Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess
aus: HU-Mitteilungen Nr. 145 (März 1994), S. 6/7
Als am 20. Dezember 1963 kurz nach 9.00 Uhr im Großen Saal des Frankfurter Römer die Strafsache „gegen Mulka und andere“ aufgerufen wurde, begann etwas, was bis dahin teils gar nicht, teils nur halbherzig betrieben wurde: die strafrechtliche und darüber
hinaus historisch-moralische Aufarbeitung des schlimmsten Kapitels der NS-Verbrechen. Anlaß genug, um fast genau 30 Jahre danach in einem öffentlichen Kongreß (17.-19.12.1993) mit Hilfe von überlebenden Lagerhäftlingen, Juristen, Historikern, Psychologen, Kulturwissenschaftlern und Journalisten dieses wichtigen Ereignisses der deutschen Rechtsgeschichte zu gedenken. Erinnert wurde auch an den Mann, der sich wie kein anderer, gegen den Widerstand seiner meisten Kollegen, in einer Reihe von Verfahren um die Verfolgung der Verbrechen bemüht hat: des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer. Fritz Bauer, 1968 im Alter von 64 Jahren verstorben, wäre 1993 neunzig Jahre alt geworden. Daß der „Auschwitz-Prozeß“ damals zustande kam, ist vor allem seinem Einsatz zu verdanken.
Der Auschwitz-Prozeß war ein wichtiger Teil des Selbstfindungsprozesses einer gegenüber den Eltern kritisch gewordenen Nachkriegsgeneration. So fanden sich denn viele der an dieser Selbstfindung Beteiligten nun als Teilnehmer des Kongresses wieder zusammen. „Historisch“ waren auch die Kongreßräume: der Plenarsaal im Frankfurter Römer, wo der Auschwitz-Prozeß eröffnet wurde; und das Gallus-Haus, wo der Prozeß nach 183 Verhandlungstagen am 20. August 1965 sein Ende fand.
Bei „Nur-Juristen“ habe ich oft erlebt, daß sie die Schrecknisse der Jahre 1933 bis 1945 eher unbeteiligt, wie aus einem Zuschauerraum, erfassen, aber den damit an uns gerichteten Fragen ausweichen. Hier war alles anders. Als Hermann Langbein, selbst überlebender Auschwitz-Häftling, während seines Vortrags mit den Tränen kämpfte, weinten viele der Zuhörer mit Langbein – von ihm als Generalsekretär des Auschwitz-Komitees waren wichtige Anstöße für das Verfahren ausgegangen – schilderte nebenbei das mangelnde Einfühlungsvermögen der Frankfurter Justiz, die die Zeugen (vielfach aus den Ostblock-Staaten) nach Frankfurt lud, ohne rechtzeitig für Unterkunft oder wenigstens die nötigsten Geldmittel zu sorgen, eine zusätzliche Belastung für Menschen, die es schwer genug damit hatten, erneut mit dem erlittenen Grauen konfrontiert zu werden. Erst ein von Trude Simonsohn gegründetes Bürgerkomitee nahm sich schließlich der Zeugen an.
Die Berichte der Zeitzeugen gehören zu den eindrucksvollsten Abschnitten des Kongresses: In einem breiten Bogen der Gespräche und Referate kamen u. a. Zeitzeugen und Experten wie Hermann Glaser, Joachim Perels, Heinrich Hannover, Ilse Staff und Eva Demski zu Wort. Ein Vortrag befaßte sich mit Peter Weiss‘ Stück „Die Ermittlung“ (1965) als Modell für den Einfluß des Auschwitz-Prozesses auf die Politisierung der sechziger Jahre.
Immer wieder war der Kongreß überschattet durch die Enttäuschung über die begrenzte Wirkung der ja bis in die letzten Jahre behinderte Aufarbeitung des NS-Unrechts. In diesem Zusammenhang kam der Hinweis auf ein anderes Verfahren, dem Fritz Bauer eine nicht geringere Bedeutung beigemessen hatte als dem Auschwitz-Prozeß: das Verfahren gegen ursprünglich 30 Oberandesgerichtspräsidenten, Generalstaatsanwälte und andere Vertreter der NS-Juristenprominenz wegen ihrer Beteiligung an der Ermordung von 71.088 Geisteskranken durch widerspruchslose Entgegennahme der Weisung des Reichsjustizministers, Strafanzeigen der Angehörigen oder Hilferufe der bedrohten Mordopfer „unter den Teppich zu kehren“ (vgl. dazu Kramer, Kritische Justiz 1984, S. 25 ff). Fritz Bauer hatte dieses Verfahren alsbald nach der Einleitung der Auschwitz-Ermittlungen angepackt, ständig mit üblen Anfeindungen und damit kämpfend, daß seine Mitarbeiter ihn wegen seiner „Übernahmefreudigkeit“ im Stich zu lassen drohten. Von vorneherein wurde das Verfahren durch den zuständigen Untersuchungsrichter in Limburg sabotiert und nach dem plötzlichen Tod Fritz Bauers (31.7.1968) von seinem Nachfolger gewissermaßen veruntreut. Dabei kam ihm das Desinteresse der Presse (die allerdings über den schmählichen Verfassungsausgang nicht unterrichtet war) entgegen. Der Öffentlichkeit ist eben mehr an dem unmittelbaren Tatgeschehen oder an einigen in einflußreiche Positionen gelangten inferioren Gestalten, wie etwa Adolf Eichmann, interessiert. Der besondere Tatbeitrag, mit dem die Eliten von Verwaltung, Wirtschaft oder des Militärs an den Verbrechen teilhatten, überschreitet anscheinend das Vorstellungsvermögen einer politisch ahnungslos gelassenen Öffentlichkeit. Dabei kann der Tätertyp des Juristen besondere Aufschlüsse geben. Der Unrechtsbeitrag der Juristen bestand in der „Verrechtlichung des Unrechts“, mit der sie nicht nur Menschen der Folter und dem Tode auslieferten, sondern überdies vor dem Verbrechen eine Legalitätsfassade errichteten. Nach zwei Jahrhunderten der Aufklärung werden staatliche Mordbefehle nun einmal nicht mehr ohne solche rechtliche Abschirmung ohne weiteres akzeptiert. Das „Oberlandesgerichtspräsidenten“-Verfahren wäre hervorragend geeignet, diesen Täteraspekt deutlich zu machen, dazu die Ursachen, die Juristen mit einer gediegenen Ausbildung zu reibungslos funktionierenden Handlangern des Unrechts-Staates werden lassen.
Der heute amtierende Frankfurter Generalstaatsanwalt, Dr. Hans-Christoph Schaefer, selbst aus einer typischen Verwaltungsjuristen-Karriere hervorgegangen, war von der Erörterung solcher Probleme weit entfernt. Schon 1984 hatte er öffentlich erklärt, auch Fritz Bauer hätte nach seiner festen Überzeugung den Antrag auf Außerverfolgungsetzung der angeschuldigten hohen Juristen stellen „müssen“ – eine leicht zu entkräftende Zumutung: Bei den Strukturen, die sich in vielen Justizministerien verfestigt haben, läßt sich eher sagen, daß ein Fritz Bauer, lebte er heute, nicht einmal Oberstaatsanwalt oder Ministerialrat werden würde – kein gutes Zeichen für die heutige Rechtskultur.
Fritz Bauer betrieb die Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrecher nicht nur, um die Untaten der Vergangenheit zu sühnen, sondern weil er auch an kommende Gefahren dachte. Es war deshalb ganz im Geist des Geehrten, wenn die Kongreßteilnehmer in die Bilanz der vergangenen 30 Jahre auch den Rechtsradikalismus der Gegenwart einbezogen. Bei dessen Bekämpfung gilt es auch, jenen Abwieglern entgegenzutreten, die etwa den Appell Fritz Bauers, die Bevölkerung solle aus den Auschwitz-Prozessen lernen, wohin bedingungsloser Gehorsam führe, als „vielleicht etwas überzögen“ abtun, wie dies Manfred Kittel, Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, neuerdings versucht hat. Um so erfreulicher war, daß die Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger durch ihre Anwesenheit und ein kurzes Statement die Bedeutung des Kongresses unterstrich und einigen Referaten mit sichtlicher Anteilnahme folgte.
Das Gelingen der Konferenz ist nicht zuletzt der Initiative und Rastlosigkeit von Elisabeth Abendroth und ihrer wohltuend unprätentiösen Art der Tagungsleitung zu verdanken. Schade nur, daß die HUMANISTISCHE UNION (auch als Verleiherin des Fritz-Bauer-Preises) nicht zu den Mitveranstaltern gehörte. Angeboten hatte sie schon längst ihre Zusammenarbeit.
Helmut Kramer