Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 242: Künstliche Intelligenz und Menschenrechte

Wie man einen Revisio­nisten nicht befriedet: Über Herfried Münklers Vorträge zum Ukrai­ne­krieg, die Doppel­kon­tin­genz von Appeasement und den Nutzen ausge­wo­genen Unmuts

Herfried Münkler zufolge befinden wir uns einer retrograden Anverwandlung an die Geschichte entsprechend gewissermaßen am Ende des Ersten Weltkriegs, der Europa mit Grenzziehungen und ethnischen Säuberungen einen Raum der Instabilität bescherte. Dies basiere im Ukrainekrieg vor allem einen Revisionismus Russlands. Veit Friemert geht Münklers Thesen zum Ukrainekrieg und dem Revisionismus wie auch einer Appeasement-Politik nach, ordnet und kritisiert Münklers Begrifflichkeiten und stellt sich die Frage, unter welchen Umständen (mit und gegen Münkler als public intellectual gelesen) Frieden möglich ist.

Wer den Untergang der Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz.

Wer sie wiederherstellen möchte, hat keinen Verstand.

Wladimir Putini

In der Diskussion um den Ukrainekrieg kann man beobachten, dass sich die streitenden Öffentlichkeiten schon dadurch unterscheiden, dass sie voneinander abweichende Argumentationsansätze benutzen oder präferieren: Menschen mit westlicher Sichtweise argumentieren eher mit Verweis auf universalistische Prinzipien, etwa dem Völkerrecht, den Menschenrechten, aber auch (primär für den Fall Weißrussland oder Russland) mit dem Verweis auf Bürgerrechte. Menschen, die der westlichen Sicht kritisch gegenüberstehen, argumentieren vorzugsweise historisch: mit Verweis auf die Vorgeschichte des Konflikts, mit Bezug darauf, wie denn alles gekommen ist. Herfried Münkler gehört dem ersteren Lager an, ist aber jemand, der sich auf die Geschichte einlässt, die er bis zum Endes des Ersten Weltkriegs zurückverfolgt. Diese retrospektive Einstellung ist interessant. Sie lässt uns nämlich, wenn wir hier Münkler folgen, erkennen, dass wir, indem wir zeitlich voranschreiten, zugleich in die Geschichte hinabsteigen.

Wir befinden uns, so lassen sich Münklers Bemerkungen zu Anfang seiner beiden Vorträgeii verstehen, einer retrograden Anverwandlung an die Geschichte entsprechend gewissermaßen am Ende des Ersten Weltkriegs, der Europa, gerade um das Schwarze Meer herum, mit Grenzziehungen und ethnischen Säuberungen einen Raum der Instabilität bescherte. Wir haben es, so Münkler, „mit einem Raum zu tun, der […] eine sehr konfliktträchtige Rolle im zwanzigsten Jahrhundert gespielt hat und jetzt wieder spielt“ (KA 23:55). Diese Konfliktzone hatte damalige Generationen mit dem faktischen oder drohenden Zerfall multiethnischer und multireligiöser Staaten konfrontiert, aber auch mit reaktiven Konsolidierungsversuchen ehemaliger Großreiche, die im Zeichen von Nationalismen erfolgten, die in diesen Zerfallsereignissen und Auferstehungsritualen aufloderten. Die Konsequenzen betreffen auch uns: Die Habsburger Monarchie zerfiel und hatte sich, so Münkler, im kleineren Maßstab Jugoslawiens (Klein-Habsburg) neu etabliert, bis sich dieses dann mit dem Untergang des Ostblocks (dem es ironischerweise gar nicht zugehörte) im Feuer nationalistischer Bürgerkriege verzehrte. Das Osmanische Reich zerfiel, reorganisierte sich als säkularer Staat unter der Führung des „Vaters der Türken“ (Atatürk) und versucht heute unter dem weniger säkularen, aber durchaus ambitionierten Ururenkel eine Hegemonierevanche. Russland, die nach dem Zerfall der Sowjetunion verbliebene Rumpfmacht, stellt mit dem Überfall auf die Ukraine, der dekretierten Eingemeindung dortiger Oblaste und der strategischen Unterordnung Weißrusslands gegenwärtige Landesgrenzen mit Verweis auf die Einheit der Groß-, Klein- und Weißrussen in nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Außengrenzen der Sowjetunion in Frage. (vgl. Putin 2021)

Nun ist es aber auch so, dass diese rückläufige Bewegung (gegen die Zeit) mit alldem erfolgt, was sich seitdem (in der Zeit) ergeben hat. Wir stehen damit, so Münkler, (gewissermaßen) nicht nur, wie am Ende des Ersten Weltkriegs den Revisionisten Russland, Türkei und Serbien gegenüber, sondern sind auch mit dem konfrontiert, was zwischenzeitlich an Instrumenten und Akteuren hinzugekommen ist: mit nuklearen Massenvernichtungs- und digitalen Multifunktionswaffen (von kulturindustriellen Unterhaltungstools bis zu Überwachungstechnologien, womöglich mit Künstlicher Intelligenz als demnächst verfügbarer Kopplungiii) sowie mit den USA und China als Weltmächten.

Das scheint mir der Rahmen zu sein, in dem Münklers zentrale Fragen stehen: was eine revisionistische Macht ist und wie sie sich befrieden ließe. Da es sich bei dem hier thematisierten Revisionisten um Russland handelt, mutet die Fragestellung nach dem 24. Februar 2022 anachronistisch an. Ich komme darauf zurück.

1. Begriffe

Zunächst möchte ich kurz auf die Terminologie eingehen: Münkler bestimmt eine revisionistische Macht als eine solche, die „den Status quo verändern will und das gegebenenfalls auch mit kriegerischen Mitteln zu tun bereit ist“ (KA 30:17). Gegen die Definition scheint zunächst nichts zu sprechen. Auf den zweiten Blick zeigt sich aber, dass revisionistische Macht bei Münkler wohl kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff ist, denn er kontrastiert den Revisionismus mit einer „Friedensordnung“ (KA 30:17). Die revisionistische Macht ist damit eine Friedensstörerin. Das ist eine begriffliche Weichenstellung, die er unter der Hand vornimmt. Ich halte das für problematisch, denn man kann fragen, ob eine revisionistische Macht per se eine Friedensstörerin sein muss, oder genauer formuliert: ob jede Status-quo-Störung zugleich Störung einer Friedensordnung ist. Ist es nicht auch denkbar, dass eine Macht den Status quo „gegebenenfalls auch mit kriegerischen Mitteln“ stört, um völkerrechtskonform gegen die Okkupation eigenen Territoriums zu opponieren? Wie etwa die Ukraine? Auch ein Status quo kann falsch sein. Oder Münkler setzt Frieden mit Status quo gleich. Dann wäre sein Begriff der revisionistischen Macht ein deskriptiver Begriff und der Revisionist ein Status-quo-Störer; ob zu Recht, wäre Thema einer anderen Diskussion. Da diese Diskussion aber im thematischen Rahmen des Ukrainekriegs erfolgt, glaube ich nicht, dass Münkler das meint. Es bleibt also dabei: Der Status des Begriffs der revisionistischen Macht ist unklar, was umso problematischer ist, als er für Münkler der Zentralbegriff ist, um den herum er seine gesamte Argumentation aufbaut.

Darüber hinaus sollte man den Begriff der revisionistischen Macht weiter differenzieren. Eine revisionistische Macht kann einerseits eine solche sein, die verlorenes politisches Terrain (siehe Putins Russland) zurückgewinnen möchte. Eine solche Macht kann man einen Revanchisten nennen. Andererseits kann man jene Macht, die in die Position eingerückt ist, die die andere verlassen musste (aber womöglich als Revanchist zurückzuerlangen trachtet), einen revisionistischen Profiteur nennen. Ich mache diese begriffliche Unterscheidung in der Vermutung, dass nach dem Ende des Kalten Krieges eine Verflüssigung der bis dahin geronnenen Ost-West-Entgegensetzung erfolgt ist – was bezweifeln lässt, ob es in diesem Zusammenhang überhaupt noch wirkliche Status-quo-Mächte gibt.

Münkler hat vermutlich Recht, wenn er Serbien als revisionistische Macht bezeichnet. Genauer formuliert ist Serbien wohl ein revanchistischer Akteur. Der revisionistische Profiteur im Sinne meiner obigen Unterscheidung ist hingegen der albanische Kosovo. Allerdings greift Münkler womöglich zu kurz, wenn er bezogen auf den Balkan allein Serbien an den Pranger stellt. Die Konstellation zweier albanischer Staaten – einer davon im Widerspruch zum Völkerrecht gegründet – in der Nachbarschaft Nordmazedoniens ist prekär: Ein Viertel der nordmazedonischen Bevölkerung ist ethnisch albanisch, die kosovarische UCK hatte den militärischen Konflikt 2000/01 über die dortige Staatsgrenze getragen und die Gegend um das nordmazedonische Tetovo destabilisiert. Die Mehrheit der albanischen Bevölkerung in Albanien, im Kosovo und in Nordmazedonien will ein Großalbanien, übrigens auch die jetzige kosovarische Regierungspartei Vetëvendosje. Es gibt, anders als Münkler meint, auf dem Balkan also nicht nur ein serbisches Pulverfass.

Diese begriffliche Differenzierung deckt das Feld möglicher Bezüge allerdings nicht ab: George W. Bushs Krieg gegen den Irak war nach Münklers Definition revisionistisch, aber die USA waren dabei weder ein Revanchist noch ein revisionistischer Profiteur. Zur Erinnerung: Alle meine Begriffsverwendungen sind deskriptiv. Normativ werden sie erst im Kontext des Völkerrechts: Bushs Irakkrieg war, Putins Ukrainekrieg ist völkerrechtswidrig. Kommen wir jetzt zu Münklers Gedanken, wie sich eine revisionistische Macht befrieden ließe.

2. Optionen

Er unterbreitet hierzu drei Vorschläge, die er „Optionen“ und „systematische Lösungen“ (BBAW 18:54) nennt. Man könne eine revisionistische Macht erstens durch Wohlstandstransfer zu pazifizieren suchen, zweitens durch Appeasement und drittens durch militärische Abschreckung.

2.1 Ökonomismus

Die Idee ist zunächst, dass der Westen Teile seines wirtschaftlichen Reichtums Ländern im Osten überlässt, um dort den Wohlstand zu heben. Man gibt wirtschaftlich etwas ab und erhält im Gegenzug Sicherheit, weil sich mit der Erfahrung kumulativer Prosperität der Revisionismus (Sehnsucht nach vergangener Größe, alte offene Rechnungen) folklorisiert und schließlich verschwindet. Dann meint Münkler damit aber auch Geschäfte auf Gegenseitigkeit: Der Westen liefert Technologie, und die Sowjetunion beziehungsweise Russland liefert Öl und Gas. Diese Option sei bezogen auf Russland gescheitert, weil Russland respektive Putin kein „kalkülrationaler Akteur“, kein „homo oeconomicus“ sei. War dann die Sowjetunion, die nie ihre Rohstofflieferungen in den Westen unterbrochen hatte, ein solcher? Warum ist die Option in Osteuropa, wie Münkler sagt, erfolgreich gewesen? Weil diese Staaten kalkülrationaler sind?

Das Problem mit Münklers erster Option ist, dass sie gar keine ist. Sie bietet, anders als er meint, kein „tragfähiges Konzept“ (KA 35:37), weil Geschäftsleute keine Politik machen. Sie machen Geschäfte. Münkler scheint hier auf das seit Beginn des Ukrainekriegs häufig wiederholte Formelkonzept „Wandel durch Handel“ anzuspielen, das bezogen auf Russland gescheitert sei – wobei interessanterweise langsam in Vergessenheit gerät, dass die Formel einmal „Wandel durch Annäherung“ hieß. Oder Münkler meint damit (quasi als Variante der Wandel-durch-Handel-These) jene politischen Kräfte, die glauben, mit Wirtschaftsbeziehungen ökonomische Hebel für politische Effekte in die Hand zu bekommen. Dann aber anzunehmen, dass es der anderen Seite an Kalkülrationalität fehlt, wenn sie das große Geschäft verschmäht, weil sie den politischen Braten riecht, der damit schließlich serviert werden soll, scheint nicht plausibel. Wird der anderen Seite auf diese Weise nicht das zum Vorwurf gemacht, was die eigene Seite hierbei fraglos für sich in Anspruch nimmt, nämlich politisch zu denken und zu handeln?

Warum aber war der Westen in Osteuropa, warum waren die Vereinigten Staaten im Westdeutschland der 1950er und 1960er Jahre erfolgreich? Es hat geklappt, weil in diesen Fällen der Wohlstandstransfer innerhalb eines politischen Rahmens erfolgte, in dem er überhaupt erst Sinn machen konnte. Münkler selbst erwähnt für die Bundesrepublik die Montanunion als Beginn der europäischen Gemeinschaftsbildung, die bis zur Europäischen Union führte, in die dann auch die Osteuropäer eingebunden wurden. Und was die Sowjetunion betrifft, so war diese wie ihr westlicher Gegner europabezogen eine Status-quo-Macht. Zudem war sie durch eine Vielzahl politischer Verträge gebunden (Moskauer Vertrag, Warschauer Vertrag und andere sogenannte Ostverträge, das Berlin-Abkommen sowie Rüstungskontrollverträge mit den Vereinigten Staaten). Der Status quo war damit aber ein politischer, kein ökonomischer. Es handelt sich somit um politische Prozesse und Bedingungen, die sich mit dem Transfer von Wohlstand nur ungenügend beschreiben lassen. Münkler scheint mir hier einen Teil fürs Ganze zu nehmen.

2.2 Appeasement

Bei Pazifizierung durch Appeasement denkt man, wie Münkler zu Recht betont, zuerst an Chamberlains Scheitern von 1938. Appeasement sei eine „janusköpfige Figur“ (KA 46:25), was schon das Wort sagt: to appease heißt besänftigen, aber auch beschwichtigen. Man kann auf sein Gegenüber besänftigend, Frieden suchend einwirken, andererseits es beschwichtigend vorerst Zeit gewinnen wollen, weil man glaubt, ihm momentan noch nicht entgegentreten zu können. So war Chamberlain mit dem Münchner Abkommen gescheitert, hatte damit aber Zeit, um genug Spitfires auf die Piste zu bringen.

Als Beispiel für das „gute“ Janusgesicht führt Münkler den Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel aus dem Jahre 1979 an. Einerseits trifft das die Sache, weil dieser Vertrag ein klassischer politischer Deal ist: Beide Staaten tauschen originär politische Güter: Frieden gegen Land. „Und die Oslo-Verhandlungen mit den Palästinensern sind nach demselben Modell geführt worden“, nur sei der Gütertausch da gescheitert, „aus vielerlei Gründen, unter anderem ist da wieder die historische Erinnerung dazwischengekommen“ (KA 44:10). Dem revisionistischen, also den Status quo verändern wollenden Akteur Ägypten wird die Revision hingegen gewährt. Das ist eine Abweichung von dem bei Option 1 diskutierten (und für Münklers Vorträge zentralen) osteuropäisch-russischen Fall. Denn bei dem ging es darum, dem Revanchisten den Revanchismus auszureden oder abzuhandeln. Man kann diesen Fall aber auch an den vorherigen anpassen, indem man sagt, dass der Revisionist Ägypten mit dem Friedensvertrag seinen ägyptischen Revanchismus vom panarabischen Revanchismus trennt.

Andererseits war den Israelis nach der Okkupation des Sinai 1967 der ägyptische Revanchismus so gleichgültig wie der panarabische. Egal war ihnen, ob Ägypten nun den Sinai zurückwollte oder die panarabische Bewegung ganz Palästina – hatte Israel die arabischen Armeen im Sechs-Tage-Krieg doch vernichtend geschlagen und mittlerweile begonnen, wie in der Westbank auch auf dem ägyptischen Sinai zu siedeln (dort 18 Siedlungen). Der entscheidende Punkt ist: Während für Ägypten das handlungsleitende Moment zum Friedensschluss der Ausgang des Sechs-Tage-Kriegs von 1967 war, war es für Israel der Beginn des Oktober- beziehungsweise Yom-Kippur-Kriegs von 1973. Israel hatte es da mit einem Gegner zu tun bekommen, dessen Überraschungsangriff den Eindruck einer existenziellen Gefahr vermittelte. Dass es zum Friedensschluss mit diesem potenziell eben doch gefährlichen Gegner kommen konnte, lag wiederum an der Tatsache, dass Sadat die panarabische Karte seines Vorgängers Nasser nicht mehr spielen wollte und sich in diesem Zusammenhang vom sowjetischen in den amerikanischen Orbit bewegte. Dieser Positionswechsel verschaffte dem Gütertausch auch einen Hüter, der an beiden Seiten stark interessiert war: die Vereinigten Staaten. Nennen wir diese Art der Pazifizierung durch Appeasement die Ölzweig-These.

Die „vielerlei Gründe“, derentwegen der Tausch Land gegen Frieden im israelisch-palästinensischen Verhältnis nicht zustande kam, sind schnell aufgezählt: Die palästinensische Seite war politisch schwach, der amerikanische Hüter an ihr weit weniger interessiert als an Ägypten. Mit der historischen Erinnerung, die dann „dazwischengekommen“ sei, spielt Münkler wohl auf palästinensische Aspirationen auf das ganze Palästina an. Erklärt sich dieser Revisionismus allein aus der Geschichtserinnerung „vergangener Größe“? Möglicherweise schafft jahrzehntelang erfahrene Ungerechtigkeit erst die Erinnerung einer Größe, die es nie gab. Ist die Ungerechtigkeit deshalb irrelevant? Aber auch auf zionistischer Seite gibt es (mittlerweile) eine geschichtliche Erinnerung. Sie hat nunmehr den Staat auf ihrer Seite, den seine politischen Theologen gegen innerweltliche Einsprüche immunisieren. Mit dem Sechs-Tage-Krieg haben sie Land erobert, das heilig bleibt.

Nun zum anderen Janusgesicht: Appeasement heißt hier – abweichend von der Frage, um die es Münkler eigentlich geht, nämlich der nach der Pazifizierung eines Revisionisten – gar nicht Frieden, sondern Krieg beziehungsweise dessen Vorbereitung. Nennen wir die Kriegsvorbereitung durch Appeasement die Spitfire-These. Der paradigmatische Fall dafür ist eigentlich nicht München: Denn Chamberlain wollte Hitler nicht beschwichtigen, sondern mit den Sudetengebieten besänftigen. Mit seiner Rückkehr nach London glaubte er Hitlers Ölzweig in der Hand zu halten und hatte doch nur eine Verzögerung bewirkt. Die Hurricanes und Spitfires, die dank Chamberlains Selbstbeschwichtigung in der Zwischenzeit produziert werden konnten, waren nicht das beabsichtigte Resultat einer klugen Doppelstrategie, sondern produktives Resultat eines Scheiterns. Mit ihnen gewann Großbritannien die Luftschlacht um England.

Der paradigmatische Fall für die Spitfire-Variante ist nicht München, sondern Minsk II. Der Beginn beider Kriege wird durch das Scheitern von Verträgen flankiert, wobei mir allerdings München für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges weit weniger relevant zu sein scheint als Minsk II für den des Ukrainekriegs.

Hitler war Chamberlains Vertragswilligkeit, wie Sebastian Haffner (2006: 51)iv belegt hat, eher unlieb, wollte er sein militärisches Abenteuer doch nicht zuletzt mit der Widerspenstigkeit von Chamberlain und Daladier plausibilisieren. München war ein Köder, den beide verschmähen sollten. Chamberlain glaubte, Land gegen Frieden getauscht und schien doch nur Zeit für Land erhalten zu haben. Und das Land, das er eintauschte, war nicht das seine. Auch die knapp bemessene Zeit hatte er nicht getauscht, sondern nur geteilt. Denn diese Zeit hatte auch Hitler. Immerhin hatte Chamberlain damals angebissen und war damit Hitler an der Angel.

München und Minsk II haben gemeinsam, die (quasi-)paradoxale Logik von Appeasement transparent zu machen. Bei Münkler klingt sie in folgenden Worten an:

„Das Minsker Abkommen, also die Verhandlungen im Normandie-Format, waren eine Form von Appeasement, vielleicht nicht in dem Sinne einer vollen, völkerrechtlich ins Gespräch gebrachten Anerkennung des Besitzes der Krim, der nach Russland übergegangen ist, aber sozusagen in einer Quasi-Art der Akzeptanz dessen – aber dafür sozusagen Stillstellung der Separatistengebiete. Wenn wir das mal annehmen, dann hat auch das auf Dauer nicht funktioniert – sei es, weil die ukrainische Seite es nicht hinnehmen wollte, sei es, weil es den Russen zu wenig war. Das lassen wir einmal hintangestellt. Aber das Zeitgewinnen hat sehr wohl eine Rolle gespielt. Denn ohne die Umorganisation der ukrainischen Streitkräfte und ihrer Aufrüstung durch die USA, die ja stattgefunden hat, wäre die ukrainische Armee nach dem 24. Februar nicht in der Lage gewesen, in dieser Weise zu kämpfen.“ (KA 45:05)

In Appeasement kann Ego die Chance zum Krieg sehen, Alter aber die Chance zum Frieden. An die glaubt Alter, solange er glaubt, dass auch Ego darin die Chance zum Frieden sieht. Ego hingegen sieht in Alters Glauben und in diesem geglaubten Glauben Egos seine Chance zum Krieg. Alter wird an der Chance zum Frieden aber dann zweifeln, wenn er Grund zu haben glaubt, dass Ego damit die Chance zum Krieg verbindet, selbst wenn Ego sie damit nicht verbinden sollte. Münkler vermutet wohl zurecht, dass im fraglichen Fall auf beiden Seiten die Chance zum Krieg überwog: Minsk II war Russland zu wenig, der Ukraine zu viel. Letztere nutzte das Abkommen, um mit Hilfe des Westens aufzurüsten. Für das Scheitern wäre es aber gar nicht erforderlich gewesen, dass es Russland zu wenig war; es hätte gereicht, dass es die ukrainische Seite nicht hinnehmen wollte. Oder umgekehrt.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Um beide Seiten beim Ölzweig zu halten, war das Normandie-Format vermutlich ein zu schwaches Rahmenwerk. Womöglich waren Frankreich und Deutschland als Hüter schlechtweg überfordert, während die Ukraine die Zwischenzeit nutzend sich von den USA und Großbritannien als Garantiemächten des Budapester Memorandums, das Russland mit der Besetzung der Krim gebrochen hatte, gewissermaßen die Spitfires liefern ließ. Das lässt dann auch gemäß der Logik von Appeasement daran zweifeln, dass die Vereinigten Staaten und Großbritannien überhaupt daran interessiert waren, Frankreich und Deutschland in ihrer Hüterrolle beizustehen – zumal es auf die USA angekommen wäre, was heißt, dass ohne sie daraus nichts werden konnte.

2.3 Abschre­ckung

Münklers dritte Pazifizierungsidee lautet deterrence, Abschreckung. Mit Appeasement qua Spitfire hat sie die Kriegsvorbereitung gemeinsam. Der Unterschied zwischen Abschreckung und Appeasement besteht darin, dass erstere einerseits öffentliche Kriegsvorbereitung meint – also etwas, das Appeasement arglistig unterlässt –; andererseits den Krieg durch Vorbereitung auf ihn gerade zu vermeiden trachtet. Das Problem für den Westen besteht, so Münkler, erst einmal darin, dass Abschreckung erhebliche Kosten verursacht. Interessanter ist in unserem Zusammenhang aber das, was er hier „Sicherheitsdilemma“ nennt: Der Westen investiere mit Abschreckung in etwas,

„um bei der anderen Seite den Preis für militärische Operationen zu erhöhen. Aber die andere Seite begreift das natürlich nicht als eine defensive Handlung, sondern als eine offensive Handlung, fühlt sich bedroht und rüstet ihrerseits auf. Und dann muss man selber noch weiter aufrüsten und so gerät man in das hinein, was man diese Rüstungsspiralen nennt. Die kann man begrenzen, indem man Rüstungsbegrenzungsverhandlungen führt und die auch zum Abschluss bringt. Aber das hat eine heikle Voraussetzung, die nicht selbstverständlich ist, nämlich Vertrauen in die Gegenseite. […] Und wenn tatsächlich ein anderer Akteur da ist, dem man misstraut, Putin, wer kann dem im Augenblick vertrauen, nach den Erklärungen, die er vor dem 24.2. abgegeben hat, da kann man eigentlich auch keine Rüstungsbegrenzungsverhandlungen führen.“ (KA 50:35)

Das Dilemma, das Münkler zutreffend beschreibt, lässt sich idealtypisch als handlungslogische Eskalationsparadoxie begreifen: Pazifizierung als Abschreckungshandlung wird von Alter als Offensivhandlung verstanden, auf die er dann offensiv reagiert, was Ego dann wiederum, in seinem Misstrauen bestärkt, weiter aufrüsten lässt. Die prekäre Voraussetzung des Vertrauens in die Gegenseite zwecks Begrenzung der Rüstungsspirale wird mit jeder Drehung prekärer, das heißt unwahrscheinlicher. Die Paradoxie: Der Logik dieser Handlungsweise entsprechend ist der Weg zum Frieden der zum Krieg, wobei der Weg zum Krieg der zum Frieden sein sollte. Wir haben hier, wie im Falle von Appeasement, das soziologische Phänomen doppelter Kontingenzv bei Abwesenheit des Dritten in der Funktion des Hüters. Münkler hat mit seiner Bemerkung aber auch unrecht. Denn das Misstrauen ist nicht allein Putins Wortbruch geschuldet, wie schwer dieser auch wiegt, sondern wohnt bereits der Logik der Abschreckung inne.

Münklers drei Optionen sind letztlich nicht wirklich überzeugend: Option 1 (Handel durch Wandel oder Wohlstandstransfer) ist keine politische Option, sondern bedarf ihrer politischen Einbettung, die Münkler aber, soweit ich sehe, nicht diskutiert; Option 2 (Appeasement) kann das Problem der doppelten Kontingenz nicht lösen; und Option 3 treibt dieses zum Paradox. Auch ist Münklers zentrale Frage, wie man eine revisionistische Macht befrieden kann, nunmehr, nach Ausbruch des Ukrainekrieges (wie oben bereits gesagt), eigentlich anachronistisch. Sie fragt den Ereignissen hinterher. Hier zeigt sich nun auch der eingangs erwähnte argumentationslogische Ort für Münklers Hinwendung zur Geschichte: Angesichts dessen, dass spätestens mit der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 die Pazifizierung der revisionistischen Macht gescheitert ist, wird aus der hypothetisch prophylaktischen Frage, wie man eine revisionistische Macht befrieden kann, die retrospektiv anamnetische Frage, warum die revisionistische Macht nicht hat befriedet werden können. Steigen wir also selber in die Geschichte hinab.

3. Chancen

Gab es Appeasement als Ölzweig zum Wohlstandstransfer? Ja, und zwar schon 1972 aus der Kälte des Kalten Kriegs kommend mit dem ABM-Vertrag zur Begrenzung von Defensivwaffen und dann später mit dem INF-Vertrag zur Vernichtung landgestützter Nuklearraketen mit kürzerer und mittlerer Reichweite, der 1988 ratifiziert wurde. Nach dem Fall der Berliner Mauer folgte im November 1990 in der Charta von Paris im Rahmen des KSZE-Prozesses die Erklärung, dass die Teilung Europas überwunden sei und eine europäische Sicherheitsordnung demokratischer Staaten auf der Grundlage der Wahrung „von Menschenrechten und Grundfreiheiten“ aufgebaut werden solle. Betont wurde auch die sicherheitsbildende Rolle von Abrüstung und in diesem Zusammenhang der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) begrüßt. Hier wurden Obergrenzen für die Anzahl schwerer Waffen „from the Atlantic to the Urals“ festgelegt (ATTU-Zone), was zu einer erheblichen Reduktion der Waffenbestände führte. Es gab sie also bereits, die Rüstungsbegrenzungsverhandlungen, die zum Abschluss zu bringen Münkler für so schwierig erachtet.

Das ist aber noch nicht alles: Der KSE-Vertrag bedurfte der Anpassung, weil mittlerweile die Präsenz zweier Militärblöcke, die er voraussetzte, mit der Auflösung des Warschauer Pakts nicht mehr gegeben war. In der NATO-Russland-Grundakte von 1997 wurde deshalb beschlossen, die KSE-Vereinbarung durch ein KSE-Anpassungsabkommen (AKSE) zu ersetzen, das dann 1999 beim Istanbuler OSZE-Gipfeltreffen durch die KSE-Vertragsstaaten unterzeichnet wurde. Zeitgleich erfolgte die Verabschiedung der Europäischen Sicherheitscharta, die unter anderem „das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht“ festschrieb, „seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen“, andererseits aber auch betonte, dass die Teilnehmerstaaten „ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen“ sollten, weil „keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität im OSZE-Gebiet zu[kommt] als anderen“vi. Auch könne keine Staatengruppe oder Organisation „irgendeinen Teil des OSZE-Gebiets als seinen/ihren Einflussbereich betrachten“. Diese Passagen sind interessant, weil hier einerseits Einzelstaaten Bündnisrechte zugestanden, andererseits Allianzen Rücksichtspflichten gegenüber Drittstaaten abverlangt werden.vii

Man könnte nun in der Entgegensetzung von Bündnisrechten bezogen auf Allianzen und Rücksichtspflichten von Allianzen bezogen auf Dritte einen Konfliktherd sehen, wenn nämlich der Beitritt eines Landes zu einer Allianz dazu angetan ist, von einem weiteren, nichtalliierten OSZE-Staat als machtpolitische Beeinträchtigung verstanden zu werden. Zwingend ist die Befürchtung aber nicht. Denn das Recht des Kandidaten ist kein Recht auf Aufnahme, sondern das Recht zu kandidieren; ihm korrespondiert also nicht die Pflicht des Bündnisses – im Klartext: der NATO – ihn aufzunehmen. Die NATO interessiert die sicherheitspolitischen Belange des Kandidaten erst einmal gar nicht, ist sie doch laut Präambel sowie Artikel 3, 5 und 6 des Nordatlantikvertrags vom 4. April 1949 ein sicherheitspolitisches Bündnis auf Gegenseitigkeit, zu dem der Kandidat definitionsgemäß nicht gehört. Mit Blick auf das Istanbuler Treffen könnte man zugespitzt formulieren: Das Bündnis interessiert – neben der eigenen Sicherheit – die Sicherheit interessierter Anderer nur in dem Maße, in dem diese ihm, dem Bündnis, nützt und die Dritter nicht gefährdet.

Das KSE-Anpassungsabkommen ist von den USA unter George W. Bush nicht ratifiziert worden, die übrigen NATO-Mitglieder sind dieser Entscheidung gefolgt. Als Gründe für diese Weigerung wurden Verpflichtungen bezogen auf Georgien und Transnistrien vorgebracht, die Russland auf dem Istanbuler Treffen eingegangen, denen es aber nur in Teilen nachgekommen war. Die Absage des Westens gilt Gerhard Mangott und Wolfgang Richter, Kennern der Materie, die jeglicher Russlandnähe unverdächtig sind, als überzogen oder als (mit Münkler gesagt) „kalkülrational“: Mit der Weigerung, AKSE zu ratifizieren, eröffneten sich der NATO Stationierungsräume an russischen Grenzen, nämlich in den baltischen Staaten, der Ukraine und in Georgien, für die es kein verbindliches Reglement mehr gab, weil sie im KSE-Rahmen als Staaten nicht existierten. Und so diente die Forderung selber, nämlich russische Truppen aus Transnistrien und Georgien abzuziehen, offensichtlich dazu, den NATO-Beitritt Georgiens und der Ukraine vorzubereiten. Ferner entledigte die Demissionierung des KSE-Vertrags die Vereinigten Staaten der Konsultationspflichten hinsichtlich der Stationierung „rotierender“ amerikanischer Truppenkontingente in den Flankenstaaten Rumänien und Bulgarien, die 2007 erfolgte. (Richter 2022: 6)

Die Ölzweig-Variante von Appeasement fand im Jahr 2008 ihr Ende, wofür sich verschiedene Ereignisse anführen lassen: Bekannt ist der schon erwähnte NATO-Gipfel vom 2. bis 4. April in Bukarest (auf dem übrigens auch Putin anwesend war), der der Ukraine und Georgien eine NATO-Perspektive eröffnete. („We agreed today that these countries will become members of NATO.“) Am 16. April des Jahres verordnete Putin, offizielle Beziehungen zu den abtrünnigen georgischen Gebieten Abchasien und Süd-Ossetien aufzunehmen. Das ist nicht nur als eine Reaktion auf den Gipfelbeschluss zu verstehen, sondern auch auf die von Bush begrüßte Unabhängigkeitsdeklaration des Kosovo (vom 17. Februar 2008). Mit der Unabhängigkeit des Kosovo und der Unterstützung seitens der Vereinigten Staaten wurden, wie Richter (2022: 7) betont, „erstmals seit der Charta von Paris Grenzen in Europa nach vorheriger Gewaltanwendung und ohne Zustimmung des [UN-]Sicherheitsrates verändert“. Mit der Verletzung der Souveränität Georgiens (die später im Jahr mit dem kurzen Georgienkrieg ihre Fortsetzung fand) antwortete Russland auf die Völkerrechtsverletzung der Souveränität (Rest-)Jugoslawiens. Das wird zum Muster: Putin greift die Ukraine an und antwortet damit (aus seiner Perspektive) auf den Angriffskrieg der USA gegen den Irak. Muster heißt: Russland sieht in den Revisionismen des Westens die Berechtigung zur Revanche mit analogen Mitteln. Indem Russland 2022 New Start, den letzten großen Abrüstungsvertrag, aussetzte, antwortete es ebenfalls auf Aufkündigungen der USA: den Ausstieg aus dem ABM-Vertrag 2002 durch Bush, den Ausstieg aus AKSE durch Nichtratifizierung durch Bush, den aus dem INF-Vertrag 2018 durch Donald Trump und dem Ausstieg aus Open Skies 2020 durch Trump.

4. Retro­spek­tive 1

Warum hat die revisionistische Macht Russland nicht befriedet werden können? Im November 2022 hat Münkler in einem weiteren Vortrag (vor dem Schweizerischen Institut für Auslandforschung) versucht, dies zu erörtern. Er fragt dort, warum die „Staatsräson der Bundesrepublik, ihre Sicherheitspolitik eher auf wirtschaftlicher Macht […] zu gründen als auf militärischen Potentialen“, dann am 24. Februar 2022 „sozusagen unter die russischen Panzerketten gekommen“ sei (SIAF 21:39). Die Antwort darauf gibt dann schon der Titel des Vortrags: Erwachen in der Wirklichkeit. Deutschland in Europa.

Wer geschlafen hat, ist klar. Deutschland habe „offenbar einen schönen Traum“ geträumt. Es handele sich dabei um die „freundliche Variante dessen“, was „im Allgemeinen als die Naivität der letzten zehn Jahrzehnte“ bezeichnet werde (SIAF 15:35ff.). Münkler diagnostiziert für Deutschland somit einen hundertjährigen Schlaf des politischen Verstands. Fragt man, welche Ereignisse diese deutsche Geschichtskontinuität bilden, wird man nicht recht schlau: Begonnen habe alles 1922 mit dem „Projekt Rapallo“, „geopolitisch von Karl Haushofer und anderen gedacht“ (SIAF 27:00). Nun war aber Rapallo keine deutsche Einfalt, sondern der pragmatische Deal der europapolitisch ausgegrenzten Staaten Deutschland und Sowjetunion. Haushofer hingegen hatte wirklich geträumt, insofern nämlich, als die Sowjetunion in Haushofers auf Japan orientiertem eurasischem Projekt eine eher nachgeordnete Rolle zukommen sollte. Das war in der Tat naiv, denn schon zu Lebzeiten Haushofers irrelevant. Relevant hingegen war das Ribbentrop-Molotow-Abkommen – Appeasement auf Gegenseitigkeit in der Spitfire-Variante. Dafür, dass dann nach 1945 die Westdeutschen eingeschlafen seien, spricht auch nicht viel – nämlich nicht die Vielzahl von Altnazis, die bei weltanschaulichen Schnittmengen von Antikommunismus und Russophobie von der amerikanischen Besatzungsmacht problemlos in den westdeutschen Staats- und Sicherheitsapparat übernommen werden konnten. Geschlafen haben die Deutschen also weit weniger, als Münkler meint. Beginnt Westdeutschland dann erst mit Willy Brand und Egon Bahr gefährlich zu träumen, oder dann gar das geteilte Gesamtdeutschland?

Münklers geschichtliche Herleitung scheint nicht besonders überzeugend. Er möchte die Gegenwart aus der Geschichte heraus erklären, was ihm aber nicht wirklich gelingt. Denn die fragliche Gegenwart ergibt sich ihm aus einer teleologischen Chronologie, mit der er Deutschland fortwährend über die mangelnde russische Kalkülrationalität hinwegträumen sieht. Den Defiziten, die Münkler Russland und Deutschland bescheinigt, korrespondiert die Unschärfe seiner eigenen Pazifizierungskonzeption. Diese oszilliert zwischen einem (unpolitischen) Ökonomismus wirtschaftlicher Anreizkultur und einer (politischen) Abschreckungsoption, die die Unwägbarkeit des doppelt kodierten Appeasement nicht los wird.

5. Streit­ob­jekt

Die Ukraine ist der Zankapfel zwischen dem Westen und Russland. Für die westliche Seite kann man hier an Zbigniew Brzeziński erinnern, für den die Ukraine wesentlicher Teil einer von ihm „demokratischer Brückenkopf“ genannten ostpolitischen Containment-Architektur war: Brzeziński (1997: 57ff.) versteht die Ukraine als Russlands Tür zum Westen, weshalb es darauf ankomme, auf wessen Seite die Ukraine steht. Steht sie auf Seiten Russlands, wird der russische Einfluss auf Europa unkontrollierbar, steht sie auf Seiten des Westens, ist dieser Einfluss unter Kontrolle. Brzeziński war kein einsamer Rufer in der Wüste. Bereits am 18. September 1996, also etwa ein Jahr vor der Publikation seiner These, forderte der US-Kongress in der Resolution 120 („Zur Unterstützung der Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine“), die Ukraine möge wie die anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion dem Entstehen einer jeden politischen oder militärischen Organisation entgegentreten, die geeignet sei, die Wiedervereinigung der Staaten der früheren Sowjetunion zu befördern (§ 11), und stattdessen die militärische Zusammenarbeit mit der NATO ausbauen (§ 13)viii. Wenn Münkler dann auf Putins These von 2005 (also neun Jahre nach der Kongress-Resolution) verweist, der Zerfall der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen (SIAF 28:45), so formuliert er dazu nur den Kontrapunkt.

Für Putins Zankapfel-Variante wiederum braucht man nur an seine nationalistische Großerzählung von der geschichtlichen Einheit der Russen und Ukrainer vom Juli 2021 erinnern, der er dann am 21. Februar 2022 ein Update folgen ließ, in dem er die Beliebigkeit ukrainischer Außengrenzen unterstrich, die er schließlich drei Tage später völkerrechtswidrig zu revidieren begann. Darüber hinaus hat der frühere Präsident Medwedjew vor nicht allzu langer Zeit die Ukraine zum Missverständnis erklärt, zu einem „Land 404“ (nach dem http-Statuscode für einen defekten Link), an dem Russland keinen Bedarf habe. Was Russland hingegen brauche, sei ein Groß-Russland („Нам нужна Большая Великая Россия“).ix Es scheint, dass Putin mit seinem Angriff vom 24. Februar 2022 Brzezińskis Tür zum Westen zugeschlagen hat – innerhalb der Ukraine.

Es gibt die deutschlandpolitische These, im Kalten Krieg sei es den Kontrahenten lieber gewesen, über das halbe Deutschland ganz zu verfügen, als über das ganze Deutschland halb. Dem entsprach die deutsche Teilung als Teil des Kalten Krieges. Die Teilung erfolgte als Einvernahme des jeweiligen deutschen Teils, als dessen Remilitarisierung – nachdem dort gerade abgerüstet worden war. Die These lässt sich aber auch als Pazifizierung begreifen, und zwar im zweifachen Sinne. Denn erstens wurde mit dieser Teilung ein Staat pazifiziert, der sich gerade als weltkriegerischer Revisionist geoutet und seine Niederlage quittiert hatte. Zweitens war die deutsche Teilung auch Teil einer Deeskalationsstrategie, nämlich den neuen Systemkonflikt kalkulierbar, den Kalten Krieg kalt zu halten. Hätten beide Weltmächte das ganze Deutschland ganz haben wollen, wäre der Kalte Krieg heiß, zum Dritten Weltkrieg geworden. Die Berliner Mauer war so gesehen nicht der zu Politik geronnene Panzerzug der Revolution, wie es bei Heiner Müller (1985) revolutionsromantisch heißt, auch nicht das Schandmal eines kommunistischen Unrechtsregimes, wie die andere Seite meint, sondern das Symbol der nüchternen Übereinkunft, es lieber bei einem Teil zu belassen.

Über das halbe Deutschland ganz verfügen zu wollen statt über das ganze Deutschland ganz war vernünftig. Hätte die Alternative gelautet (siehe die Stalinnote von 1952), über das ganze Deutschland halb verfügen zu wollen, wäre das nicht weniger rational, denn auch damit wäre der große Krieg nicht riskiert worden. Bedeutet hätte dies eine gesamtdeutsche Neutralität als Teil einer mitteleuropäischen Pufferzone, mit Österreich im Süden und Finnland im Norden als Schicksalspartnern und Schweden und der Schweiz als historischen Vorläufern. In diesem Sinne hatte Henry Kissinger 2014 in der Washington Post der Ukraine empfohlen, sich an Finnland zu orientieren: „Internationally, they [the Ukrainians] should pursue a posture comparable to that of Finland. That nation leaves no doubt about its fierce independence and cooperates with the West in most fields but carefully avoids institutional hostility toward Russia“x.

Wenn ich hier den Vergleich zur deutschen Teilung aufmache, so nicht im Sinne einer vollständigen Parallelisierung mit dem Fall Ukraine, wie man sie von Putin kennt, der in ihr einen neuen Nazi-Staat verstehen will, der sein Existenzrecht verwirkt hätte. Der Ukraine kommt hingegen wie früher dem Deutschland der Nachkriegszeit eine Schlüsselrolle bei der Frage zu, wie man global- und regionalpolitische Konflikte bewältigen könnte. Auch wenn Russland der Aggressor ist und es falsch wäre, diese Invasion als Zwangsläufigkeit einer Erpressung seitens des Westens zu verstehen, lässt sich doch am ukrainischen Fall der Revisionismus beider Seiten, des westlichen und des russischen, zeigen.

Beide wollen letztlich die ganze Ukraine ganz, was nun Krieg bedeutet. Das betraf nicht nur die NATO-Frage, sondern auch das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine, das „sowohl die USA und die EU […] als auch Russland“ 2013 zum „geopolitischen Entweder-Oder hochstilisierten“, wie Günter Verheugen (2014) in einem im Spiegel veröffentlichten Brief an Helmut Schmidt schrieb. „Mit Russland wurde schlicht nicht darüber geredet, was die Assoziierung der Ukraine (und anderer) politisch und wirtschaftlich bedeutet.“ Hätte es einerseits eine gegenseitige Übereinkunft in dieser Frage gegeben, andererseits eine Zurückhaltung der NATO (die bekanntermaßen George F. Kennan und Kissinger verlangt hatten), so hätte dies jeder der beiden Konfliktparteien bedeutet, sich darauf zu beschränken, über die ganze Ukraine nur halb zu verfügen. Als dann 2014 die Krim erobert wurde und im Donbass sogenannte Volksrepubliken entstanden, konnte man darin die Entscheidung Putins sehen, über die halbe Ukraine aus der Befürchtung heraus ganz zu verfügen, der Westen wolle über die ganze Ukraine ganz verfügen. Die Ähnlichkeit zu den obengenannten eskalatorischen Unwägbarkeiten von Münklers Abschreckungsstrategie scheint mir augenfällig.

6. Retro­spek­tive 2

Dass man bezogen auf den Ukrainekrieg lieber darüber redet, wie denn alles gekommen ist als über universalistische Prinzipien, kann verschiedene Gründe haben.

Man kann diese Prinzipien für irrelevant halten, weil man glaubt, dass Rechtsgrundsätze, die im Unterschied zu moralischen Grundsätzen sanktionsbewehrt sein müssen, in Abwesenheit eines Weltstaats ihren Ort allein in Einzelstaaten haben. Universalistische Prinzipien sind dann höherer Blödsinn, der Bentham’sche Unsinn auf Stelzen, mit denen man von oben her nach vorne schauend unbeirrbar über die Unebenen der Geschichte stakst. Eine retrospektive Orientierung, sprich, eine an der Geschichte, ergibt sich demgegenüber insofern, als das fragliche Gewaltmonopol des Staates seine Legitimation aus der eigenen Geschichtserzählung, der Tradition bezieht. Diese narrative Sicht kann man umstandslos zum nationalistischen Mythos ausbauen. Man braucht dafür nur den Gegenstand der Geschichte zu variieren, die Geschichtserzählung von der des Staats zu der des Staatsvolks umzuschreiben – womit tendenziell Subjekt und Objekt der Erzählung, Erzähler und Erzähltes, verschmelzen. Das ist in etwa das Strickmuster von Putins Großerzählungen: Er meint damit einen traditionsimprägnierten Demokratismus zu kreieren, den er gegen liberaldemokratische Konzepte in Stellung bringt, die jene universalistischen Prinzipien enthalten.

Man kann von der Bezugnahme auf diese Prinzipien aber auch Abstand nehmen, ohne sie für irrelevant zu halten. Es gibt hier zunächst die Strange-Bedfellows-These: Man befürchtet, sich in Fragen des Ukrainekriegs durch Verweis auf diese Prinzipien mit den USA gemein zu machen, denen man eine Hüterrolle jener Prinzipien nicht zutraut, sondern ein instrumentelles Verhältnis zu diesen nachsagt. Der Zweite Irakkrieg der Vereinigten Staaten hatte in Joe Biden, dem gegenwärtigen Präsidenten, einen seiner Befürworter. So liegt der Verdacht nahe, dass im Vergleich beider Fälle oft Gleiches ungleich behandelt wird. Erstaunlicherweise ist Münkler dieser Irakkrieg in seinen langen Ausführungen nur eine knappe kryptische Formulierung wert: wenn er nämlich betont, die USA seien damals „anderweitig beschäftigt“ gewesen – „ob das gut oder dumm war, ist eine andere Frage“ (KA 20:14), also eine solche, die hier offenbar nichts zur Sache tut. Allerdings ist die hier diskutierte Sache die russische Invasion der Ukraine und der Vergleich mit dem amerikanischen Irakkrieg durchaus geboten. Wieso lässt der Krieg gegen die Ukraine die grüne Außenministerin Annalena Baerbock von einem „Zivilisationsbruch“ sprechen, womit sie eine Assoziation zu Auschwitz herstellt (Diner 1988: 9), während es ihr damaliger Amtskollege und Parteifreund Joschka Fischer damals dabei belassen hatte – und Münkler folgt ihm hier–, den Irakkrieg der Amerikaner nicht überzeugend zu finden (Fischer: „not convinced“)? Die Strange-Bedfellows-These ist eine These über Doppelmoral.

Schließlich kann man diese Prinzipien akzeptieren, aber von einer gegenwärtig offenbar hegemonialen Lesart Abstand nehmen. Diese zeigt sich insbesondere in verschiedenen politisch hochkarätigen Polemiken gegen das Schwarzer/Wagenknecht-Manifest für den Frieden. Was in dem Manifest offen artikuliert wird, ist ein Gefühl existenzieller Bedrohung. Überraschenderweise erregt das mittlerweile Argwohn. Noch 1981 konnte sich Willy Brandt (SPD) nach dem NATO-Doppelbeschluss in diesem Gefühl wiedererkennen: „Ich identifiziere mich mit denen, die ein Gefühl existentieller Bedrohung haben: Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ (Brand 2002) Später hatte das Zitat dann Brandts Weggefährte Egon Bahr (SPD) aufgegriffen und dabei die Güterabwägung unterstrichen, die Brandt vorgenommen hatte: „Freiheit, Demokratie ist nicht mehr relevant, wenn es nicht gelingt, den Frieden zu bewahren, das heißt, den Frieden als oberstes Kriterium für den Fortbestand der Menschheit zu sehen“ (Bahr/Hatting 2013).

Mittlerweile erregt es hingegen Unmut, zwischen Frieden und Freiheit unterscheiden zu wollen. Nur so ist, wie mir scheint, Münklers Invektive (im Kölner Stadt-Anzeiger vom Februar 2023) zu verstehen, das Manifest von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer sei „verlogen“ und „kenntnisloses Dahergerede“, der dort vertretene Pazifismus „nicht[s] anderes als Unterwerfungsbereitschaft“xi. Er trifft sich dabei mit Baerbock, die am 10. Februar 2023 vor der Landeswahl in Berlin mit Blick auf die Mauergeschichte der Stadt ihrer Anhängerschaft sagte, „gerade in dieser Stadt wissen wir, dass Frieden nicht nur bedeutet, dass die Waffen schweigen, sondern dass Menschen frei ihre Meinung sagen können“ (Baerbock 2:55). Was früher Alleinstellungsmerkmal des interventionistischen Neokonservatismus à la Reagan war, teilen heute offenbar auch wertebasierte Grüne wie Baerbock und findet mit Münkler Zustimmung im Lager des außenpolitischen Realismus: Nichtwestliche Staaten sind dieser Lesart zufolge letztlich unfriedlich – nach innen und außen.

Was sagt uns der Blick zurück über die Zukunft? Er erinnert uns daran, dass Ereignisse Ursachen haben, die durch diese (gegenwärtigen) Ereignisfolgen Handlungsspielräume bedingen. Nun haben moderne Gesellschaften komplexe Zeitstrukturen, das heißt solche mit einer Vielzahl einander ausschließender zukünftiger Gegenwarten, die modo futuri exacti, im Modus vorerinnerter Handlungen abgewogen und selegiert werden müssen. Selektion ist der Abbau überschüssiger Möglichkeiten, ist „Defuturisierung“ (Luhmann) mit dem Ziel, auch zukünftig selegieren und weiterhandeln zu können.xii Der Spielraum temporaler (diachroner wie synchroner) Handlungsanschlüsse hat sich mit dem Ukrainekrieg dramatisch verengt, dieser hat die gegenwärtige Zukunft in den Bereich zunehmenden Risikos bei reduzierten Handlungsoptionen verschoben. Der Blick zurück eröffnet vertanen Möglichkeiten wohl keine zweite Chance.

7. Schluss

Kissinger, der in Vorfeld dieses Kriegs vor einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine gewarnt hatte, (Kissinger 2014) plädiert jüngst (am 17. Januar 2023 auf dem Weltwirtschaftsforum) für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Dies sei kein Sinneswandel, sondern, wie er betont, einem Wandel der Umstände geschuldet. Er bleibt bei der Richtigkeit seiner damaligen Warnung vor eine NATO-Mitgliedschaft, weil er befürchtete, die NATO-Integration werde genau zu den Vorgängen führen, die wir heute beobachten (Kissinger 13:18).

Jetzt sei die Idee einer neutralen Ukraine nicht mehr haltbar („no longer meaningful“). Kissinger meint nun, es solle ein Waffenstillstand geschlossen werden, der von den Grenzen von vor der Invasion („along the lines of invasion“) auszugehen habe – die dann aber nicht zwangsläufig das Ergebnis von Folgeverhandlungen sein müssten. Die Sicherheit der Ukraine sei letztlich von der NATO zu garantieren, in welcher Form die NATO dies auch immer bewerkstelligt, wobei er aber glaube, die Mitgliedschaft der Ukraine wäre ein angemessenes Ergebnis („an appropriate outcome“). Zugleich müsse verhindert werden, dass im Fortgang des Kriegs neue Streitfragen entstehen, die einen Waffenstillstand weiter erschweren, dass der Krieg zu einem Krieg gegen Russland selbst werde, dass Russland zerstört werde, mit der Folge von Bürgerkrieg und Intervention in einem Land mit einem immensen Arsenal an Nuklearwaffen. Deshalb plädiert er für die Fortsetzung des Dialogs schon bei Fortdauer der Kriegshandlungen. Russland müsse letztlich in ein internationales System eingebunden werden. In seiner Westorientierung sei Russland immer widersprüchlich gewesen, einerseits kulturell zu Europa hingezogen, andererseits von der Furcht getrieben, durch Europa ausgelöscht zu werden.

Hinter Kissingers Revision scheint mir die Prognose zu stehen, dass beide Kriegsparteien ihre Kriegsziele verfehlen werden – die Ukraine wird Russland nicht vom Territorium der Ukraine vertreiben können, und Russland wird innerhalb der Ukraine nicht sicher sein. Weil beide von ihren Zielen aber nicht lassen werden, wird daraus ein aussichtsloser Abnutzungskrieg, der jederzeit das Potenzial hat, als ein Krieg zwischen Russland und der NATO völlig aus dem Ruder zu laufen. Dies auch deshalb, weil die immer massiveren Waffenlieferungen des Westens, die die Ukraine im Krieg halten, den Westen immer weiter in die Kampfhandlungen einbinden.

Vor diesem Hintergrund kann man Kissinger so verstehen, dass er meint, die Lösung könne nur sein, dass jede Seite das erhält, ohne welches sie den Konflikt nicht bereit sein wird zu beenden. Sie erhielte nicht alles, aber immerhin das, was zu Beginn des Jahres 2022 relevant war. Die Ukraine erhielte, in welcher Form auch immer, eine NATO-Assoziation; Russland, in welcher Form auch immer, die Donbassregion und die Krim. Das geschähe innerhalb eines politischen Rahmenwerks, das man „Minsk III“ nennen könnte und sich von Minsk II unter anderem dadurch unterschiede, den politischen Support der USA zu haben. Die Ukraine wäre vor weiteren Gebietsverlusten wirksam geschützt, Russland in den annektierten Gebieten sicher. Dies wäre, so kann man Kissinger verstehen, Land für Frieden.

Das Ganze ist aber dann doch in zweifacher Hinsicht problematisch: Erstens setzte dies die Kooperationsbereitschaft der Beteiligten voraus, zweitens müsste verhindert werden, dass die Ukraine als NATO-Mitglied den Bündnisfall als Mittel ihrer Revanche nutzt. Alle müssten einen Unmut reduzierter Erwartungen in Kauf nehmen, der aber, wie Kissinger bereits 2014 schrieb, den schwachen Trost enthielte, ausgewogen zu sein („balanced dissatisfaction“). Nur war der Verstand, der das begriffe, in Putins Entscheidung zu Beginn des Jahres 2022 bereits an sein Herz verloren. Im Gegenzug fasst sich nun die deutsche Außenministerin das Herz einer sogenannten wertebasierten Politik, die sie in der Tradition von Charles Krauthammer in der Kalkülrationalität des amerikanischen Neokonservatismus aufgehoben sieht.xiii

Das verheißt nichts Gutes. Dank Münkler wissen wir immerhin, wie man revisionistische Mächte nicht befriedet – wie man sie befriedet, wissen wir aber nicht.

 

Dr. Veit Friemert ist promovierter Philosoph und arbeitet als freiberuflicher Übersetzer und Publizist.

 

Literatur

Baerbock, Annalena 2023: Rede vor Berlin-Wahl (Baerbock): https://www.youtube.com/watch?v=5kNn2YHW1LI&ab_channel=GrebensikovDmitrij.

Bahr, Egon/Hatting, André 2013: „Frieden ist nicht alles, ohne Frieden ist alles nichts“ – Egon Bahr im Gespräch mit André Hatting, in Deutschlandfunk Kultur vom 09.03.2013, https://www.deutschlandfunkkultur.de/frieden-ist-nicht-alles-ohne-frieden-ist-alles-nichts-100.html.

Brandt, Willy 2002: Berliner Ausgabe, Bd. 5: Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD 1972 – 1992, Bonn.

Brzeziński, Zbigniew 1997: The Grand Chessboard, New York.

Diner, Dan (Hrsg.) 1988: Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main.

Haffner, Sebastian 2006: Anmerkungen zu Hitler, Frankfurt am Main.

Kissinger, Henry 2014: To Settle the Ukraine Crisis, Start at the End, in: Washington Post vom 3. März 2014, https://www.washingtonpost.com/opinions/henry-kissinger-to-settle-the-ukraine-crisis-start-at-the-end/2014/03/05/46dad868-a496-11e3-8466-d34c451760b9_story.html.

Kissinger, Henry 2023: Rede vor dem Weltwirtschaftsform: Davos 2023 (Kissinger), https://www.youtube.com/watch?v=lbCFnn_g_MI&ab_channel=WorldEconomicForum.

Krauthammer. Charles 1990/1991: The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs, Jg. 70, H. 1, S. 23–33:

Krauthammer, Charles 2002/2003: The Unipolar Moment Revisited, in: The National Interest, Jg. 70, H. 4, S. 5–18.

Luhmann, Niklas 1990: Die Zukunft kann nicht beginnen. Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft, in: Peter Sloterdijk (Hrsg.): Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft, Bd. 1, Frankfurt am Main, S. 119–150

Müller, Heiner 1985: Die Wunde Woyzeck, Dankrede zur Verleihung des Büchner-Preises 1985, https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/heiner-mueller/dankrede.

Münkler, Herfried 2022 (KA): Neue Weltordnung? Herfried Münkler zum Ukrainekrieg und seinen Folgen für Europa. Vortrag vom 20. September 2022, Katholische Akademie München (KA), https://www.youtube.com/watch?v=Eh0v-n95BBA&ab_channel=KatholischeAkademieinBayern.

Münkler, Herfried 2022 (BBAW): Der Ukrainekrieg, seine Folgen für Europa und die globale Ordnung, Vortrag vom 5. Oktober 2022, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), https://www.youtube.com/watch?v=fwbIRDdxSJA&ab_channel=Berlin-BrandenburgischeAkademied.Wissenschaften.

Münkler, Herfried 2022 (SIAF): Vortrag vom 8. November 2022, Zürich, Schweizerisches Institut für Auslandforschung (SIAF), https://www.youtube.com/watch?v=u4YqiKxnj7o&ab_channel=SchweizerischesInstitutf%C3%BcrAuslandforschung.

Putin, Wladimir 2021: Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer, 12. Juli 2021. http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181.

Richter, Wolfgang 2022: Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld, Stiftung Wissenschaft und Politik, SPW-Aktuell, Nr. 11, Februar 2022, https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A11_ukraine_russland_nato.pdf.

Verheugen, Günter 2014: Warum Helmut Schmidt irrt, in: Spiegel vom 19. Mai 2014, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-krise-helmut-schmidt-von-ex-eu-kommissar-verheugen-kritisiert-a-970150.html.

Wines, Michael 2000: Path To Power: A Political Profile. Putin Steering to Reform, But With Soviet Discipline, in: New York Times vom 20. Februar 2000, Section 1, Seite 1, https://www.nytimes.com/2000/02/20/world/path-power-political-profile-putin-steering-reform-but-with-soviet-discipline.html.

Anmerkungen:

i Zitiert in: Wines 2000: 1. Der Anlass der Äußerung ist unklar, die Äußerung selber aber darf als authentisch gelten. Auf sie wurde am 28. Februar 2023 von Regierungssprecher Dimitri Peskow in einem Interview mit der Zeitung Iswestija bestätigend verwiesen: https://iz.ru/1476223/petr-marchenko-evgeniia-chukalina-liubov-lezhneva/poka-nikakikh-predvybornykh-nastroenii-net-u-putina-del-mnogo. Dazu Peskows Kommentar: Dies sei seiner Meinung nach die umfassendste Haltung gegenüber jenen, die über eine Wiederherstellung der UdSSR sprechen: Die Wiederherstellung sei unmöglich („это невозможно“).

ii Neue Weltordnung? Herfried Münkler zum Ukrainekrieg und seinen Folgen für Europa. Vortrag vom 20. September 2022 an der Katholischen Akademie München (KA); Der Ukrainekrieg, seine Folgen für Europa und die globale Ordnung, Vortrag vom 5. Oktober 2022 an der Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW). Zitate von Ausschnitten dieser Reden werden hier im Text in Klammern mit dem Kürzel und der Zeitangabe (Minute:Sekunde) des Beginns des jeweiligen Redeabschnitts versehen wiedergegeben. Gleiches gilt für weitere Redebeiträge auch anderer Personen. Nachweise dazu einschließlich der Weblinks am Ende des Textes.

iii Vgl. hierzu den Beitrag von Hans-Jörg Kreowski und Aaron Lye in diesem Heft.

iv Haffner zitiert hier Hitler aus den Bormann-Diktaten vom 14. Februar 1945.

v Von lateinisch con-tingere, zusammen sich berühren, hier im Sinne von zusammenfallen, Zufall. Unter doppelter Kontingenz soll hier (im Anschluss an Parsons und Luhmann) ein soziologisches Modell verstanden werden, bei dem davon ausgegangen wird, dass Handlungen anderer nicht vorherbestimmbar sind. Dass Handlungen kontingent sind, heißt, dass Akteure anders handeln können. Doppelte Kontingenz heißt dann aber nicht nur, dass in der Interaktion von (modellhaft) zwei Akteuren Kontingenz auf beiden Seiten vorkommt (zweimal einfache Kontingenz), sondern darüber hinaus, dass beide Akteure, deren Handlungen voneinander abhängen, darum wissen: Ego weiß, dass Alter anders handeln kann, und weiß zugleich, dass Alter weiß, dass Ego dies weiß. Gleiches gilt für Alter. So gesehen ist Gesellschaft eigentlich unwahrscheinlich. Denn keiner weiß vom anderen, ob der nicht doch anders handeln wird. Als Tanzpartner würden Ego und Alter einander beständig auf die Füße treten. Dass sie aber überhaupt auf dem Parkett sind, zeigt, dass im Problembewusstsein die Lösung liegt. Menschen „erfinden“ Gesellschaft, weil sie wissen, dass sie miteinander klarkommen müssen. Das Paar geht aufs Parkett, weil es tanzen muss und deshalb ein Paar ist.

vi Europäische Sicherheitscharta, Dokument von Istanbul 1999, Abschnitt II.8, https://www.osce.org/files/f/documents/b/f/125809.pdf.

vii Ich beziehe mich in diesem Teil verschiedentlich auf den (vor dem 24. Februar 2022 publizierten) lesenswerten Text von Wolfgang Richter (2022).

xii Dazu Niklas Luhmann (1990: 126ff.) im Anschluss an Alfred Schütz und George Herbert Mead.

xiii Annalena Baerbocks Rede an der New School in New York vom 2. August 2022 mit dem Titel Seizing the Transatlantic Moment: Our Common Responsibility in a New World, verweist auf Charles Krauthammers These vom unipolaren Moment, mit dem der konservative Publizist Krauthammer (2002/2003: 5-18; 1990/1991: 23-33) den globalen Führungsanspruch der Vereinigen Staaten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eingefordert hatte. Baerbock bietet hier die Arbeitsteilung der EU an.

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