, die wiederholt große Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren haben. So hat er im letzten Jahrzehnt etwa Werke über Fritz Bauer, antisemitische Gewalt und Phänomene in der Justiz verfasst. Neben Wohlwollen haben seine Bücher teils Kritik aus den jeweiligen Fachwelten erfahren und teils Diskurse angeregt. Nun geht Steinke ein weiteres monumentales Thema an: den als Verfassungsschutz bezeichneten deutschen Inlandsgeheimdienst.

Steinke nimmt dabei gleich mehrere schwierige Herausforderungen an. Er versucht ein für ein breites Publikum lesbares Buch über ein kompliziertes Thema zu schreiben. Zudem entwickelt er Thesen aus Sicht eines leidenschaftlichen Demokraten, die gerade auch dann gelten sollen, wenn man innerhalb des demokratischen Spektrums nicht Steinkes politische Auffassungen teilt. So beschränken sich die von ihm als problematisch erachteten Vorgänge im Verfassungsschutz nicht auf die schlichte Behauptung, dass dieser blind auf dem rechten Auge sei. Auch im Kontext der Beobachtung der AfD werden problematische Eigenschaften des Verfassungsschutzes sichtbar.

Steinke geizt nicht mit Anekdoten. Ihre Überprüfbarkeit sinkt selbstverständlich mit dem Grad der Öffentlichkeit des Beschriebenen. Gleichzeitig sind gerade die intimeren Anekdoten für viele Leser*innen wohl recht erstaunlich. Dazwischen verdichtet Steinke seine Argumentation in enger werdenden Kreisen und diskutiert dabei Bezüge zur wehrhaften Demokratie, deutschen Besatzungsgeschichte und der NS-Vergangenheit. Am Ende des Buches fasst er sein Fazit kompakter zusammen: Wehrhafte Demokratie? Ja, bitte! Aber ungern einen Dienst, der unter diesem Vorzeichen, jedoch teils unbehelligt von den über Jahrzehnte erfochtenen und verfeinerten Prozeduren der gerichtlichen Kontrolle im demokratischen Rechtsstaat arbeitet.

Man darf es dem Autor zugutehalten, dass er seine Folgerungen oder Forderungen am Ende des Buches nochmal in aller Knappheit dar-stellt. Es gelingt ihm, auf zwölf Seiten sein Werk auf sieben Punkte einzudampfen. So können Lesende in einen gedanklichen Austausch und Abgleich mit Steinke treten. Das Geforderte wird greifbar, er entzieht sich nicht durch Komplexität und Mehrdeutigkeiten dem Diskurs. Wer sich auf den Gang von Steinkes Abhandlung einlässt, erhält Gelegenheiten zum Nachdenken.

Die kollektiven Erfahrungen der vergangenen Jahre, etwa mit Blick auf die Coronapandemie, den Krieg in der Ukraine oder jüngere Wahlergebnisse haben für manche eine Annahme bestärkt: Demokratie ist womöglich nicht nur ein wissenschaftlicher Befund über das Fehlen oder Vorhandensein von bestimmten Institutionen oder Prozeduren. Demokratie macht zudem ein gemeinsames gelebtes Gefühl von institutioneller Zurückhaltung sowie politischer und rechtlicher Praxis aus.

Ein solches Gefühl wäre kein diskursiver Joker, zudem eine konfliktbehaftete Sache. Steinkes Buch könnte man als Äußerung in diesem Deutungskonflikt der demokratischen Gesellschaft auffassen. Er teilt methodisch und ruhig Beobachtungen mit und die Schlüsse, die er daraus zieht. Man sollte es Steinke als demokratischen Akt hoch anrechnen, dass er nicht zum groben Sensationsbesteck greift und die gesamte Tätigkeit des Verfassungsschutzes oder sein Personal verunglimpft oder mit Dreck bewirft. Ebenso wenig unterstellt er pauschal böse Gesinnungen oder verteufelt die gesamte Arbeit des Dienstes. Stattdessen kommt er zu dem Schluss, dass der Verfassungsschutz ein Dienst ist, der keineswegs „nur lauscht“, sondern politisch mitmischt. Dabei sei er sehr wirksam, auch ohne physische Gewalt. Der Autor gesteht zu, dass die Grundidee der „wehrhaften Demokratie“, die immer wieder zur Verteidigung des Dienstes angeführt wird, etwas für sich hat. Gefährlich werde das, weil die Einschätzung von Gefährdungen für die Demokratie keine objektive Sache sei, sondern zwangsweise oder in der Praxis politisch, insbesondere, weil die Regierung die Zügel des Verfassungsschutzes in der Hand halte. Die Suche nach den Demokratiegefährdungen führe somit schnell zur Opposition, zumal die gerichtliche Überprüfung nicht mit den für Polizeiarbeit üblichen Standards vergleichbar sei. Also meint Steinke: Wo der Dienst illegale Aktivitäten überwache, sei dies dringend erforderlich, jedoch in einer modernen Demokratie in einen durch die Gerichte kontrollierbaren Bereich der Strafverfolgung und präventiven Polizeiarbeit zu überführen. Wo der Dienst jedoch legale Aktivitäten überwache und beeinflusse, sei dies ein Fremdkörper in einer im obigen Sinne demokratischen Gesellschaft und einzustellen.

Nach der Lektüre drängt sich eine der folgenden Reaktionen auf: Entweder man nimmt Steinkes Beobachtungen zur Kenntnis und kann diese mit dem eigenen Verständnis von Demokratie in Einklang bringen. Oder man hält die Beobachtungen für unvereinbar mit der verfassungsmäßigen Idee der bundesrepublikanischen Demokratie (wie Steinke). Oder aber man stellt die Wahrhaftigkeit seiner Beobachtungen in Frage.

Was dem öffentlichen Beleg zugänglich ist, belegt Steinke. Was er nicht belegt, dürfte mit Blick auf Quellenschutz etc. nicht dem öffentlichen Beleg zugänglich sein. Wenig überraschend: Journalismus ist Vertrauenssache, zu einem gewissen Grad müssen Lesende entscheiden, Vertrauen zu schenken oder zu entziehen.

Man muss nicht Jurist*in sein oder eine glühende Feindschaft zum Verfassungsschutz pflegen, um das Buch zu lesen. Es ist nicht außergewöhnlich dick und recht kurzweilig. Auch wer nicht Steinkes Meinung teilt oder sich in einem anderen politischen Spektrum wähnt, kann das Buch gut lesen. Es gibt Gelegenheit zum Nachdenken über das komplizierte Verhältnis von Demokratie und Geheimdiensten. Zudem erhält man einige Eindrücke und den Impuls sich als Demokrat zu fragen, wie die demokratische Verfassung (im doppelten Sinne) geschützt werden kann.

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