Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart
Aus: vorgänge Nr. 8-9/1968, S. 286-292
(vg) Am 21. Juni 1968 hielt Dr. Fritz Bauer, Hessischer Generalstaatsanwalt und Vorstandsmitglied der Humanistischen Union, in einer Vortragsreihe der HU „Evolution oder Revolution?“ in der Münchener Universität den Vortrag „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“. Am 30. Juni 1968 ist Fritz Bauer plötzlich verstorben. Der Münchener Vortrag wurde so zu Fritz Bauers letztem veröffentlichten Text. Er ist ein Plädoyer für die Sache von Ungehorsam und Widerstand gegen usurpierte staatliche Gewalt sowohl wie ein menschliches Dokument. Konzentriert in einem bestimmten Thema faßt dieser Vortragstext noch einmal das lebenslange Engagement Bauers für Demokratie, Freiheit, Humanität zusammen. Es ist zugleich eine Aufforderung an alle Freunde, dieses Engagement fortzusetzen und zu übernehmen.
Meine Damen und Herren!
Das Thema „Ungehorsam und Widerstand in Geschichte und Gegenwart“, vor mehr als sechs Monaten mit der Humanistischen Union vereinbart, hat durch die Aufnahme eines Rechts zum Widerstand in Artikel 20 unseres Grundgesetzes eine besondere Aktualität erlangt. Die Bestimmung ist, wie Ihnen ja gewiß geläufig, durchaus umstritten. Sie ist alles andere als ein juristisches Meisterstück. Kritiker der Notstandsgesetzgebung nennen die Bestimmung eine „Perversion des Widerstandsrechts“. Das Recht zum Ungehorsam und das Recht zum Widerstand, juristisch ius resistendi genannt, sind historisch überlieferte Institutionen, deren Inhalt nicht beliebig umfunktionalisiert werden kann.
Gewiß ist oft strittig gewesen, ob ein Recht zum Ungehorsam und ein Recht zum Widerstand bejaht oder verneint werden soll. Es war immer offen, wem dieses Recht zusteht, jedem einzelnen, einer Mehrheit des Volkes oder einer elitären, wie immer auch zu bestimmenden Gruppe. Es war kontrovers, wann es aktuell würde. Es wurde gefragt, ob es nur gegen den Machtusurpator zur Anwendung gelangen könne oder auch gegen den, der legal zur Macht gekommen war, sie aber dann mißbrauchte.
Man unterschied in der Rechtsgeschichte den tyrannus quo-ad titulum – Usurpator – und den tyrannus quoad exsecutsflnem – den ungerechten Herrscher. Es gab noch viele weitere Streitfragen dieser Art, immer aber stand außerhalb jeder Diskussion, daß mit dem Recht auf Ungehorsam und dem Recht auf Widerstand ein übergesetzliches Recht eines Menschen oder eines Volkes oder einer Repräsentation des Volkes, ein Grund- und Freiheitsrecht gegenüber dem Staat gemeint gewesen ist. An diesem jahrtausendealten Sach- und Rechtsverhalt kann nicht gerüttelt werden.
Schon im Epheser-Brief des Paulus heißt es: „Wir kämpfen mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt. Um deswillen ergreifet den Harnisch Gottes, auf daß ihr an dem bösen Tage Widerstand tun und das Feld behalten möget. So steht nun, umgürtet an euren Lenden mit Wahrheit und angezogen mit dem Panzer der Gerechtigkeit.“ Dies ist eines der berühmten Worte, die die Geschichte des Widerstandsgedankens begleitet haben. Religionen und Moraltheologien, Ethiken, Rechtslehre und Rechtspflege hätten durch die Jahrtausende hindurch mit der Institution der Notwehr und der Nothilfe operieren können. Sie haben aber das Wort „Widerstandsrecht“ – ius resistendi – geprägt, um die Abwehr staatlichen Unrechts aus dem allgemeinen Notwehrbegriff herauszuheben, den Kampf gegen ein rechtswidriges Establishment.
Alle im Namen des Widerstandsrechts erfolgten Handlungen, auch Unterlassungen im Sinne des Ungehorsams, sind der Versuch einer Kritik, einer Einflußnahme, einer Korrektur staatlichen Geschehens, das gewogen und möglicherweise zu leicht befunden wird. Maßstab ist, so wie das Widerstandsrecht durch die Jahrhunderte überkommen ist, freilich nicht ein neues Recht, sondern immer ein altes Recht, das nach Auffassung der Widerstandskämpfer von Staats wegen gebeugt wird.
Widerstandsrecht meint nicht Revolution, sondern Realisierung eines bereits gültigen, aber nicht verwirklichten Rechts. Freilich, was theoretisch durch die Jahrhunderte klar ist, braucht es noch nicht in der Praxis zu sein.
Widerstand gegen die Staatsgewalt ist ein fast mythischer Traum des Menschen. Die Überlieferung der Widerstandsidee unterscheidet nicht zwischen Wahrheit und Dichtung. Widerstand ist oft Realität gewesen. Der „Ewige Bund“ der drei Waldstätte – der Schweizer Eidgenossenschaft – ist ein Beispiel. Schiller, auf den ich noch zu sprechen kommen werde, war auch von der Geschichte des Abfalls der Niederlande von der spanischen Regierung fasziniert. „Wenn“ – so lesen wir bei ihm – „die schimmernden Taten einer verderblichen Herrschbegierde auf unsere Bewunderung Anspruch machen, wieviel mehr eine Begebenheit, wo die bedrängte Menschheit um ihre edelsten Rechte ringt und die Hilfsmittel entschlossener [287] Verzweiflung über die furchtbaren Künste der Tyrannei in ungleichem Wettkampfe siegen. Groß und beruhigend ist der Gedanke, daß gegen die trotzigen Anmaßungen der Fürstengewalt endlich noch eine Hilfe vorhanden ist, daß ihre berechnetsten Pläne an der menschlichen Freiheit zuschanden werden, daß ein herzhafter Widerstand auch den gestreckten Arm eines Despoten beugen kann.“
Dem Beispiel der Niederlande folgten später die amerikanischen Kolonien. Der zivile Ungehorsam oder passive Widerstand Ghandis und Nehrus hatten Erfolg. Sie ahmten mit neuen Mitteln das amerikanische Vorbild nach.
Aber mancher Widerstandskampf ist auch nur Wunschbild gewesen. Ein Volk sehnte sich nach einer Personifikation seines Widerstandswillens. Und zu seinen größten Helden zählte Athen den Harmodios und den Aristogeiton. „Ewig dauern wird euer Ruhm auf Erden, oh, Harmodios und Aristogeiton, da vor euch in Staub sank der Tyrann und ihr der Freiheit Tag brachtet dem Volk Athens“, so lautet ein berühmtes Trinklied der Athener. In Wahrheit waren Harmodios und Aristogeiton keine Widerstandskämpfen gewesen. Sie wurden zu Tyrannenmördern umgedeutet. Ganz private Affären führten zu ihrer Tötung durch die Staatsmacht. Aber das demokratische Athen brauchte Exempel eines Tyrannenmordes, um deswillen wurden sie zu den berühmten Widerstandskämpfern der Geschichte.
Die Schweizer haben, um ein weiteres Beispiel zu nennen, das ihre getan. Ich nannte schon den Bund der Waldstätte. Aber Wilhelm Tell ist ein germanischer Sagenheld. Der sagenhafte Egill des Nordens wurde zum Sinnbild erkoren. Er lebte nicht in der Schweiz.
Was ich versuche, ist ein dokumentarischer Beweis des Rechts zu Widerstand und Ungehorsam. Es gibt nämlich gar keinen anderen Beweis. Ich muß Sie bitten, nicht böse zu werden, wenn deswegen der Gang durch die Geschichte zu einer Zitatenhäufung führt und manche Passage nachher eher einer Dichterlesung denn einem juristischen Referat gleicht.
Für die Widerstandsidee und das Widerstandsrecht war zunächst die Antike geschichtsträchtig. Die Antigone des Sophokles begründet ihren Ungehorsam gegen Kreons Gesetz mit dem Hinweis auf die ungeschriebenen, festen Satzungen des Himmels. Sie beruft sich auf ihren Zeus, der nicht Kreons Zeus sei. Antigone nimmt ein himmlisches Recht zum Maßstab. Ein religiös fundiertes Naturrecht wird von ihr in Anspruch genommen.
Sokrates sprach in seiner Verteidigungsrede das Wort: „Dem Gott werde ich mehr gehorchen als euch.“ Dies Wort kehrt später in der Apostelgeschichte des Lukas wieder. Es ist zu einem Kernwort allen aktiven und passiven Widerstandes geworden.
Die Apologie des Sokrates ist überhaupt eines der schönsten Beispiele des Widerstandsgedankens. Dort hören wir die Worte des Sokrates: „Als die demokratische Verfassung abgeschafft war, wurde ich mit vier anderen ins Rathaus geholt und beauftragt, den Leon aus Salamis beizubringen, damit er sterbe. Auch viele andere hatten solche Aufträge erhalten, damit so viele als möglich in Verbrechen verstrickt würden. Auch damals habe ich nicht durch Worte, sondern durch die Tat gezeigt, daß ich mich um den Tod auch keinen Pfifferling kümmere, mehr als alles andere aber darum, kein Unrecht und keine Ruchlosigkeit zu verüben; denn mich konnte jene Regierung, so mächtig sie war, nicht derart einschüchtern, daß ich ein Unrecht begangen hätte, sondern als wir vom Rathaus herunterkamen, gingen die vier anderen nach Salamis und holten den Leon, ich aber ging nach Hause.“
In Rom war vorbildlicher Widerstandskämpfer Lucius Iunius Brutus, der Tarquinius Superbus vertrieb. Lucius Iunius Brutus war der große Vorfahre des Marcus Iunius Brutus, der gerade durch den Hinweis auf seinen Ahnen bestimmt wurde, sich an der Ermordung Caesars zu beteiligen. Livius und Cicero berichten stolz von Iunius Brutus, der den republikanischen Römischen Staat wiederherstellte. Iunius Brutus hat in Rom Geschichte gemacht. Er hat auch Recht geschaffen. Cicero, der Jurist, schrieb ihm die Lehre zu: niemand sei Privatmann, wenn es gelte, die Freiheit der Bürger zu bewahren, womit Widerstand als Recht und Pflicht gemeint war. Als Ciceros Schrift zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder entdeckt wurde, meinte der Herausgeber, diese Bemerkung sei abscheulich und im höchsten Grade revolutionär.
Für das Widerstandsrecht war aber das Alte Testament noch wichtiger. Weil es den Widerstand bis zum Tyrannenmord billigte, haben das christliche Mittelalter und die neuere Zeit Widerstand und Tyrannenmord anerkannt. Die Beispiele der Bibel werden bis in die Reformationszeit in fast ermüdender Weise immer wieder zitiert.
Ein Beispiel des Widerstandes sei aus dem Alten Testament genannt, die Verhaftung des Jeremias und die Verbrennung seiner Bücher. Es war die erste Bücherverbrennung der Geschichte. Aber Jeremias schrieb die Bücher wieder. Das Beispiel lautet: „Der König saß im Winterhause, vor sich das Kohlenbecken entzündet. Und es geschah: So oft Jehudi drei oder vier Spalten ausgerufen hatte, da riß jener sie mit des Schreibers Messer ab und warf’s ins Feuer, bis die ganze Rolle im Feuer war. Dann gebot der König, Jeremias, den Propheten, festzunehmen. Jeremias aber nahm eine andere Rolle, und er schrieb darauf alle die Reden des Buches, das Jojakim, der König von Juda, im Feuer verbrannt hatte, und hinzugefügt wurden zu ihnen viele andere ihresgleichen.“ [288]
Die entscheidende Quelle des Widerstandsrechts ist jedoch das germanische Recht. Der Herrscher ist nicht absolut, sondern vom Recht abhängig, es steht über ihm. Verletzt der Herrscher das Recht, wird er automatisch zum Nichtherrscher, gegen den Widerstand erlaubt ist. Der Beispiele gibt es genug. Der Mönch Manegold von Lauterbach, wortgewaltig wie später Luther, schrieb im Jahre 1083: „Wenn einer einem Hirten gegenangemessenen Lohn die Aufzucht seiner Schweine überläßt und dann feststellen muß, daß er die Schweine nicht hütet, sondern weglaufen läßt – würde da nicht der Eigentümer den versprochenen Lohn zurückbehalten und den Schweinehirten mit Schimpf und Schande entlassen? Um wieviel mehr muß dies gelten, wenn es um Menschen geht, deren Verhältnisse sich von Natur aus von denen der Schweine unterscheiden. Es entspricht der Gerechtigkeit, daß ein jeder Herrscher, der sich nicht getrieben fühlt, Menschen zu regieren, sondern der sie in die Irre führt, all der Macht und all der Majestät entledigt wird, die er über die Menschen empfangen hat.“
Das Radikale an dieser Stelle besteht nicht nur in dem respektlosen Vergleich von Kaiser und König mit einem Schweinehirten, sondern in dem eindeutigen Bekenntnis zur Volkssouveränität. Es war das erste Bekenntnis zur Volkssouveränität auf deutschem Baden. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus; die Obrigkeit ist sein Diener.
Ihre bedeutendste Formulierung fanden Widerstandsrecht und Widerstandspflicht im „Sachsenspiegel“, etwa 1215: „Der Mann muß auch seinem König und Richter, wenn dieser Unrecht tut, Widerstand leisten und helfen, ihm zu wehren in jeder Weise, selbst wenn jener sein Verwandter oder Lebensherr ist, und damit verletzt er seine Treupflicht nicht.“
Zur gleichen Zeit, im gleichen Jahr, wurde in England das Widerstandsrecht institutionalisiert. Die Magna Charta schuf einen Widerstandsausschuß von 25 Baronen. Die Charta enthält die Worte: „Diese 25 sollen nach allen ihren Kräften den Frieden und die Freiheit, die wir gewährt haben, wahren und festhalten. Falls wir oder sonst einer von unseren Amtsleuten irgendeine der Bestimmungen und der Sicherheiten übertreten sollten, so sollen diese 25 uns auf jede mögliche Welse pfänden und bedrängen, bis die Sache ins reine gebracht ist.“ Aus dem Widerstandsausschuß der 25 Barone – gewiß einer ständischen Institution – erwuchs die repräsentative Demokratie in England und anderswo, und das heutige Parlament und der Parlamentarismus haben ihre Wurzel im Widerstandsrecht.
Die mittelalterliche Kirche wurde mit dem germanischen Widerstandsrecht konfrontiert. Zwei Welten prallten zusammen. Das Staatenbild der Kirche war im Weltreich der Caesaren geformt worden. Die Idee eines Gottesgnadentums war römisch. Dagegen basierten die germanischen Staatsgründungen auf der Verantwortung aller Freien für ihre politische Geschichte. Theorie und Praxis der Demokratie, kurz, einer Regierung von Volkes Gnaden, stand in einem schwer überbrückbaren Verhältnis zu der römisch-christlichen Vorstellung eines göttlichen Kaiser- und Königtums.
Das Neue Testament ließ die Frage offen, und nach Paulus ist jedermann Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, denn „es ist keine Obrigkeit ohne von Gott“. Die Antithese finden wir in dem Wort der Apostelgeschichte. Ich habe es bereits vorhin zitiert: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
Der Katholizismus versöhnte Widerstand und Gehorsam durch seine Tyrannenlehre. Er entnahm sie Cicero. Der Tyrann gilt nicht als Obrigkeit. Die Kirche, die zunächst von dem Gebot des duldenden Gehorsams ausgegangen war, gelangte so unter dem Einfluß germanischen Denkens zu Recht und Pflicht eines Ungehorsams gegenüber staatlichem Unrecht.
Die protestantische Diskussion des Widerstandsrechts in Deutschland stand durch Jahrhunderte unter dem unglückseligen Stern obrigkeitsstaatlichen Denkens. Die Verbindung von ,,Thron und Altar“ ließ ein Widerstandsrecht inopportun, ja rechtswidrig erscheinen. Immerhin gibt es auch im deutschen Protestantismus lutherischer Herkunft deutliche Hinweise auf die Widerstandsidee.
In Luthers „Sermon von den guten. Werken“ lesen wir beispielsweise: „Den Untertanen gebührt der Gehorsam, daß sie allen ihren Fleiß dahin kehren, zu tun und zu lassen, was ihre Herren von ihnen begehren. Wo es aber käme, wie es oft geschieht, daß wirkliche Gewalt der Obrigkeit einen Untertanen wider die Gebote Gottes bringen würde, da geht der Gehorsam aus und ist die Pflicht aufgehoben. So, wenn ein Fürst Krieg führen wollte, der eine ungerechte Sache hätte, dem soll man gar nicht folgen und helfen, weil Gott geboten hat, wir sollen unsere Nächsten nicht töten noch Unrecht tun. Ebenso, so er ein falsches Zeugnis geben ließe, Rauben, Lügen, Betrügen und dergleichen, hier soll man eher Gott, Ehre, Leib und Leben fahren lassen, auf daß Gottes Gebot bleibe.“
In Luthers „Tischreden“ finden wir neben vielen anderen Bemerkungen zum Widerstandsrecht etwa folgende Sätze: „Wenn ein Tyrann einen von den Untertanen angreift und verfolgt, so greift er an und verfolgt die anderen alle. Daraus würde folgen: Wenn man es ihm gestatten würde, daß er das .ganze Regiment und Reich zerrütten, verwüsten und zerstören würde – die Rechte aber stehen über einem Herrn und Tyrannen. Die Rechte sind unwandelbar, allezeit gewiß und beständig. Ein Mensch ist aber wankelmütig und unbeständig und folgt seinen Lü- [289] sten. Darum ist man den Rechten mehr schuldig und verpflichtet zu folgen als einem Tyrannen.“
Im Gegensatz zum deutschen Protestantismus war der Calvinismus völlig eindeutig in seiner Bejahung der Widerstandsidee.
Shakespeare, um ihn herauszugreifen, weil er noch der leichtest verständliche ist, greift in seiner „Lucretia“ auf den ersten Brutus zurück. Dem zweiten Brutus, dem schwärmenden Idealisten, hat er in „Julius Caesar“ ein Denkmal gesetzt. Tyrannen, wie Richard III. und Macbeth, werden vom Thron gestoßen.
Milton und Locke wurden die Ideologen der „Glorious Revolution“. Karl I. wurde kraft des Rechts der Volkssouveränität, das sie vertraten, kraft des Widerstandsgedankens gerichtet. Schiller übernahm in der Rütli-Szene ziemlich wortgetreu die entscheidenden Formulierungen Lockes zum Widerstandsrecht:
„Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht:
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden
Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ewgen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst –
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht –
Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr
Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.“
Die Worte „Wenn kein andres mehr verfangen will“ finden Sie ja neuerdings auch im Grundgesetz.
Frucht des angelsächsischen Widerstandsdenkens war die Erklärung der amerikanischen Unabhängigkeit und die Konstituierung der Menschenrechte. Zu den Menschenrechten wurde das Widerstandsrecht gerechnet. Massachusetts hat 1775 formuliert: „Widerstand ist weit davon entfernt, verbrecherisch zu sein. Er ist die christliche und soziale Pflicht eines jeden.“
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt es: „Wenn eine lange Reihe von Mißbräuchen und Übergriffen die Absicht erkennen läßt, die Bürger absolutem Despotismus zu unterwerfen, so ist es ihr Recht und ihre Pflicht, eine solche Regierung zu beseitigen und sich um neue Bürgen für ihre zukünftige Sicherheit umzutun.“
In einem Brief von Jefferson steht sogar: „Welches Land kann seine Freiheiten bewahren, wenn seine Herrscher nicht von Zeit zu Zeit darauf hingewiesen werden, daß das Volk den Geist des Widerstandes bewahrt? Was bedeuten ein paar Leben, die in einem oder zwei Jahrhunderten verlorengehen? Der Baum der Freiheit muß von Zeit zu Zeit mit dem Blut der Patrioten und der Tyrannen aufgefrischt werden. Es ist sein natürlicher Dünger.“
Frankreich hatte seine Revolution. Es bekannte sich zu den Menschenrechten. Hierzu wurde sofort das Recht auf résistance gezählt. Anders in Deutschland. Die deutschen Philosophen machten im Kielwasser des autoritären Staates dem Widerstandsrecht der Jahrtausende den Garaus. „Wenn“, so schrieb Kant unter anderem, und es ist nur eines der vielen möglichen Zitate, „ein Volk durch eine Gesetzgebung seine Glückseligkeit mit größter Wahrscheinlichkeit einzubüßen urteilen sollte: was ist für dasselbe zu tun? – die Antwort kann nur sein: Es ist für dasselbe nichts zu tun als zu gehorchen.“ Dies ist unbedingt so, daß dem Untertan kein Widerstand als Gegengewalt erlaubt bleibt. Die Worte Kants, denen ganz ähnliche Hegels, auch, später etwa, Treitschkes und vieler anderer entsprechen, sind das Spiegelbild der sozialen Realität in Deutschland.
Die Deutschen, auch die Juristen, waren grundsätzlich gesetzesgläubig. Wir finden maßgebliche Formulierungen wie: „Der Staat ist rechtlich durch keine Schranke gebunden. Selbst brutale Gewaltakte würden, wenn sie in der Form des Gesetzes auftreten, für Gerichte, Verwaltungsbehörden, Untertanen verbindliche sein.“ Diesen Satz habe ich als junger Jurastudent hier in München an der Universität gehört und doziert bekommen. Gesetz ist Gesetz, Befehl ist Befehl.
Der Antinazismus – als Symbol möge die „Weiße Rose“ oder der 20. Juli 1944 dienen – führte dann zu einer Renaissance des Widerstandsgedankens in Deutschland. Professor Kurt Huber – seiner sei gerade in diesem Hause gedacht – sagte im Prozeß gegen die Geschwister Scholl: „Rückkehr zu klaren sittlichen Grundsätzen, zum Rechtsstaat, das ist nie illegal, sondern umgekehrt die Wiederherstellung der Legalität. Es gibt für alle äußere Legalität eine letzte Grenze. Ein Staat, der unter anderem jegliche Meinungsäußerung unterbindet, bricht ein ungeschriebenes Recht.“
Huber sprach von dem ungeschriebenen Recht. Das gleiche tat Antigone, die seit Jahrtausenden gültige literarische Repräsentantin des Widerstandsrechts. Seit Cicero wird die Tyrannis mit einer idealen Ordnung der Freiheit und Menschlichkeit konfrontiert und als Nichtstaat deklariert. Im „Sachsenspiegel“ wird schlechthin vom „Unrecht des Königs“ gesprochen, das zum Widerstand berechtigt und verpflichtet. In späteren Zeiten, besonders seit Milton und Locke, werden die Menschenrechte apostrophiert, die „droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst“.
Am deutlichsten wird das Problem im germanischen Recht sichtbar. Am Anfang stand das Wart des Tacitus in der „Germania“: „Und ihre Könige besaßen keine rechtlich unbegrenzte willkürliche Gewalt. Die aller Staatsgewalt gesetzte Grenze bildete das sogenannte [290] ‚gute alte Recht‘.“ Mit ihm war nicht nur der wohlerworbene Besitzstand gemeint, der ohne Zustimmung der Rechtsträger nicht beeinträchtigt werden durfte. Gedacht war vor allem an ein ideales, richtiges Recht, eben das „gute Recht“, das in die Vergangenheit verlegt wurde. Es war wie Paradies oder Goldenes Zeitalter eine rückdatierte Utopie. Und das gute alte Recht war, wie es in „Gottesgnadentum und Menschenrecht“ heißt, so sehr seiend, wirklich, geltend und stark, daß das positivierte Recht, insoweit es ihm nicht konform war, als Unrecht erschien.
Das gute alte Recht, das utopische, auch historisch camouflierte Recht – das gute alte Recht, das als Auslöser des Widerstandsrechts gedacht war, eine Idealordnung, die den Anstoß zum Widerstand gab, war naheliegenderweise sowohl Anlaß zu kämpferischer Bemühung um eine Wiedereinsetzung in den alten Stand, eine Wiedergewinnung verlorener Rechte, als auch Anlaß zu einer begrifflich mit dem Wort Widerstandsrecht und Widerstandspflicht unvereinbaren revolutionären Zerbrechung des positiven Rechts im Namen des „richtigen Rechts“, so wie es eben der einzelne und einzelne postulierten. Der Spannungszustand zwischen dem individuell oder kollektiv geforderten rechtlichen Soll und unserem Haben, zwischen der Rechtsidee auf der einen Seite und der Gesetzgebung und Gesetzgebungspraxis, Rechtsprechung, auf der anderen Seite, zwischen Verfassung dort und Verfassungswirklichkeit hier, damit zwischen Opposition und Establishment, ist dem Widerstandsrecht seit den ersten Tagen seiner Existenz zu eigen.
Der Spannungszustand ist eine existenzielle, juristisch kaum auflösbare Realität. Die Widerstandskämpfer sind deswegen auch in aller Regel tragische Helden. Erst die Weltgeschichte, die das Weltgericht ist, hat ihnen die Legitimation gegeben.
Ein Beispiel aus dem Widerstandskampf gegen die nazistischen Unrechtsträger sei hier genannt: General Oster teilte 1940 den neutralen, auch durch Nichtangriffspakte geschützten Ländern Dänemark, Norwegen, Holland und Belgien Angriff und Angriffsdaten der Deutschen mit; freilich, ohne mit seiner Mitteilung irgendwo Glauben zu finden. Der Einfall in diese Länder war ein völkerrechtlich verbotener Angriffskrieg, ein bellum iniustum, der als Verbrechen gebrandmarkt war. Gefährdet waren auch die Menschenrechte unschuldiger Menschen. Wir können etwa Luthers Vorlesung über den Römerbrief zitieren: „Sieh doch nur, ob nicht die weltlichen Großen ungehorsam sind gegen Gott und die Menschen, Urheber ungerechter Kriege, also vielfache Mörder.“ Osters Tat war legitimer, aktiver Widerstand. Freilich, nicht immer ist die Frage „Angriffskrieg oder nicht“ so eindeutig wie hier zu beantworten gewesen.
Eine Typologie der Widerstandskämpfer sei eingeblendet. Mit Hamlet sei angefangen. Er war Widerstandskämpfer: „Etwas ist faul im Staate Dänemark“ – „Die Zeit ist aus den Fugen“ -, an der Spitze des Staates steht ein Usurpator, der seinen Vorgänger ermordet hat. Hamlet kam, „Schmach und Gram, zur Welt, sie wieder einzurichten“. Hamlet stellt sich wahnsinnig und will den Usurpator durch ein Schauspiel überführen. Aber der Intellektuelle, der er ist, überwindet nicht die Skrupel, die er bei dem Tyrannenmord empfindet. Er selber wird Opfer des königlichen Intrigenspiels.
Es gibt einen „modernen Hamlet“ – Martin Walsers „Schwarzer Schwan“. Das Schauspiel ist Zeitgeschichte. Es ist bewußt an „Hamlet“ angelehnt; es geht um unser Generationenproblem nazistischer Väter und ihrer Söhne. Martin Walsers „Rudi“ landet – wie Hamlet verwirrt – in einer Heilanstalt. Hier wiederholt er Hamlets Taktik eines Schauspiels. Hamlet starb unfreiwillig, Martin Walsers Repräsentant einer heutigen Generation begeht in seiner Verzweiflung und im Gefühl einer irreparablen Situation Selbstmord.
Vorbild für Shakespeare und Martin Walser war jener Iunius Brutus, von dem ich vorhin sprach und der den Tarquinius Superbus vertrieben hatte. Auf ihn geht das Motiv zurück, daß die Täter sich dumm und geisteskrank stellen. „Brutus“ heißt auf deutsch „dumm“. Der einzige, der erfolgreich war, war Iunius Brutus. Drei Widerstandskämpfer – Iunius Brutus, der siegreiche Held, dann Hamlet, der getötet wird, und letztlich Martin Walsers Vertreter der jungen Generation, der im Selbstmord resigniert.
Es gibt einen vierten Typus. Herbert Marcuse schließt seinen Aufsatz über repressive Toleranz mit Ausführungen über das Widerstandsrecht. Er bejaht ein Naturrecht für unterdrückte Minderheiten auf Widerstand, ein Recht, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Das ist ganz in Übereinstimmung mit dem, was Gemeingut der Rechtsgeschichte ist. Dann fährt er fort: „Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.“
Herbert Marcuse fügt zu den Idealtypen eines Brutus, Hamlet und Walsers Rudi einen vierten hinzu, den des bewußten Märtyrers. Typ eines solchen Märtyrertums war etwa Sokrates, auch Jesus. „Männer von Athen“, so hören wir von Sokrates, dem Herbert Marcuse seiner Zeit, „vielleicht frägt mich einer: Schämst du dich denn nicht, eine Beschäftigung zu betreiben, bei der du Gefahr läufst, ums Leben zu kommen? Ich antwortete ihm: [291] Nicht schön ist’s von dir, wenn du meinst, ein Mann müsse Gefahr im Leben in Rechnung ziehen. Muß er nicht vielmehr allein darauf sehen, ob er Recht oder Unrecht tut? Es wäre schlimm von mir gehandelt, wenn ich, Männer von Athen, da mir Gott einen Posten angewiesen hat, den, in der philosophischen Prüfung meiner selbst und der anderen mein Leben zu verbringen, diesen Posten aus Furcht vor dem Tode verlassen wollte. Ich werde auf keinen Fall anders handeln, auch wenn ich noch so oft sterben müßte.“
Das kurz zur Typologie der Widerstandskämpfer. Sie sollte nicht übersehen werden.
Gehen wir nun zum geltenden deutschen Recht über. Es kennt eine Pflicht zum Ungehorsam. Sie ist in unserem Beamten- und Soldatengesetz institutionalisiert. Paragraph 11 des Soldatengesetzes enthält unter anderem die Sätze: „Ungehorsam liegt nicht vor, wenn ein Befehl nicht befolgt wird, der die Menschenwürde verletzt. Ein Befehl darf nicht befolgt werden, wenn dadurch ein Verbrechen oder ein Vergehen begangen würde.“ Die Menschenwürde, die einem Befehl eine Grenze setzt, meint die Würde des Soldaten oder eines Dritten. Dies ist im Beamten- und Soldatenrecht die Variante zu dem oft zitierten Satz: „Man muß Gott, der Menschenwürde und den Menschenrechten mehr gehorchen denn den befehlenden Menschen.“
Der Bundesgerichtshof hat auch in Übereinstimmung mit den Beamten- und Soldatengesetzen eine Widerstandspflicht bei den Verbrechen im nazistischen Unrechtsstaat bejaht. Anordnungen – und das ist heute geltendes Recht -, die den Gedanken der Gleichheit bewußt verleugnen und die allen Kulturvölkern gemeinsamen Rechtsüberzeugungen, die sich auf den Wert und die Würde der menschlichen Persönlichkeit beziehen, deutlich mißachten, schaffen nach den obersten Gerichten der Bundesrepublik kein Recht. Ein solchen Anordnungen entsprechendes Verhalten ist und bleibt Unrecht. Mit diesen Ausführungen unserer obersten Gerichte wird eine Widerstandspflicht, ein Ungehorsam gegenüber Gesetzen und Befehlen verbrecherischen Inhalts bejaht.
Unsere Strafprozesse gegen NS-Täter beruhen ausnahmslos auf der Annahme einer solchen Pflicht zum Ungehorsam. Dies ist der Beitrag dieser Prozesse zur Bewältigung des Unrechtsstaates in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese pädagogische Aufgabe wird gern übersehen.
Mit dieser Rechtsprechung wurde bewußt das Recht des „Sachsenspiegels“ erneuert und der autoritäre Rechtspositivismus etwa Kants widerrufen.
Spricht man von einer Widerstandspflicht, so kann es nur um den Ungehorsam gegen staatliche Gesetze und Befehle gehen, die verfassungswidrig sind, also etwa die Menschenwürde oder ein Menschenrecht verletzen oder einen Angriffskrieg betreffen.
Es gibt nur eine Pflicht zum passiven Widerstand, nur eine Pflicht, das Böse zu unterlassen, nur eine Pflicht, nicht Komplize des Unrechts zu werden. Ich persönlich glaube nicht, daß man eine Pflicht für jedermann statuieren kann, aktiven Widerstand zu üben.
In der Hessischen Verfassung findet sich der möglicherweise heute obsolete Satz: „Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht.“ Man kann aber meines Erachtens nicht jedermann verpflichten, zum Beispiel diejenigen zu vertreiben oder zu töten, die verfassungswidrig die Macht usurpiert haben oder sie rechtswidrig ausüben.
Das Maximum, das wir von Menschen verlangen können, das „große Maximum“, ist Ungehorsam, das Nein, ein rechtswidriges Gesetz oder einen solchen Befehl zu befolgen. Schon dies erfordert eine zivile oder militärische Courage, die gewiß nicht Allgemeingut der Menschen ist.
Jetzt aber werfen die Notstandsgesetzgebung und der Widerstandsartikel wieder neue Fragen auf. Die Bestimmung lautet: „Gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Die Bundesregierung, der Rechtsausschuß des Bundestages und die Vertreter der Großen Koalition, die im Bundestag über das nunmehrige Widerstandsrecht gesprochen haben, haben sich gründlich bemüht, es allen recht zu machen, Die Bestimmung gibt niemand mehr, als was er vorher schon hatte; sie nimmt aber auch niemand etwas von seinen bestehenden Rechten. Nach der Begründung, auch nach dem formalen Wortlaut, erfaßt die Formulierung nicht nur den Staatsstreich von oben, sondern auch den durch revolutionäre Kräfte aus dem nichtstaatlichen Bereich unternommenen Putsch von unten. Dieses ist mit dem Begriff eines Widerstandsrechts, wie er sich durch Jahrhunderte und Jahrtausende gebildet hat, schlechthin unvereinbar.
Das Widerstandsrecht – wenn das Wort überhaupt einen Sinn haben soll – kann sich nur gegen den ungerechten Staat, den Unrechtsstaat, die Tyrannis, richten; nie hat das Wort einen anderen Sinn besessen.
Der Staat selbst braucht kein Widerstandsrecht. Seine Beamten, seine Offiziere und Soldaten haben Machtmittel genug. Die Notstandsgesetzgebung selbst hat den sogenannten „inneren Notstand“ geregelt, und zur Abwehr einer drohenden Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung kann die Bundesregierung jetzt Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bun- [292] desgrenzschutzes bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen, Die Bundesregierung kann im Falle eines sogenannten „inneren Notstandes“ alle Polizeikräfte ihren Weisungen unterstellen. Der Staat verfügt weiter über eine zulängliche politische Strafgesetzgebung. Im Vorfeld arbeitet der Verfassungsschutz. Das Establishment braucht keine weitere Grundgesetzbestimmung zu seiner Verteidigung.
Die neue Widerstandsbestimmung des Grundgesetzes ermächtigt – so wird gesagt und teilweise gewünscht und teilweise gefürchtet – alle Deutschen zum Widerstand gegen hochverräterische Unternehmungen von unten.
Selbst wenn man aber das Wart „Widerstandsrecht“ ganz im Gegensatz zu allen überkommenen Vorstellungen im In- und Ausland umfunktionieren wollte und könnte, ginge – wie mir scheint – dieses sogenannte „Widerstandsrecht“ ins Leere. Es kommt nämlich nach dem Wortlaut der Bestimmung nur zum Zuge, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. „Andere Abhilfe“ aber ist bei dem weitgehenden und deswegen mit vollem Recht kritisierten Katalog von staatlichen Befugnissen für den Fall des Hochverrats und des inneren Notstandes stets möglich. Niemand kann sich darauf berufen, Widerstand sei notwendig, wenn wir eine Notstandsgesetzgebung mit außerordentlichem Perfektionismus besitzen. Wenn Bundeswehr, Bundesgrenzschutz, wenn alle Polizeiorganisationen und die Bürokratie im übrigen aber wirklich versagen sollten, dann liegt entweder ein Staatsstreich des alten Establishments oder eine verfassungswidrige Anmaßung von hoheitlichen Gewalten durch neue Kräfte vor, somit der klassische Fall, in dem das wirkliche Widerstandsrecht gegenüber dem rechtswidrigen Staat ausgelöst wird.
Ich gebe durchaus zu, die neue Bestimmung ist umstritten. Ich glaubte, Ihnen sagen zu sollen, wie ich sie interpretiere. Diese Ausführungen mögen die Anhänger wie die Kritiker der neuen Widerstandsbestimmungen enttäuschen. Die Bestimmung ist ein „totgeborenes Kind“. Es bleibt dabei, daß das Widerstandsrecht, wie auch die Redner der drei Fraktionen im Bundestag einhellig versicherten, ein natürliches, dem Staate vorgegebenes Menschenrecht ist, das auch dann existierte, wenn es nicht ausdrücklich jetzt in der Verfassung verankert wäre – so wörtlich auch der Sprecher der CDU.
Ich glaube, wir sollten über diese Bestimmung zur Tagesordnung übergehen und uns klar darüber sein, daß niemand sich auf ein neues Recht berufen kann. Wir haben mit der Notstandsgesetzgebung den Notstandsstaat. Der Notstandsstaat hat die Macht, sich gegen alle Angriffe zu wehren. Die sonst gefürchteten „Dritten“, die ihrerseits zum Bürgerkrieg schreiten könnten, fallen weg, weil es im Grundgesetz heißt, sie kommen nur zum Zuge, wenn keine staatlichen Machtmittel ausreichen. Wir sollten sagen: die Machtmittel reichen durchaus aus.
Widerstand ist notwendig im Unrechtsstaat. Er braucht auch nicht erst zu beginnen, wenn der Unrechtsstaat etabliert ist – principiis obsta!
Die Bundesrepublik ist kein Unrechtsstaat. Aber Unrecht gibt es hier und anderwärts, und die Würde des Menschen und seine Rechte sind immer und überall in Gefahr, im Namen einer Staatsraison verkürzt zu werden. Das Widerstandsrecht eskaliert mit wachsendem staatlichem Unrecht.
Deswegen ist die Widerstandsidee zu keiner Zeit und in keinem Staat überholt, mag sie sich auch im Alltag auf den gerichtlichen Kampf ums Recht, auf Kritik und Opposition, auf Demonstration, auf die im Grundgesetz und in anderen Normen festgelegten Bahnen einer freien Bewußtseinsbildung beschränken.
Man kann zwischen einem totalen Widerstandsrecht und einer totalen Widerstandspflicht im Unrechtsstaat und einem partiellen Widerstandsrecht im Rechtsstaat unterscheiden. Auch dieses partielle, dieses „kleine Widerstandsrecht“, das wir heute besitzen, stellt uns Aufgaben genug. Der totale und der partielle Widerstand sind jenseits aller fragenden, um eine Antwort oft verlegenen Rechtswissenschaft als Aufforderung zum persönlichen Engagement ein pädagogisches Leitbild, mehr ein pädagogisches Leitbild denn ein juristisches.
Widerstand kommt von der leidenden Kreatur. Es ist das Nein zum bösen Gesetz und Befehl aus dem Munde des leidenden oder mitleidenden Bruders. Nicht ohne Grund wurde die Losung von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen mit dem Gebot der Brüderlichkeit gekoppelt. In einer verwalteten Welt ist Solidarität mit allen Unfreien und Ungleichen, allen Erniedrigten und Beleidigten der Mutterboden aller guten Werke.
Widerstand ist der Aufwand unseres Mitgefühls, das Kämpfen und – wie die Geschichte nur zu oft zeigte – auch ein Fallen für eine humanistische Welt.
Humanismus auf Erden, jener schwere Versuch einer Vereinigung von Vernunft und lebendigem Herzschlag, Vereinigung von Freiheit und Gleichheit, fällt uns nicht in den Schoß. Widerstand und Ungehorsam im Kampf um eine humane Welt fordert Schweiß, Tränen und Blut.
Schillers „Räuber“ mit ihrem „in tyrannos“, Schillers „Don Carlos“ und „Wilhelm Teil“, Schillers „Geschichte des Abfalls der Niederlande“ sind unsere deutsche klassische Widerstandsliteratur. Er schrieb sie in voller Kenntnis des Tragischen, aber doch auch – ich zitiere ihn -, „um in der Brust des Menschen ein fröhliches Gefühl seiner selbst zu erwecken und Beispiel dafür zu geben, was Menschen wagen dürfen für eine gute Sache“.