Albrecht

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Dokumentation: Sicherheit vor Freiheit? Terrorismusbekämpfung und die Sorge um den freiheitlichen Rechtsstaat

Veranstaltung Berlin, 26. März 2003

Die vergessene Freiheit – Strafrechtsprinzipien in der europäischen Sicherheitsdebatte

Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht

Angesichts ungebremster staatlich betriebener Kriegsgewalt als Mittel der internationalen Politik sind wir Zeugen der Vernichtung des Rechts und der Menschenrechte. Das Recht und seine bislang akzeptierten Träger auf internationaler Ebene – die Vereinten Nationen – sind zur Ohnmacht verdammt. Wir kehren in den Naturzustand zurück: Homo homini lupus. Der Schaden, den das Recht nimmt, ist unermesslich und zurzeit in seinen fatalen Folgen noch gar nicht absehbar. Die Dominanz der Politik über das Recht bricht sich ungehindert Bahn. Wie sehr hatte die Menschheit seit dem Ende des zweiten Weltkrieges und auch gerade nach Ende des kalten Krieges gehofft, dass das Recht der Politik Grenzen zu setzen in der Lage ist! Weit gefehlt. Ernüchterung ist angesagt. Erschütterung erfasst die aufgeklärte Weltöffentlichkeit.Die dauerhafte Erosion des Rechtsstaats, die wir national wie international seit langem zu beklagen haben, hat diese Entwicklung möglich gemacht. Abwägungsfeste Rechtsprinzipien sind Stück für Stück durch die Politik abgebaut worden: im scheinbaren Interesse der Sicherheit der Bürger. Politik ist nicht müde gewesen, scheinbarer Sicherheit von Staat und Gesellschaft – gar im Rang eines Staatsziels (Grundrecht auf Sicherheit) – den populistischen Vorrang gegenüber dem zerbrechlichen und abstrakten Prinzip der Freiheit einzuräumen. Sicherheit ist das Modewort, um das die politische Diskussion seit langem kreist. Je mehr Sicherheit desto besser.Auch die Freiheit scheint im sicheren Staat gut aufgehoben. Sicherheit sei die Voraussetzung der Freiheit, beeilte sich während der politischen Aufarbeitung des Anschlages auf World Trade Center und Pentagon ein deutscher Bundesminister des Innern zu versichern und wusste sich dabei auf Wilhelm von Humboldt zu berufen. Wenn damit etwas belegt sein sollte, dann die staatsphilosophischen Defizite dieser Betrachtungsweise. Die Inanspruchnahme Humboldts zeigt, dass das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Schieflage geraten ist. Humboldt bezog den Satz auf einen imperialen, undemokratischen Staat. Der Staat, den Humboldt im Blick hatte, war in seiner Willkürhaftigkeit mit einem Höchstmaß an Unsicherheit für seine Bürger behaftet. Es handelte sich um einen Staat, der weitgehend und faktisch unkontrolliert verhaften, verurteilen, einsperren oder von Strafe absehen, Eigentum gewähren oder entziehen, Meinungsäußerung zulassen oder unterdrücken, Krieg führen oder Frieden erzwingen konnte. Sicherheit der Bürger durch die Gewährleistung von Bürgerrechten war die Formel, mit der ein machtpolitisch kraftvoll zupackender Staat in seine Schranken verwiesen werden sollte. So betrachtet, war der Sicherheitsbegriff, dem der Aufklärer Humboldt folgte, in kritischem Sinne gemeint.Es ist bezeichnend, dass in der heutigen politischen Debatte der Begriff der Sicherheit dieses historischen Zusammenhangs entkleidet und seines kritischen Sinnes beraubt wird. Vielmehr droht die Formel in das Gegenteil verkehrt zu werden, das sie zu überwinden hoffte. Die verniedlichend als „Sicherheitspakete“ bezeichneten Eingriffe in bürgerliche Freiheitsrechte durch das „Terrorismusbekämpfungsgesetz“ belegen die Gefahr, dass der Staat die Macht seines Instrumentariums ausbaut – auf Kosten der Freiheit. Der weltweiten Bedrohung durch den internationalen Terrorismus will der Gesetzgeber durch Gesetzesverschärfungen, auch von Passgesetzen, begegnen. Das Terrorismusbekämpfungsgesetz veränderte vierzehn Gesetze. Der Bürger, um dessentwillen doch Sicherheit produziert werden soll, kann die Nuancen dieser Verschärfungen und die mit ihnen verbundenen schweren Folgen für eine Kultur des demokratischen Rechtsstaats – wenn überhaupt – nur erahnen. In der Dichte der sich rasant aneinanderreihenden Verschärfungen offenbart sich eine besorgniserregende rechtsstaatliche Zerstörungswut des Gesetzgebers, die unter dem Etikett der innenpolitischen Floskel „Freiheit setze Sicherheit voraus“ verborgen bleibt. Man muss sich dieser Details näher vergewissern:

Zunächst geplant, dann aber – zumindest einstweilen – zurückgenommen wurden verdachtsunabhängige Eingriffsbefugnisse des Bundeskriminalamts. Was das Bundesinnenministerium dort ernsthaft auftischte, hätte die Möglichkeit zur universalen Schleierfahndung eröffnet, in deren Zugriff jeder noch so unbescholtene Bürger geraten kann,
Sympathieverdacht mit Extremisten als Einreisehinderung oder Ausweisungsgrund, also Gesinnungsdiffamierung als staatliche Eingriffsgrundlage,
präventives Einsperren von Ausländern als „Sicherheitsgarantie“.

Auch in der staatlichen Kontrolle von Bankgeschäften fordert der sicherheitsversprechende Staat seinen Tribut. In der Kontrolle von Konten trifft er den Bürger an besonders empfindlicher Stelle. Vieles erscheint möglich:

Eigenständiges Auskunftsrecht des Verfassungsschutzes gegenüber Banken bezüglich Konten und Kontenbewegungen der Bankkunden – ohne eine richterliche Kontrolle,
Evidenzzentrale für Konten und Depots bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, wo riesige Datenmengen – jederzeit abrufbar – auf Halde lagern,
Konten-Screening zur Herstellung von Kontenprofilen, was eine weitgehend grenzenlose Kontrolle privater Freiräume bedeutet.

In der Sicherheitsdebatte, die nach dem 11. September 2001 einen neuen Aufschwung nahm, gehen Maß und Ziel staatlichen Handelns verloren. Das Datum selbst ist Mittel zum Zweck. Freiheit lässt sich derzeit leicht kleinreden, sich mit ihr zu beschäftigen ist eine komplizierte Angelegenheit. Freiheit ist ein – auch für Staatsbürger – anspruchsvolles Programm. Zollen wir der Freiheit einen Moment den Respekt, den sie verdient.

Die Idee der Freiheit

In der Philosophie der Aufklärung nimmt die Freiheit eine zentrale Position ein. Nicht Sicherheit, sondern Freiheit legitimiert den modernen Staat. Die Gesellschaften Europas erstickten an zu viel Sicherheit: Es war die Sicherheit eines in sich geschlossenen Regierungssystems, das dem Adel alles, den Bürgern nichts gewährte. Das Streben nach Sicherheit des Bestehenden bedeutete für den Bürger Unsicherheit. Das 18. Jahrhundert ist die Zeit für eine Programmatik, die diesen Zustand überwinden sollte. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau fasst die Kritik an diesem Zustand in einem bekannten Satz zusammen: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“. Die Ketten galt es zu sprengen, jedoch nicht so weit, dass zügellose Macht regiert.Der Mensch hat eine eigene Würde. Dies ist die Botschaft der Aufklärung. Kern dieser Würde ist die Freiheit des Willens. Sie vermag sich jedoch zugleich nur dann zu entfalten, wenn man eine Beziehung zu anderen Menschen aufbaut. Hier wird klar, dass die eigene Freiheit Grenzen hat. Eigene Freiheiten enden nämlich dort, wo die des anderen beginnen. Freiheit lebt von der Achtung der Würde anderer. Sie ist die Freiheit des Andersdenkenden, Anderslebenden, Andershandelnden. Sicherheit ist nichts anderes als eine ausbalancierte Freiheit aller. Nicht Sicherheit geht der Freiheit voraus, sondern Freiheit ist die unverzichtbare Garantie der Sicherheit oder auch nur des Gefühls von Sicherheit.Eindringlich formuliert wird die Idee der Freiheit in der Kantischen Philosophie. Darin wird die Freiheit – und nur diese – als eigentlicher Grund des menschlichen Daseins dargestellt. Neben ihr gibt es keine Zwecke, die allgemein und in jeder Hinsicht unbestritten gelten können. Kant stellt die These auf, dass der Mensch ein Zweck an sich sei. Freiheit des Willens zeigt sich bei Kant darin, dass Menschen in der Lage sind, ihre Emotionen zu beherrschen, dass sie unbequeme Entscheidungen treffen können. Bei Kant wird deutlich, dass mit der Freiheit auch Anstrengung verbunden ist. Zugleich gilt: niemand – kein Staat, kein System – hat das Recht, dort, wo der Gebrauch der Freiheit gemeinsam ausgeübt wird und niemandem schadet, Grenzen zu setzen oder ihn gar gewaltsam zu unterdrücken.

Historische Erfahrungen mit dem freiheitsverzehrenden Sicherheitsstaat

Wem die philosophische Legitimation staatlicher Freiheitsgewährung zu wenig handfest ist, der mag sich in der europäischen Geschichte der Unfreiheit und der damit im Zusammenhang stehenden Entwicklung der Menschenrechte als Sicherheitsgarantien vor dem Staat eine empirische Orientierung holen: Immer wieder gab es historische Zeitpunkte zu denen diese Erkenntnis selbstverständlich war. Beispiele für diese historischen Zeitpunkte sind das Ende des zweiten Weltkrieges und der Fall des Eisernen Vorhanges zum Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, später dann die Europäische Menschenrechtskonvention sind wichtige Dokumente der Freiheit. Sie schöpfen ihre Legitimität nicht nur aus deren Idee, sondern aus den massiven Unrechtserfahrungen einzelner und ganzer Gesellschaften, die mit dem vollständigen Verlust von Freiheit konfrontiert waren. Es gibt einen europäischen Fundus für die Erfahrungen mit dem Verlust von Freiheit. Stichworte müssen hier genügen: Weimar, Franco-Regime, Salazar-Regime, griechische Obristen und osteuropäischer autoritärer Sozialismus. Daran kann man sehen, was es bedeutet, die Sicherheit eines Staates auf dem Rücken von Freiheitsrechten des Individuums auszubauen. Aus diesen Beispielen kann man lernen, wie die Freiheit zu schützen ist und dass Sicherheit allein kein guter Ratgeber sein kann. Lernen aus diesen Beispielen wäre auch ein guter europäischer Anfang für ein freiheitliches Strafrecht.

Das „Grundrecht auf Sicherheit“ als politische Kunstfigur

Die politische Diskussion um mehr Sicherheit wird seit langem durch eine juristische Kunstfigur begleitet. Diese Kunstfigur unterstützt die politische Dynamik der Sicherheitsdiskussion. Mit Hilfe dieser Kunstfigur wird der Idee der Freiheit als Grundlage des Staates eine Absage erteilt. Diese Kunstfigur besteht in einem „Grundrecht auf Sicherheit“. Das Grundrecht auf Sicherheit hat mittlerweile seinen festen Platz in der gesamteuropäischen Diskussion um Polizei- und Strafrecht. Auch Europol spricht wie selbstverständlich von einem „europäischen Grundrecht auf Sicherheit“. Ein solches Grundrecht sei notwendig, um den Bürger vor der Gewalt anderer Bürger zu schützen.Die Handlungspflicht um der Freiheit des Menschen willen indes meint das „Grundrecht auf Sicherheit“ nicht. Vielmehr wird es als eine einklagbare Gesamtheit aller staatlichen Schutzpflichten verstanden. Es soll einen bewussten Gegensatz zur ursprünglichen Funktion der Grundrechte, die als Abwehrrechte gegen staatliche Macht gedacht waren, bilden. In diesem Gegensatz liegt das Problem des Grundrechts auf Sicherheit. Es löst das Verständnis eines sicheren Staates von der Idee der Freiheit ab. Dem Staat selbst wird die Sicherheit als abstrakter Wert zugeschrieben, der sich gegen das Individuum richten kann. Staatssicherheit dient nicht mehr der Freiheit des Menschen, sondern überwiegt diese. Sicherheit ist der Zustand einer Gesellschaft, bildet die Eigenschaft eines ganzen Systems. Aus dem Grundrecht auf Sicherheit lässt sich nämlich ein Anspruch des Staates an seine Bürger ableiten, sich ordnungsgemäß zu verhalten. Darin liegt die radikalste Umkehrung des Verhältnisses von Staat und Bürger. Darin liegt zugleich auch das fundamentalste Missverständnis im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Darin liegt die gröbste Missachtung historischer Erfahrungen mit der Funktion des Sicherheitsdenkens in den – oben beschriebenen – autoritären Staatsordnungen Europas.Wird Sicherheit zu einem Grundrecht, droht die Gefahr, vor der Kant gewarnt hatte. Der Staat, der nur wegen und aus der Freiheit seiner Bürger besteht, beginnt sich gegen seine „Erfinder“ zu wenden. Wo Sicherheit garantiert sein soll, gilt es, auch das geringste „humane Restrisiko“ zu vermeiden, es auszuschalten. Die Erfinder der Kunstfigur „Grundrecht auf Sicherheit“ blähen die Sicherheit zu einem „Supergrundrecht“ auf. So wird die Zertrümmerung der Freiheit theoretisch begleitet und abgesichert. Die Kunstfigur hilft der Kunst der Politik, die Aushöhlung von Freiheitsrechten populistisch darzustellen.Behält man den Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Gesellschaftsvertrag stets im Blick, wird auch deutlich, dass es keinen eigentlichen inhaltlich gerechtfertigten Bedarf für ein eigenes Grundrecht auf Sicherheit gibt. Bejaht man Schutzpflichten des Staates, wenn und soweit die persönliche Freiheit von Menschen in konkreter Gefahr schwebt, unmittelbar bedroht oder verletzt ist, bedarf es keines Rückgriffs auf die Kunstfigur des Sicherheitsgrundrechts. Verlangt ein Freiheitsrecht in einer konkreten Situation nach staatlichem Einschreiten, ist dies (verfassungs-)rechtliches Gebot genug.Die Kunstfigur des Grundrechts auf Sicherheit hat auch die Stärkung der Exekutive gegenüber der Legislative in ihrem Rücken. Wo Sicherheit gestiftet werden soll, muss es schnell gehen, gilt es, rasch zuzupacken. Parlamentarisch-demokratische Prozeduren und Diskussionen stören nur. Die Exekutive bestimmt die Inhalte des Strafrechts. Der eigentliche Strafgesetzgeber ist nur noch in der Lage, die bürokratisch vorgegebenen Inhalte formal zu bestätigen.

Bürokratisches europäisches Gesamtstrafrecht

Freiheitliche Strafgesetzlichkeit ist also Erbe europäischer Aufklärung. Wieweit berücksichtigt nun die europäische Sicherheitsdebatte dieses Prinzip der Freiheit? Ein europäisches Strafrecht gibt es bisher nicht. Es gibt auch keine weitreichenden Überlegungen, es zu schaffen. Es gibt allerdings eine unklare Technik, europaweit gültige Regeln zu setzen. Und es gibt auch eine Tendenz zu einem präventiven europäischen Sanktionsrecht, das für sich beansprucht, Strafrecht zu sein.Dieser Rechtssetzungsprozess wird als Produktion administrativer, vornehmer ausgedrückt: gubernativer Rechtsschöpfung bezeichnet – letztlich ist das aber nichts anderes als eine Erosion elementarer demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien (Art. 20 GG), obwohl diese durch die grundgesetzliche Ewigkeitsgarantie vor dem Zugriff eines jeden Gesetzgebers gesichert sind. Im Europarecht wird diese offensichtliche Ablösung des parlamentarischen Gesetzgebers durch die Exekutive mit dem Begriff einer neuen gubernativen, d.h. einer von Regierungen angeleiteten und beherrschten Rechtsetzung bereits als moderne Form der Gesetzgebung gefeiert. Europäische Strafrechtsentwicklung macht sich so weitgehend frei von Prinzipiendiskussionen und Freiheitserwägungen. Was bislang an „Europäischem Strafrecht“ sichtbar wird, stellt sich mehr als Verwaltungsgegenstand dar. Die Polizei – das Europäische Polizeiamt – dominiert die gesamteuropäische Kriminalpolitik. Bruchstücke eines europäischen Strafrechtssystems werden um die Polizei herum gruppiert. Wirksame justizförmige richterliche Kontrolle auf europäischer Ebene fehlt. Dagegen sind die Befugnisse zur Erhebung, Speicherung und Verwendung personenbezogener Daten weit.Kurz: Was als materielles Strafrecht auf europäischer Ebene sichtbar wird, ist ein Strafrecht des Systemschutzes. Es ist nur eine Entgleisung von Strafrecht. Nur selten zuvor in der Strafrechtsgeschichte wurde so selektiv und einseitig, so engstirnig und kleinkrämerisch auf das Strafrecht zurückgegriffen wie derzeit in der europäischen Strafrechtsentwicklung. Das wissenschaftliche Niveau dieser Entwicklung ist ärmlich. Die Ärmlichkeit der Debatte charakterisiert sich durch völlige Abstinenz gegenüber den Prinzipien europäischer Aufklärung. Kritik an dieser Abstinenz wird mit überbordendem Selbstbewusstsein von Exekutivbehörden schlicht ignoriert. Brüsseler Bürokraten beherrschen die Debatte und das Verständnis des Strafrechts als europäischen Verwaltungsakt. Viel Hoffnung, dass diese Entwicklung gewendet werden könnte und man sich europäischer Rechtsprinzipien neu besinnt, mag angesichts der politischen und bürokratischen Wucht aktueller Kriminalpolitik nicht bestehen. Das jüngste Grünbuch der Kommission zu den Verfahrensgarantien in Strafverfahren (KOM 2003, 75 endg.) bestätigt diesen Pessimismus. Die Debatte zu den so genannten Mindestgarantien ist juristische Lichtjahre von gesamteuropäisch längst anerkannten Rechtsprinzipien entfernt. Die juristische Debatte der Kommission zeigt wieder einmal: verbindliche Prinzipien des Rechts sind zu wichtig, als dass sie einer juristischen Administration – und sei es nur zur vorbereitenden Bearbeitung – überantwortet werden dürfen. Gefragt ist nicht die Macht der Bürokraten, sondern die der Bürger und ihrer – zu stärkenden – Parlamente.Es ist zu wünschen, dass man sich bei der Weiterentwicklung europäischen Strafrechts des europäischen Erbes bewusst wird. Am Anfang europäischen Strafrechts stehen Freiheit, Menschenwürde und universale Menschenrechte. Das sind die zentralen Merkmale des neuen Gesellschaftsvertrages. Das Strafrecht ist kein Allheilmittel staatlicher Sicherheitsinteressen, sondern schützt die Rechtsunterworfenen vor staatlichen Zugriffen auf den Kernbereich von Freiheit und Menschenwürde im Staat und darüber hinaus.Traditionsreiche europäische Strafrechtsprinzipien sind Schutzformen der Freiheit, die in das Strafrecht übersetzt werden müssen: Das Prinzip der Gesetzlichkeit in seinen Ausprägungen der Bestimmtheit, das Analogie- und das Gewohnheitsrechts-Verbot, das Rückwirkungsverbot, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, das Legalitätsprinzip, die Unschuldsvermutung und Strafrechtsgrundsätze, die im Prinzip der Fairness kulminieren. All diese Prinzipien sind nach der politischen Philosophie der Aufklärung, vor allem nach vielen negativen historischen Erfahrungen mit unkontrollierter staatlicher Gewalt, unverzichtbare Bestandteile einer gesamteuropäischen Rechtskultur. Das Strafrecht als eine durch Prinzipien begrenzte Zwangsordnung zu legitimieren, ist dabei nicht nur gedankliches Modell, sondern vor dem Hintergrund historischer Erfahrung gerade für uns Deutsche notwendige Folgerung aus der Faktizität der Macht. Die zunehmende Erosion der Strafrechtsprinzipien entzieht jedenfalls dem Strafrecht die philosophische, die historische und die gesellschaftstheoretische Legitimation.Exemplarisch soll aus dem Kanon der Prinzipien das Gesetzlichkeitsprinzip aufgerufen werden. Es enthält ein materielles und formelles Programm: Die Gesetzlichkeit bildet die Garantie, dass die staatlich organisierte öffentliche Gewalt nicht willkürlich in Freiheitsrechte eingreifen darf.

Die Idee der Strafgesetzlichkeit

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. So steht es in Art. 103 Abs. 2 GG und ähnlich in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Strafgesetzlichkeit ist das zentrale Prinzip des Strafrechts. Mit der Strafgesetzlichkeit beginnt das legitime, die Macht des Staates beschränkende Strafrecht. „Keine Strafe ohne Gesetz“ – so lautet die Kurzformel der Strafgesetzlichkeit. Sie stellt die fundamentalste Errungenschaft eines aufgeklärten, modernen und rechtsstaatlichen Strafrechts dar. Die Botschaft der Strafgesetzlichkeit liegt in der Machtbegrenzung und im Schutz der persönlichen Freiheit vor dem strafenden Staat. Gesellschaftsvertrag und Strafgesetzlichkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Strafgesetzlichkeit lässt sich nur im freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat realisieren. Sie ist Ausfluss rechtsstaatlicher Grundsätze und muss als notwendige Konsequenz von Demokratie und Gewaltenteilung begriffen werden.Zentrale Komponente der Strafgesetzlichkeit ist das Bestimmtheitsgebot. Es verpflichtet den Gesetzgeber zur Genauigkeit. Die Voraussetzungen, wann ein Verhalten strafbar ist, müssen so konkret umschrieben sein, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Strafgesetze erkennbar sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Kurz: Ob für ein Verhalten Strafe droht sowie Art und Maß der Strafe, müssen für den Bürger vorhersehbar sein. Das Gesetzlichkeitsprinzip garantiert, dass es sich der Gesetzgeber gerade bei der Sanktionsandrohung nicht allzu einfach machen darf. Besonders deutlich wurde dies unlängst am Beispiel der Vermögensstrafe. Hier ließ der deutsche Gesetzgeber den Normadressaten im Unklaren darüber, wann und in welcher Höhe diese verhängt werden sollte. Das Prinzip der Gesetzlichkeit in seiner Ausprägung als Bestimmtheitsgebot schien schlicht vergessen worden zu sein. Indes hat das Bundesverfassungsgericht Art. 103 Abs. 2 GG dem Gesetzgeber wieder in Erinnerung gerufen. Die an Unbestimmtheit fast nicht mehr zu übertreffende Vermögensstrafe ( § 43a StGB) wurde mit wenigen Federstrichen aus dem Gesetz eliminiert, nachdem vorab alle befragten Gerichte bis hin zum Bundesgerichtshof, Landesjustizministerien, Generalbundesanwalt, Bundesjustizministerium und die Strafrechtswissenschaft in ihrer Mehrheit an dieser Norm nichts auszusetzen hatten.

Vom traurigen Zustand der Strafgesetzlichkeit in Europa

In Europa stellt sich das Prinzip der Strafgesetzlichkeit in einem traurigen Zustand dar. Dies gilt sowohl für einzelne EU-Mitgliedstaaten als auch in gesamteuropäischer Hinsicht. Die nationalen Unterschiede bei der Verwirklichung europäischer Rechtsprinzipien – schon die Strafgesetzlichkeit macht dies deutlich – verlangen nach einer allgemeinen und verbindlichen Begründung von Prinzipien auf einer gesamteuropäischen Ebene. Dabei geht es um mehr als nur um Harmonisierung. Werden Rechtsprinzipien zwischen den Staaten harmonisiert, so kommen dabei nur politische Kompromisse heraus, die zwar ein gemeinsames, aber notwendig niedriges Niveau dieser Prinzipien enthalten. Freiheit und Menschenrechten wäre damit nur unzulänglich gedient. Für die europäische Strafrechtsentwicklung entscheidend ist, eine gemeinsame Verständigung über Rechtsprinzipien zu finden. Wo ein neuer Gesellschaftsvertrag ausgehandelt wird, gilt es auch, eine neue anspruchsvolle und allgemeine Begründung von Rechtsprinzipien – auch der Strafgesetzlichkeit – zu finden, die hinter dem Anspruch, die Freiheit bestens zu schützen, nicht zurückbleibt.Auch in der gesamteuropäischen Rechtsprechung bleibt ein solcher allgemeiner Ansatz bislang nur schemenhaft erkennbar. Es ist zwangsläufig, dass der Europäische Gerichtshof das Prinzip der Strafgesetzlichkeit in einer nur verengten Form, nämlich bezogen auf die Erfordernisse des europäischen Binnenmarkts, verstehen kann. Eine allgemeine, für ganz Europa, vor allem für das Problem der Machtbegrenzung durch Strafrecht sensible Begründung der Strafgesetzlichkeit erwächst daraus nicht. Ebenso zurückhaltend ist – noch – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Auch hier ergeben sich keine einheitlichen Konturen der Strafgesetzlichkeit. Der Respekt vor der Souveränität der Nationalstaaten ist hoch. Eine Wende nimmt die Rechtsprechung des Gerichtshofs nun mit seinem Urteil gegen Mitglieder des SED-Politbüros wegen deren Verantwortlichkeit für die Todesschüsse an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Wenn man will, lässt sich in diesem Urteil zumindest eine inhaltliche Pflege des Strafrechts erkennen. Es gibt einen strafrechtlichen Inhalt – nämlich Menschenrechtsverletzungen -, die für jeden politisch Verantwortlichen, gleichgültig in welchem politischen System über Zeit und Ort hinaus, erkennbar sind. So erfährt der aus der Aufklärungsphilosophie bekannte Gedanke der Strafwürdigkeit eine Renaissance.Die Kriminalpolitik ist auf europäischer Ebene weit von einem Begriff von Strafwürdigkeit entfernt. Den eigentlichen Kern strafrechtlichen Unrechts hat man verloren. Beleg für kleinkrämerische, einseitige und selektive Kriminalpolitik auf europäischer Ebene ist der Vorschlag eines als „Corpus Juris“ bezeichneten teilharmonisierten europäischen Strafrechts. Der Begriff „Corpus Juris“ ist eine Anmaßung, die aber zugleich das große Selbstbewusstsein einer Bürokratie dokumentiert, die am Strafrecht der EU-Mitgliedstaaten entscheidend mitgestalten will. Worum geht es? Die Europäische Union will ihren Haushalt schützen. Sie versucht dies nicht durch die Reform einer bei der Finanzkontrolle anfälligen Verwaltungsstruktur, sondern mit Hilfe des Strafrechts. Die beabsichtigten Teilharmonisierungen erstrecken sich auf Delikte, die durchweg Finanzen und Vermögen der Europäischen Union im Blick haben. Betrug, Korruption und Geldwäsche sind die materiell-rechtlichen Bezugsobjekte europäischer Kriminalpolitik. Betrachtet man sich die Reformvorschläge näher, zeigt sich das ganze Ausmaß der geplanten Zerstörung eines an der Strafgesetzlichkeit orientierten Strafrechts. Geht es nach den Corpus-Juris-Bürokraten soll auch der fahrlässige, genauer: leichtfertige Betrug allerorts strafbar sein, soll die Strafbarkeit des Versuchs ausgedehnt werden, werden Geldwäsche und Hehlerei zu einem Einheitstatbestand verschmolzen, der kaum noch eigene Zurechnungskriterien hat. In Folge des europäischen Zugriffs auf das Strafrecht ist bereits jetzt der Tatbestand des Subventionsbetruges soweit ausgedehnt worden, dass jede zweckwidrige Verwendung einer Subvention mit Strafe bedroht ist. Die Macht der Verwaltung ist damit groß: Was immer sie an subventionspolitischen Zielen im Einzelfall vorgibt, lässt sich durch Strafrecht absichern.

Die Hoffnung: Ein europäisches Strafrecht der Strafgesetzlichkeit

Die Aufgabe der Strafrechtswissenschaft und einer aufgeklärten Öffentlichkeit kann keine geringere sein, als vernachlässigte oder vergessene europäische Strafrechtsprinzipien wieder lebendig und praktisch handhabbar zu machen. Die derzeitige Verkümmerung des Strafrechts als administratives Steuerungsmedium allein ökonomischer Interessen der EU muss einer anspruchsvollen Kritik unterzogen werden.Die Politik der Aufrüstung eines präventiv-gubernativen Strafrechts wird überaus deutlich beim Streit um die Auslegung des Artikels 280 EG-Vertrag, ein Lehrbeispiel für den bedenklichen Stand der juristischen Methodenlehre in Europa. So verwendet das Grünbuch der EU-Kommission (KOM 2001, 715 endg.) die Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft als Instrument, um die klassische Säulenarchitektur der EU zum Einsturz zu bringen. Proklamiert wird von der EU-Administration contra legem die Notwendigkeit einer Kompetenzverschränkung im angeblichen Interesse von Effizienzzuwachs. Am verfassungsrechtlichen Rahmen des Europarechts, den das Prinzip begrenzter Ermächtigung absteckt, geht dies indes vorbei. In der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts heißt es dazu unmissverständlich, der Rat könne auf die supranationalen Handlungsformen des europäischen Gemeinschaftsrechts nicht zurückgreifen, wenn er in den Bereichen der Justiz tätig wird (BVerfGE 89, 155, 176). Der diese Rechtsprechung negierende aktuelle Rechtsetzungsstil ist kennzeichnend für das stete Bemühen um Einebnung zwischen dem Strafrecht der Strafgesetzlichkeit und dem administrativen Sanktionenrecht zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der EU. Dieser administrative Rechtsstil stützt sich auf einen einseitig geführten, verkürzten Diskurs der Kommission, verformt das Demokratieprinzip, das allein die Rechtssetzungzuständigkeiten der EU legitimieren kann, und führt zu einem Niveauverlust tradierter europäischer Strafverfahrensprinzipien.Das Strafrecht der Strafgesetzlichkeit ist Realität in europäischen Texten wie der Menschenrechtskonvention und dem Entwurf der Charta der EU auf der einen und zum Teil in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der anderen Seite. Indessen ist die Realität des administrativen Strafrechts viel wirksamer und sichtbarer. Dennoch: Aus der Sicht einer von europäischen Aufklärungstraditionen geleiteten Strafrechtswissenschaft gilt es zu fordern: Europa braucht vor dem Hintergrund seiner deprimierenden Strafrechtserfahrungen ein Strafrecht der Strafgesetzlichkeit, auf das die europäische Aufklärung hinaus wollte: Eng, präzise, gesetzesgebunden, freiheitssichernd – und zwar als Bestandteil seiner Verfassung. Freilich: Ohne internationale und völkerrechtlich verbindliche Wiederherstellung des Rechts kann man ein solches Projekt europäischer Rechtsfindung besser vergessen. Die Völker der Welt müssen den Mut haben, den ungeheuerlichen Angriff der Koalition der Destrukteure auf die Geltung internationaler Rechtsprinzipien mit aller Schärfe und kategorisch zurückzuweisen. Weltordnung ohne Rechtsgeltung kann keinen Frieden schaffen und kein Europa der „Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika ist offenbar klüger als ihr Ruf: Sie wusste schon, warum sie dem Statut des internationalen Strafgerichtshofs ihre Zustimmung versagen musste.

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