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I. Vorbemerkung

Nach acht Stunden juristischen Krauts möchte ich Ihnen jetzt etwas soziologisches Unkraut näher bringen.

Ich bin bereits nach dem Titel meines Referats gefragt worden: Warum muss der auf Englisch sein? Das möchte ich, ehe die Sprachpolizei gegen mich in Stellung geht, erklären. Der Titel stammt aus der amerikanischen Diskussion [ 1 ]. Ich habe ihn übernommen, weil ich auf der einen Seite schlecht eine deutsche Übersetzung dafür gefunden habe: er klingt nicht ganz so martialisch auf Englisch, wie er auf Deutsch klingen würde. Zweitens will ich damit gleich zu Beginn ankündigen, dass ich mich in meinen Überlegungen nicht auf die Bundesrepublik beschränken will, wie das in den bisherigen Referaten der Fall gewesen ist, sondern dass ich auch auf kriminologische und soziologische Überlegungen zurückgreifen werde, die aus anderen Ländern stammen. Mir geht es, in anderen Worten, auch darum zu fragen, inwieweit derartige Beobachtungen auch für die Situation in der Bundesrepublik einschlägig sind. Ich entnehme sie der angelsächsischen Diskussion auch deshalb, weil sie bei uns bislang kaum anzutreffen ist.Lassen Sie mich die generelle These, die ich entwickeln möchte, pointiert an den Anfang stellen. Sie zielt darauf ab, Kriminalpolitik aus ihren eigenen Grenzen etwas zu befreien und sie zu verknüpfen mit anderen Politikfeldern sowie der Gesellschaftspolitik ganz allgemein. Kriminalpolitik, so die These, ist als Reflex gesellschaftlicher Prozesse und Wandlungen anzusehen. Sie erklärt sich keineswegs alleine, nicht einmal an erster Stelle aus dem Politikbereich, auf den sie oberflächlich zunächst verwiesen ist. Ich verstehe diese These als einen Versuch, zumindest der Frage nicht auszuweichen, die heute morgen bei verschiedenen Referenten und in mehreren Referaten aufgekommen ist: Was sind denn die eigentlichen Triebkräfte und Faktoren der Entwicklung in der Rechtspolitik im Allgemeinen und in der Strafrechtspolitik im Besonderen, die in den vorangegangenen Referaten so nachhaltig und dramatisch, zum Teil gar defätistisch vorgeführt worden sind? Ich will zumindest den Anspruch erheben, dieser Frage nicht auszuweichen. Ob ich diese Frage wirklich beantworten kann, steht auf einem anderen Blatt – darüber wird in der Diskussion dann noch weiter zu sprechen sein.Lassen Sie mich kurz skizzieren, in welchen Schritten ich mein Argument entwickeln möchte. Ich werde zunächst zur Einstimmung – wie ich es nennen möchte – ein wenig politisches Feuilleton ausbreiten und im Anschluss daran in vier Thesen mein Argument etwas genauer benennen und ausführen.

II. Der politische Nutzen von Kriminalität und Kriminalpolitik

Ich beginne mit dem Feuilleton. Es behandelt die Instrumentalisierung der Kriminalität und der Inneren Sicherheit durch politische Akteure und Parteien. Ich greife dazu ein wenig zurück auf eine Entwicklung, die man zunächst in den USA beobachten konnte und die mittlerweile, denke ich, auch in Europa angelangt ist. Kriminalität und Innere Sicherheit sind zu einem vorrangigen, z.T. primären Ziel und Projekt auf der politischen Agenda avanciert, insbesondere und für jedermann sichtbar natürlich in Wahlkampfzeiten. Ich halte diese Feststellung für einen Ausgangsbefund, der für unsere Diskussion außerordentlich bedeutsam ist.Dieser Prozess hat, wenn man ihn historisch ein wenig fixieren will, 1964 angefangen im damaligen Präsidentschaftswahlkampf in den USA, als der republikanische Kandidat Goldwater gegen den Nachfolger des ermordeten John F. Kennedy, Johnson, im Wahlkampf stand [ 2 ]. Goldwater hat erstmalig in den USA versucht, die Kriminalität zum entscheidenden Wahlkampfthema zu machen. Damals ist es noch, wie Sie vielleicht alle wissen, so ausgegangen, dass die Kriminalität und die Innere Sicherheit politisch nicht den Erfolg eingetragen und die Stimmen gebracht haben, die die Republikaner sich davon erhofft hatten. Johnson gewann den Wahlkampf. Damit war jedoch ein politisches Thema losgetreten und etabliert, das in den künftigen Wahlkämpfen der USA eine ganz zentrale und zum Teil geradezu dramatische Rolle gespielt hat. Ohne hier die gesamten amerikanischen Wahlkämpfe Revue passieren lassen zu wollen, möchte ich aber einige Akzente und einige bedeutsame Entwicklungen in dieser Karriere der Inneren Sicherheit und der Kriminalpolitik zum vorrangigen politisches Thema benennen und stichwortartig für unsere Diskussion vergegenwärtigen.Etliche Jahre und Wahlkampagnen nach dem Initialwahlkampf zwischen Goldwater und Johnson gab es einen sehr spektakulären Law-and-order-Wahlkampf im Jahre 1992 zwischen dem späteren Präsidenten Bush sen. und dem demokratischen Kandidaten Dukakis. Während des Wahlkampfes gab es einen Kriminal-Fall, der auch in die wissenschaftliche Literatur eingegangen ist als der „Willy-Horton-Fall“ [ 3 ]. Ein in Hafturlaub befindlicher, wegen eines Mordes verurteilter Täter kehrte nicht in sein Gefängnis zurück. Monate später drang er in ein Haus ein, misshandelte den dort anwesenden Mann und vergewaltigte dessen Stunden später zurückkehrende Verlobte zwei Male auf brutale Weise, wurde bald danach von der Polizei wieder in Haft gebracht. Die öffentliche Diskussion kreiste um die Abschaffung der gesetzlichen Hafterleichterungen, die den Hafturlaub von Horton möglich gemacht hatte. Als Dukakis als Gouverneur von Massachusetts sein Veto gegen die Aufhebung des Gesetzes einlegte, geriet er unter heftigen öffentlichen Druck einer „grassroots“-Bewegung („Citizens Against Unsafe Society“), die den amerikanischen Wählern die Frage vorlegte: „America … do we want a president in office who would try the same ‚experiment in justice‘ on a national level?“ Schliesslich gab Dukakis dem öffentlichen Druck und sinkenden demoskopischen Werten nach, liess gegen seine immer wieder bekräftigte Überzeugung das Gesetz zur Aufhebung von Straferleichtungen passieren – allerdings, so die politischen Experten und Auguren, war die Wahl zu Gunsten seines politischen Kontrahenten zu diesem Zeitpunt bereits verspielt.Dies im Kopfe und erinnernd, hat im nächsten Wahlkampf, in dem Bill Clinton gegen Bush senior zur Wahl stand, ersterer als Kandidat der Demokraten, peinlich darauf geachtet, dass er der einzigen, in den Wahlkampf fallenden Hinrichtung eines Straftäters in seinem Heimatstaat Arkansas beiwohnte, und dass er auch genügend Medienpräsenz zur Verfügung hatte, damit ihm in Bezug auf das Wahlkampfthema „tough on crime“ nichts vorzuwerfen war [ 4 ]. Ich denke, das ist ein weiteres erhellendes und sich selbst erklärendes Einzelbeispiel dafür, wie in der Tat die Kriminalität und die Innere Sicherheit, hier noch bezogen auf die USA, zu einem überragenden Thema der öffentlichen und der politischen Diskussion geworden ist.Eine letzte Stimme noch, die diesen Sachverhalt auf eine ebenso plastische wie drastische, darüber hinaus merkfähige Weise zum Ausdruck bringt: Als die Konservativen in den USA noch nicht über die Mehrheit im Kongress verfügten, wurde der damalige konservative Sprecher des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, von einem Journalisten gefragt, wie er sich „den Aufbau einer konservativen Mehrheit in den USA vorstelle“. Seine knappe Antwort lautete: „Taxes down and death panelty“ – also: „niedrige Steuersätze und die Todesstrafe“ [ 5 ]. Sieht man von der Todesstrafe und dem diesbezüglichen „Ausreißer“ USA unter den „westlichen“ Staaten ab, kann man, so denke ich, durchaus den Eindruck gewinnen: Das ist eine Formel, die auch an politische Diskussionen und Wahlkämpfe außerhalb der USA erinnert. Ich will damit Amerika verlassen und mich ganz kurz Europa zuwenden.Als erstes möchte ich einen Blick auf Großbritannien werfen [ 6 ]. Margret Thatcher ist einmal gefragt worden, inwieweit die Gesellschaft auch eine Verantwortung trüge und wieweit Gesellschaftspolitik gewissermaßen als ein Stück Kriminalpolitik zu betrachten sei. Da hat sie den geflügelten Satz gesagt, der später Gegenstand und Titel eines Buches wurde, weil es viel Erregung ausgelöst hat: „There is no such thing as society“. Dieser Ausspruch bringt sehr schön einen neuen Zugriff auf die Kriminalität zum Ausdruck. Ihr Nachfolger, John Major, hat einmal das folgende denkwürdige Motto im Unterhaus zum Besten gegeben: Es gehe darum, „to condemn more and to understand less“ – „mehr verurteilen und weniger verstehen“. Solche Feststellungen und Prinzipien sind, so denke ich, Ausdruck einer gesellschaftspolitischen Bewältigung und Auseinandersetzung mit Kriminalität und Innerer Sicherheit, der in die gleiche Richtung weist, wie ich sie gerade aus den USA vorgeführt habe.Und schließlich nenne ich Tony Blair, der ja unter anderem mit dem Motto „Crime is a labour issue“ gewissermaßen eine Wende in der Kriminal- und Innenpolitik der Labour-Party angeregt und durchgesetzt hat. Von ihm stammt ja auch jene berühmte Formel, dass es darum ginge: „To be tough on crime and to be tough on the causes of crime“. – Inzwischen haben englische Beobachter, die das wörtlich genommen haben, gefragt: Wo bleibt denn die zweite Hälfte dieses Mottos: das „tough on the causes of crime“? [ 7 ]Ich komme sodann einen Augenblick zur Bundesrepublik. Ich erinnere nur kurz an den früheren Innenminister Kanther – ein Dramatisierer und Law-and-order-Politiker, dem mit gleicher Regelmäßigkeit eine oppositionelle Stimme der Entdramatisierung entgegen hallte. Damit ist es indessen mittlerweile vorbei: auch innerhalb der SPD hat sich alsbald eine Politik etabliert, die in Bezug auf die Kriminalität und die Sicherheitspolitik einen – ich sage das einmal vorsichtig – populistischen Einschlag und eine populistische Richtung genommen hat. Ich darf nur an die beiden Ausfälle des derzeitigen Bundeskanzlers erinnern: als er – noch nicht im Besitze der Macht – mit Blick auf die nicht-deutschen Mitbürger einmal meinte, dass sie, wenn sie straffällig geworden wären, das Gastrecht verwirkt und schnellstens das Land zu verlassen hätten: das war ein Fall von Ausländerpolitik via Strafrecht. Und Sie wissen wahrscheinlich ebenso, dass er – schon im Besitze der Macht – anlässlich einer dieser schrecklichen sexuellen Missbrauchsfälle gegenüber Kindern gleich in dreierlei Weise punitive Bedürfnisse bedient bzw. geschürt hat: Einerseits forderte er – gegen das Gesetz – , dass solche Menschen lebenslang hinter Gitter müssten; zweitens müssten – bei allem Respekt vor der Unabhängigkeit der Justiz – die Richter auch einmal etwas genauer hingucken und in diesen Fällen das Recht etwas schärfer anwenden; und dann sprach er – ungeheuerlich auch das – von einem „Kartell der Gutachter“, die durch ihre gutachterlichen Voten mitverantwortlich seien dafür, dass solche Fälle passierten: das war ein Fall von Law-and-order-Politik zwecks Machtsicherung.Aber nicht nur SPD und CDU, auch die Grünen, treten inzwischen für eine Kriminalpolitik ein, die eine andere ist als diejenige, für die sie früher einmal warben. Im September 2002 stellte die Heinrich-Böll-Stiftung auf einer Podiumsdiskussion einen Sammelband zu „Kriminalität und Sicherheit“ [ 8 ] vor, in dem sich eine Reihe von grünen Politikern und den Grünen nahe stehenden Wissenschaftlern und Journalisten mit dem Problem der inneren Sicherheit unter vor allem kommunalpolitischer Perspektive befassten. In der dazu einladenden Pressemitteilung- in fast gleicher Formulierung auch im Vorwort von R. Fücks und G. Munier – heisst es: „Kriminalität ist inzwischen Teil des gesellschaftlichen Alltags. Wer das beschönigt, hat schon verloren“. Zwar versucht der Band, eine Balance zwischen Ernstnehmen und Dramatisierung der Kriminalität einzuhalten, aber u. a. enthält er gleichsam eine Steigerung des oben zitierten Mottos der Labour Party, indem einer der Autoren nicht „crime“, sondern „law and order should become a green issue“ als kriminalpolitische Linie der Grünen einfordert [ 9 ].Insgesamt, diese Schlussfolgerung möchte ich ziehen, zeigt sich, dass in Bezug auf die Politik der Inneren Sicherheit und auf die Kriminalpolitik so etwas stattgefunden hat – je nachdem, wie man es nimmt -, wie eine totale Politisierung oder aber eine totale Entpolitisierung dieses Politikfeldes. Mit totaler Entpolitisierung meine ich, dass wir gerade auf diesem Feld eine Art von All-Parteien-Koalition haben, wo man unterschiedliche, differente Positionen zwischen den verschiedenen politischen Trägern, politischen Parteien eigentlich kaum mehr ausmachen kann. Im Gegenteil, manchmal wird man erinnert an eine historische Parallele zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als der damalige Kaiser am 4. August 1914 den berühmten Spruch getan hat: „Ich kenne keine Parteien mehr“. (Übrigens, hat er bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal in seinem Leben einem Sozialdemokraten die Hand gegeben.)Ganz allgemein und abschließend zu diesem politischen Feuilleton möchte ich im Anschluss an die Beobachtung eines amerikanischen Kriminologen sagen, dass Kriminalpolitik mehr und mehr zu einer Law-and-order-Politik geworden ist. Law-and-order-Politik meint danach eine Ausrichtung der Politik auf diesem Feld, die Kriminalität und Innere Sicherheit zu einem Vehikel macht, mittels dem politische Akteure und politische Parteien versuchen, entweder ihre Macht zu erhalten oder die Macht zu gewinnen. Sie unterscheidet sich von einer rationalen Kriminalpolitik, die den Maßstäben der Effektivität, der empirischen Erfolgskontrolle sowie der Gerechtigkeit folgt.

III. Vier Thesen zur Renaissance des staatlichen Strafens und ihrer Gründe

Nunmehr möchte ich Ihnen die vier Thesen vorstellen, die meine weitere Argumentation präzisieren.These 1: Die Rückkehr des repressiven StrafrechtsDie erste These lautet, dass das repressive Strafrecht seit etlichen Jahren eine unerwartete Renaissance erlebt. Viele von Ihnen werden sich noch an den Tenor der Diskussion in den 70er, 80er Jahren erinnern, der das Strafrecht gleichsam als ein aussterbendes Modell staatlicher Steuerung betrachtete. Es war, glaube ich, ein Strafrechtswissenschaftler, der einmal die Feststellung traf, dass die Geschichte des Strafrechts eine Geschichte seiner Abschaffung sei. Davon kann heute keine Rede mehr sein – heute nicht und auch für die überschaubare Zukunft nicht. Heute Morgen hat es genügend Belege und detaillierte Erkundungen darüber gegeben, welche Entwicklung das Strafrecht in der Tat in den letzten 20 Jahren – nicht erst seit dem 11. September – genommen hat. Ich möchte diese These nur in zwei, drei summarischen Feststellungen noch einmal für meine Argumentation aufnehmen. Zunächst und ganz allgemein: Es war schon in der vorangegangenen Diskussion davon die Rede, dass es gerade im Strafrecht eine Spannung gibt: Auf der einen Seite effizientes Strafrecht und auf der anderen Seite rechtsstaatliches Strafrecht. Oder, wie es in der angelsächsischen Diskussion plastisch heißt: „crime control versus due process“ [ 10 ]. In der Tat lässt sich die Entwicklung der letzten zwei, drei Jahrzehnte dahin zusammenfassen, dass sich das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen mehr und mehr zugunsten von crime control, zugunsten von Effizienz und zu Lasten von Rechtsstaatlichkeit und due process entwickelt hat.Ich beschränke mich auf zwei weitere Anmerkungen. Die erste bezieht sich auf eine besonders markante Entwicklung in dieser repressiven Wende der Kriminalpolitik, die allerdings für die einzelnen Länder unterschiedlich ausfällt und auch unterschiedlich dokumentiert ist: der erneuerte Rückgriff auf das Gefängnis als einem bevorzugten Sanktionsmittel gegen die Kriminalität. Der Rückgriff des Staates auf dieses verpönte klassische Sanktionsinstrument des Strafrechts – von dem man nicht erst seit der Theorie der totalen Institution sowie dem Foucault-Klassiker „Überwachen und Strafen“ aus dem 20. Jahrhundert, sondern aus Quellen bereits des 19. Jahrhunderts weiß, dass es kein Ort der Besserung und Rehabilitation, sondern der Initiation ins und Verfestigung von Verbrechen darstellt – lässt sich an der Entwicklung in den USA mit Händen greifen und anderen Statistiken ablesen. Dort lässt sich innerhalb der letzten zwei bis drei Jahrzehnte eine Vervielfachung der Insassenpopulation, der Gefängnisrate, in den Strafvollzugsanstalten verzeichnen. Die Gefängnisrate – ein Maßstab, an dem etwa die Europäische Union die Kriminalpolitik in ihren einzelnen Mitgliedsländern vergleichend misst – weist, jeweils bezogen auf 100.000 Personen der Bevölkerung, auf, wie viele Mitglieder einer Gesellschaft sich jeweils in ihren totalen Institutionen des Strafrechts ihrer Freiheit beraubt sehen. In Europa beträgt die Gefängnisrate über alle Länder der Europäischen Union hinweg plus-minus 100.Es lohnt sich, die enorme Expansion der amerikanischen Gefängnispopulation etwas genauer zu betrachten. Die nachstehende Tabelle erlaubt einen statistischen Blick darauf. Die eigentliche Entwicklung in den USA hat etwa Mitte der 70er Jahre begonnen. In den fünf Jahrzehnten davor, seit diese Statistik überhaupt geführt wird, hat auch in den USA die Gefängnisrate so ungefähr um 100 betragen, also europäisches Niveau gehabt. Seither gibt es dort eine geradezu exponentiale, außerordentliche Entwicklung der Gefängniszahlen, mit denen selbst Amerikaner nicht wissen, wie sie sich damit auseinander setzen können. Zwei prominente amerikanische Kriminologen nahmen bei der Suche nach einem Titel für ihr Buch, in dem sie diese Entwicklung zu analysieren unternehmen, Zuflucht zu sprachlichen Metaphern aus der Welt sinnlicher Exzesse, um ihren Gegenstand auf einen begrifflichen Punkt zu bringen. Sie sprechen von „America’s Imprisonment Binge“ – erst der Blick in den Oxford Wordfinder hat mich belehrt, dass „binge“ „a period of excessive drinking, eating etc.“ meint [ 11 ].Eine zweite Anmerkung zur ersten These: Gerade im Jugendstrafrecht zeigt sich auch in der Bundesrepublik, dass dort wieder eine härtere Gangart gefahren wird. Man diskutiert wieder über geschlossene Heime. Man räsoniert darüber, inwieweit Resozialisierung, Sozialisierung überhaupt, als Vollstreckungs- und insbesondere als Strafvollzugsziel aufrechtzuerhalten ist. Man überlegt, inwieweit zumindest auf Heranwachsende das Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist usw. Dem 64. deutschen Juristentag im Herbst vergangenen Jahres hat der Direktor der kriminologischen Abteilung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht ein Gutachten zu der Frage : „Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?“ vorgelegt und diese Frage insofern verneint, als er vehement „gegen die Beibehaltung des Erziehungsziels“ im Jugendstrafrecht votiert hat – damit fast so etwas wie einen Tabubruch beging, obwohl er diesen mit den kontraproduktiven Effekten des derzeitigen Jugendstrafrechts begründete und rechtfertigte.Insgesamt möchte ich mich für die erste These abschließend auf zwei Gewährsleute beziehen. Mein erster Zeuge ist der derzeitige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer. Dieser hat vor zwei Jahren in einem Vortrag diese Feststellung getroffen: „Seit ich meine strafende Umwelt mit wachen Augen beobachten kann, habe ich nie so viele selbstverständliche Strafbereitschaft, ja Straffreude wahrgenommen wie heute.“ [ 13 ]Der zweite Gewährsmann ist für mich einer der scharfsinnigsten Beobachter der angelsächsischen Entwicklung, D. Garland, ein englischer Kriminologe und Jurist, der zur Zeit an der renommierten Law School der New York University lehrt und forscht. In einem vor zwei Jahren erschienenen Studie hat er anhand einer Fülle reichhaltigen empirischen Materials aus den USA sowie Großbritanniens vornehmlich für diese beiden Länder, durchaus aber über sie hinaus zielend, festgestellt, dass sich eine sehr grundsätzliche Wende auf dem Gebiet der Kriminal- und Sicherheitspolitik verzeichnen lasse, die auf eine Abschaffung und Stornierung des wohlfahrtsstaatlichen Strafrechts hinaus laufe [ 14 ].These 2: Die punitive GesellschaftEs gibt eine Zunahme der Punitivität in modernen Gesellschaften. Mit Punitivität meine ich, dass in der Gesellschaft Erwartungen, Haltungen zu beobachten sind, die mehr und mehr nach Strafe als geeignete Antwort auf bestimmte Probleme, auf Verunsicherungen usw. verlangen. Das ist allerdings schwer zu belegen und empirisch auszumachen. Der bloße Hinweis auf schärfere Gesetze und den Ausbau der Sicherheitsbehörden genügt nicht. Deshalb gestatten Sie mir, dass ich neben der Beobachtung, die ich gerade von Herrn Hassemer zitiert habe, auch drei Stimmen als Belege für meine These zu Worte kommen lasse, die sich wiederum auf nicht-deutsche Länder, nämlich erneut die USA, sodann aber auf Großbritannien und Frankreich beziehen. Sie stützen meine These, dass die von mir vertretene Behauptung einen Entwicklungsprozess im Auge hat, der in der Tat nicht nur aus irgendwelchen idiosynkratischen Beobachtungen oder Empfindlichkeiten resultiert, sondern sehr nachhaltige und massive Tendenzen repräsentiert.So traf ein amerikanischer Kriminologe schon im Jahre 1991 in einem Buch mit dem Titel „The Politics of Street Crime. Criminal Process and Cultural Obsession“ die folgende Feststellung: „Die Amerikaner sind besessen von der Straßenkriminalität. Wie lässt sich diese Obsession erklären? … Unsere Zwangsvorstellung ist nur teilweise mit der extrem hohen Kriminalitätsrate zu erklären, die dieses Land seit mehr als einem Vierteljahrhundert plagt … dass unsere Obsession mit Kriminalität ein Eigenleben führt…“. [ 15 ]Für England hat eine englische Rechtsprofessorin vor kurzem davon gesprochen, dass sich in England ein Verlust der Gerechtigkeit als regulative Idee konstatieren lasse [ 16 ]. Sie sagt genauer: „Die Gerechtigkeit verliert an Bedeutung. Tatsächlich scheinen unsere Gesellschaften den Diskurs, ja selbst das Vokabular der Gerechtigkeit zu verlieren. Wir befinden uns in der Gefahr, dass uns die Differenz zwischen Gerechtigkeit und Rache verloren geht“. Und noch deutlicher sagt sie: „Gerechtigkeit scheint in der öffentlichen und politischen Diskussion synonym mit Bestrafung gebraucht zu werden. Wenn Opfer oder allgemein die Öffentlichkeit Gerechtigkeit einfordern oder deren Ausbleiben beklagen, ist das gleichbedeutend mit der Forderung, dass der Täter oder Täter überhaupt zu bestrafen oder auch härter zu bestrafen sind.“Für Frankreich konstatieren zwei Autoren, höhere Ministerialbeamte, die früher als Jugendrichter tätig waren, schon 1996 in einem Buch mit dem suggestiven Titel „La République penalisée“ [ 17 ], dass eine quantitative und qualitative Ausweitung des Strafrechts und seiner Sanktionen in Frankreich zu beobachten seien. Wörtliches Zitat: „Die unausgesprochene These der bestraften Republik lautet: Eine Ausweitung der Strafjustiz auf Personen, die bisher besonderen Schutz genossen, der massive Rückriff auf das Gefängnis als Antwort auf die durch den Neoliberalismus angerichteten Schäden, das Strafrecht als die neue Sprache, mittels derer die Mitglieder heutiger Gesellschaften ihre Beziehungen untereinander beschreiben.“Das sind drei Stimmen aus anderen, geographisch bzw. sozialstrukturell jedoch benachbarten Ländern. Es handelt sich in allen Fällen um Länder, die zwar historische und kulturelle Unterschiede aufweisen, aber von denen sich unwidersprochen sagen lässt, dass sie allesamt zur Gruppe der industriell und ökonomisch avanciertesten und „modernsten“ Länder der Welt gehören: Beispiele und Vorreiter umfassender „Modernisierung“ sind – ein Konzept, das insbesondere seit dem Zusammenbruch des Sozialismus wieder an Prominenz gewonnen hat.Lassen Sie mich jetzt einen zusätzlichen Blick auf die Bundesrepublik werfen. Für unser Land lässt sich die Frage nach der Punitivität innerhalb der Gesellschaft direkter und umwegloser beantworten, als ich dies für die übrigen zitierten Gesellschaften getan habe. Als einen Beleg für die behauptete punitive Tendenz in der Bundesrepublik möchte ich mich auf eine Untersuchung des Bielefelder Soziologen Heitmeyer und seines Instituts für Gewalt- und Konfliktforschung berufen. Diese Studie ist die erste Folge einer in den nächsten zehn Jahren alljährlich zu wiederholenden „Zustands“erfassung der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Minoritäten und sonstigen marginalisierten Teilgruppen der Gesellschaft. Jeweils 3.000 repräsentativ ausgewählte Männer und Frauen in der Bundesrepublik werden in Bezug auf ihre „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ befragt. Die Ergebnisse der ersten Welle dieser als mehrjähriges (negatives) „Stimmungsbarometer“ angelegten Untersuchung sind im Dezember 2002 im Suhrkamp-Verlag – unter dem beziehungsreichen (Heine)Titel „Deutsche Zustände“ – und in der Zeit dokumentiert worden. [ 18 ]Ich möchte aus dieser Studie als Beleg für meine These der punitiven Attitüden in der Bundesrepublik zwei Ergebnisse mitteilen. Einerseits sind die 3.000 Befragten um eine Stellungnahme zu der folgenden Feststellung gebeten worden: „Verbrechen sollten härter bestraft werden“. Die Befunde dazu sprechen eine erschreckend deutliche Sprache: 64,4 % der Befragten, also zwei von dreien, stimmen dieser Feststellung voll zu, weitere 23,1 % stimmen ihr „eher“ zu – nur 2,2 % haben gesagt: „stimme überhaupt nicht zu“ und weitere 10,3 % antworteten: „stimme eher nicht zu“. Insgesamt haben durchschnittlich mehr als vier von fünf Befragten der Aussage ganz oder eingeschränkt zugestimmt [ 19 ].Ein zweiter Befund an gleicher Stelle unterstreicht die vorstehend mitgeteilte Tendenz weiter: Dabei wurden die Befragten um eine Stellungnahme zu nachstehender Feststellung gebeten: „Um Recht und Ordnung zu bewahren, sollte man härter gegen Außenseiter und Unruhestifter vorgehen.“ Auch dieser Forderung haben 52,1 % der Befragten voll und 28 % „eher“ zugestimmt – lediglich 3,8 % haben die Feststellung ganz oder „eher“ abgelehnt.Insgesamt lässt sich aus den mitgeteilten Zitaten und Beobachtungen aus den drei zum Vergleich herangezogenen Ländern sowie aus den direkten „Punitivitäts“-Befunden der Bundesrepublik auf ein stark ausgeprägtes „Strafbedürfnis“ schließen. Die bereits oben erwähnte Behauptung von Hassemer findet in diesen Zitaten und Befunden eine eindrucksvolle empirische Bestätigung. Es stellt sich die Frage, ob die Befunde eine neue Tendenz darstellen oder ob es sich um Beobachtungen handelt, die gleichsam eine gesellschaftliche und überhistorische Konstante darstellen. Während die mitgeteilten Befunde über die USA, England und Frankreich keinen Zweifel daran lassen, dass man in diesen Ländern mit einer völlig neuen Situation und einer gestiegenen Punitivität konfrontiert ist, lassen die Daten aus der Heitmeyer-Untersuchung zunächst nur punktuelle Schlüsse zu.Es gibt jedoch Anhaltspunkte aus anderen Untersuchungen, die auch für die Bundesrepublik die Beobachtung einer punitiven Trendwende stützen. Anfang der 90er Jahre ist mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft von Sessar ein Projekt durchgeführt worden, dessen Ergebnis in einer Publikation mit dem Titel „Wiedergutmachen oder strafen?“ dokumentiert worden ist [ 20 ]. Er hat damals aufgrund seiner Befunde der Gesellschaft ein gegenüber dem Strafrecht und seinen Funktionsträgern fortgeschrittenes „Bewusstsein“ in der „Verarbeitung“ von Kriminalität festgestellt: Die Gesellschaft ist längst weiter als das Strafrecht selbst. Die Gesellschaft setzt auf Wiedergutmachung, auf nicht-punitive Reaktionen. Im Gegensatz dazu halten Staatsanwälte, Strafrechtler, Juristen usw. an punitiven, an strafenden Reaktionen fest. Dagegen sprechen die heutigen Befunde aus der Untersuchung von Heitmeyer eine deutlich andere und konträre Sprache – wobei hinzuzufügen ist, dass die Erhebungen der Studie von Sessar Mitte der achtziger Jahre, also etliche Jahre vor den großen gesellschaftlichen Umbrüchen, durchgeführt worden sind.These 3: Die falsche Fährte der KriminalitätIch komme zu meiner dritten These. Sie lautet – kurz gefasst: Diese punitive Entwicklung, diese Straffreude und dieses Verlangen nach Strafe in der Gesellschaft hat nichts bzw. nur wenig zu tun mit gestiegener Kriminalität. Pointierter noch: Sie hat überhaupt nichts mit Kriminalität, sondern mit anderen bedeutenden Entwicklungen und Wandlungen gesellschaftlicher Art zu tun. Man macht es sich zu leicht, so meine These, wenn man einen Zusammenhang unterstellt und am Werke sieht, der in der amerikanischen Diskussion als „democracy at work“ bezeichnet wird. Hierunter wird die folgende kausale Sequenz und abfolge verstanden: Die Kriminalität in der Gesellschaft steigt, daraus resultiert eine Verunsicherung der Gesellschaft, d.h. das sogen. „subjektive Sicherheitsempfinden“ schwindet; dieses setzt sich um in Erwartungen der Gesellschaft an Politik und Politiker, die daraus den sogen. „Handlungsbedarf“ ableiten. Und die der gesellschaftlichen und politischen Routine gemäße Antwort auf diese Erwartungen bestehen im notorischen Rückgriff auf das Instrumentarium des Strafrecht, bedeuten mit anderen Worten eine Politik des „more of the same“. Damit bewegen wir uns in einer „nach oben offenen“ Spirale innerstaatlicher Repression und Aufrüstung. Die von mir – im Anschluss an eine Reihe anderer, hauptsächlich nicht-deutscher Kriminologen und Beobachter [ 21 ] – vertretene These lehnt den skizzierten Wirkungszusammenhang ab und postuliert kausale Beziehungen anderer Art als diejenigen, die im engeren Sinne mit Kriminalität, mit Sicherheit und mit Sicherheitspolitik zu tun haben. Diese sind Gegenstand meiner letzten, vierten These.These 4: Gesellschaftlicher Wandel und Repression (eine Hypothese)Meine letzte These nimmt den Titel meines Beitrages etwas ausführlicher auf: Regieren mittels Kriminalität – governing through crime. Wie ich bereits eingangs erwähnte, war dies ursprünglich der Titel eines Beitrages eines amerikanischen Kriminologen, der auch auf die eigene Gesellschaft bezogen war. Es gibt andere Autoren, die ebenfalls dieser Argumentation folgen, wenn auch nicht unter dieser Begrifflichkeit [ 22 ]. Demnach wird in unseren Gesellschaften eine Sicherheitspolitik betrieben, die sich aus anderen Zusammenhängen speist als denen, mit denen dieses Politikfeld üblicherweise argumentiert. Im Anschluss an diese empirische und theoretische kriminologische Forschung stellt die Kriminalpolitik, so wie wir sie erfahren und wie ich sie skizziert habe, einen Reflex auf allgemeine strukturelle und kulturelle Wandlungen der Gesellschaft dar. Herr Albrecht hat heute Morgen in der Diskussion als Stichwort auf die Frage, wo eigentlich die Triebkräfte für die von ihm gegeißelte, den Rechtsstaat schleifende „innere „Aufrüstung“ zu suchen seien, das Stichwort der Flexibilisierung in die Diskussion gebracht. Ich würde – genauer noch in diese Richtung argumentierend – das Stichwort der Marktgesellschaft hinzufügen, das eine zusätzliche Plausibilität und wesentliche Präzisierung erlaubt, um welche gesellschaftlichen Prozesse und Wandlungen es sich handelt, aus denen neben der Flexibilität eine Reihe anderer Merkmale und Anforderungen an die Menschen in den heutigen Gesellschaften resultieren. Mehr und mehr entwickeln sich moderne Gesellschaften zu solchen Marktgesellschaften. Vor Jahren schon hat die New York Times sehr treffend und merkfähig getitelt: „From P.C. to E.C“ – von „political correctness“ zu „economical correctness“..Ein anderes Stichwort, das in diese Richtung verweist, ist das der Entwicklung „neoliberaler“ Gesellschaften – mit ihren bekannten ökonomisch-politischen Unterbegriffen: Deregulierung, Entstaatlichung, Privatisierung, Individualisierung. Als konkrete, in den sprachlichen Alltagsjargon längst integrierte politische Manifestation nenne ich die mehr berüchtigte als berühmte Ich-AG. Sie verweist auf Individualisierung und auf Individualisierungsprozesse, die in der Tat Gesellschaften brüchig machen und die den zu allererst ökonomischen, vor allem den Arbeitsmarkt tangierenden Akzent dieser Entwicklung herauskehren. Hier komme ich zurück auf das Zitat von Margret Thatcher, das ich bereits oben für meine Argumentation herangezogen habe: „There is no such thing as society“.Die Gesellschaften verlieren auf diese Weise gewissermaßen die Aspekte, die Dimensionen, die Institutionen und die Kräfte, die Gesellschaften erst zu Gesellschaften und sozialen Gebilden machen. Ein englischer Politologe hat die Politik, besser noch: das Projekt der Thatcher-Regierung einmal auf den plakativen Nenner und Buchtitel gebracht: „The Free Economy and the Strong State“ [ 23 ]. Also die Entfesselung der Wirtschaft auf der einen Seite und den Rückgriff auf polizeiliche, auf repressive Funktionen und Strukturen des Staates auf der anderen Seite. Im soziologischen und politischen Klartext bedeutet diese Formel die Ersetzung der integrierenden sozialen Institutionen normativer Art und Prägung durch die harte Hand des staatlichen Gewaltprivilegs und seiner Sicherheitsinstanzen.Lassen Sie mich abschließend eine Beobachtung und Feststellung treffen, deren Zeugen wir alle alltäglich sind. Was man in der Tat in den avancierten modernen Gesellschaften, in unserer Gesellschaft, in der amerikanischen, in der englischen Gesellschaft erfahren kann: Eine Parallelentwicklung des Abbaus des Sozial- und Wohlfahrtsstaats und des Aufbaus des Sicherheitsstaats [ 24 ]. In Kalifornien hat es bereits vor Jahren einen amerikaweiten Aufschrei gegeben, als erstmalig das Budget für „higher education“ zurückfiel hinter das Budget für „corrections“- die Strafvollstreckung hat man sich mehr kosten lassen als die höhere Bildung. Darin drückt sich eine Politikverschiebung bzw. komplementäre Entwicklung auf unterschiedlichen und separaten Politikfeldern aus, die auf die gleichen ökonomischen Kräfte und Prozesse zurückgreift. Der französische, an der kalifornischen Universität Berkeley lehrende Soziologe L. Wacquant hat diese Entwicklung auf den Nenner gebracht: „Vom wohltätigen zum strafenden Staat“ [ 25 ].Diese komplementäre Entsprechung der Bewegung unterschiedlicher Politikfelder lässt sich noch wesentlich direkter demonstrieren. In der Wirtschaftspolitik spricht man ja etwa von dem Wechsel von einer „nachfrage-“ zu einer „angebotsorientierten“ Wirtschaftspolitik, von der in diesem Politikfeld hegemonialen Ablösung des englischen Ökonomen J. M Keynes durch den amerikanischen Chicago-Ökonomen M. Friedman. Auch in der Kriminalpolitik finden wir eine Umstellung von einer nachfrage- zu einer angebotsorientierten Strategie. Das heißt, die Kriminalpolitik, die derzeit in den von mir betrachteten Ländern betrieben wird, ist eine Politik, die darauf hinausläuft, Kriminalität teurer zu machen, indem mehr Eigentumsschutz stattfindet, indem mehr Polizei eingestellt wird, indem mehr Barrieren zum Schutz des Rechtsgutes errichtet werden usw. Auch die vielfachen präventiven Anstrengungen in der Kriminal- und Sicherheitspolitik in den betrachteten Ländern folgen einer Logik der Angebotspolitik. Eine solche Politik geht deutlich und nachhaltig zu Lasten einer nachfrageorientierten Kriminalpolitik – einer Kriminalpolitik in anderen Worten, die darauf gesetzt hat, dass man durch Sozial-, Bildungs-, Arbeitsmarkt-, generell: durch Gesellschaftspolitik gesellschaftliche Bedingungen herstellen kann, die die Mitglieder einer Gesellschaft mit Gelegenheiten, Ressourcen und Möglichkeiten ausstatten, die dazu beitragen, die Mitglieder der Gesellschaft von der Welt der Regelverletzung und der Kriminalität fern zu halten. Die Strategie einer nachfrageorientierten Kriminalpolitik lässt sich – ein wenig übermütig und pointiert formuliert – als eine Politik des „governing through crime“ charakterisieren.* Der Beitrag ist eine vom Autor selbst redigierte Fassung seines Konferenzvortrags.[ 1 ] Vgl. J. Simon, Governing Through Crime, in: G. Fisher und L. Friedman, Hrg., The Crime Conundrum: Essays on Criminal Justice, New York 1997, S. 171-190.[ 2 ] Vgl. für die amerikanische Situation K. Beckett, Making Crime Pay. Law and Order in Contemporary Ameri-can Politics, New York 1997.[ 3 ] D.C. Anderson, Crime and the Politics of Hysteria. How the Willie Horton Story Changes American Justice. New York 1995.[ 4 ] Vgl. hierzu: J. Simon, Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat, in: T. v. Trotha (Hrsg.), Soziologie der Gewalt, Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1997, S. 279-301, S. 279.[ 5 ] Ebda.[ 6 ] Vgl. hierzu D. Downes and R. Morgan, The Skeletons In the Cupboard. The Politics of Law and Order at the Turn of the Millennium, in: The Oxford Handbook of Criminology, ed. by M. Maguire, R. Morgan and R. Rei-ner, 3rd Ed., Oxford 2002, S. 286-321.[ 7 ] Vgl. hierzu eine skeptische Bilanz bereits aus den Anfangsjahren der Blair-Periode: I. Brownlee, New Labour – New Penology? Punitive Rhetoric and the Limits of Managerialism in Criminal Justice Policy, in: Journal of Law and Society 25/3(1998), S. 313-335.[ 8 ] G. Munier (Hrsg.), Kriminalität und Sicherheit, Berlin 2002.[ 9 ] Diese kriminalpolitische Maxime vertritt K. Edler, ehedem führend bei den Hamburger Grünen, in seinem Beitrag „Ein Trend namens Schill. Zum Wahlerfolg von ?Richter Gnadenlos‘ in Hamburg“, in G. Munier, op. cit., S. 105-117, 116.[ 10 ] Diesen Gedanken hat der amerikanische Strafrechtswissenschaftler und Kriminologe H. L. Packer unter dem Titel „The Limits of Criminal Sanction, Stanford, Cal., 1968, sehr eindrucksvoll ausgearbeitet; in der deutschen Diskussion hat sich vor allem W. Hassemer der Spannung zwischen rechtsförmiger und effizienter Kriminali-tätskontrolle gewidmet.[ 11 ] Es handelt sich um das Buch von J. Irwin, einem Kriminologen mit eigener Knast-Erfahrung, und J. Austin, dem Vize-Präsidenten des National Council of Crime and Delinquency: It’s About time. America’s Imprisonment Binge, Belmont, Cal.. 32001.[ 13 ] Hassemer hat diesen Vortrag Ende 2000 auf der Grossen Juristenwoche Nordrhein-Westfalen in Recklinghau-sen gehalten. Er ist in der FR v. 20.12.00 in verkürzter Form unter dem Titel „Die neue Lust auf Strafe“ dokumentiert und u.a. im Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte Bd. 2 (2000/2001), hrsg. v. Th. Vormbaum, Baden-Baden 2001, S. 458-484, unter dem Titel „Gründe und Grenzen des Strafens“ publiziert worden.[ 14 ] D. Garland, The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, Oxford/New York 2001; Garland hatte eineinhalb Jahrzehnte zuvor eine Studie über jenes „penal system“ vorgelegt, dessen Ab-schaffung er jetzt dokumentierte und analysierte: Punishment and Welfare: A History of Penal Strategies, Aldershot 1985.[ 15 ] Vgl. St. A. Scheingold, The Politics of Street Crime. Criminal Process and Cultural Obsession, Philadelphia 1991, S. XI: „Americans are obsessed with street crime…. How is this obsession to be explained? … our obses-sion is only partly due to the extraordinary high levels of street crime that have plagued this country for more than a quarter of a century … that our obsession with crime has a life of its own.“ (dt. Übers. F.S.)[ 16 ] Vgl.. Hudson, Barbara, Punishment, rights and difference: defending justice in the risk society, in: Kevin Sten-son and Robert R. Sullivan (Hrsg.), Crime, Risk and Justice. The politics of crime control in liberal democracies, Willan Publ. 2001, S. 144-172.S. 144: “ …our societies seem to be losing sight of the importance of justice as a regulative ideal. Commitment to justice is weakening; indeed, our societies seem almost to be losing a discourse, even a vocabulary, of justice. What is in danger of being lost is understanding of the difference between ‚justice‘ and ‚vengeance'“ . Sie präzisiert: „‚Justice‘ in popular and political discourse , seem now to be synonymous with ‚punishment‘. When victims or the public generally, talk of wanting justice, or being denied justice, what is meant is a demand for an offender, or offenders, to be punished more severely“ (S. 144/5). (dt. Übers. F.S.).[ 17 ] Antoine Garapon und Denis Salas, La République pénalisée, Paris 1966. Zitate sind dem Klappentext ent-nommen (dt. Übers. F.S.)[ 18 ] W. Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände – Folge 1, Frankfurt a.M. 2002. Die Volkswagen-Stiftung hat sich bereit erklärt, für die nächsten zehn Jahre eine laufende Registratur dieser Tendenzen, die dort erfragt worden sind, durchführen zu lassen. Ebenso hat sich die Zeit auf eine finanzielle Beteiligung und publizistische Unter-stützung festgelegt.[ 19 ] Sämtliche hier mitgeteilten Befunde sind Heitmeyer 2002, S. 60, entnommen.[ 20 ] Vgl. K. Sessar, Wiedergutmachen oder strafen. Einstellungen in der Bevölkerung und der Justiz, Pfaffenweiler 1992.[ 21 ] Stellvertretend für viele andere Autoren möchte ich hier auf die ausgezeichnete empirische Studie von K. Beckett, Making Crime Pay. Law and Order in Contemporary American Politics“, New York. 1997. Der amer-kanischen Kriminologin gelingt der Nachweis, dass politische und mediale Konjunkturen der Thematisierung von Kriminalität und Kriminalpolitik zeitlich und sachlich von der Entwicklung der Kriminalität und auch speziell der des Drogenkonsums abgekoppelt sind.[ 22 ] Vgl. den ausgezeichneten Rezensionsaufsatz über das erwähnte Buch von D. Garland (Anm. 14) von J. Young, Searching for a New Criminology of Everyday Life: A Review of „The Culture of Control“, in: The British Journal of Criminology, Vol. 22 (2002), S. 228-261.[ 23 ] A. Gamble, The Free Economy and the Strong State. The Politics of Thatcherism, 2. erw. u. aktual. Aufl., Palgrave 1994.[ 24 ] Vgl. hierzu F. Sack, Von der Nachfrage- zur Angebotspolitik auf dem Feld der Inneren Sicherheit, in: Heinz-Jürgen Dahme, Hans-Uwe Otto, Achim Trube und und Norbert Wohlfahrt (Hrsg.), Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat, Opladen 2003, S. 249-276.[ 25 ] Wacquant, L. J. D., Vom wohltätigen Staat zum strafenden Staat: Über den politischen Umgang mit dem Elend in Amerika, in: Leviathan, Bd. 50(1997), S. 50-66.

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