Von der antikle­ri­kalen Aufklärung zur Bürger­rechts­be­we­gung. Die Humanis­ti­sche Union*

Mitteilungen Nr. 162, S. 35-39

Das Verbot einer Aufführung von Mozarts Figaro wegen des „unsittlichen“ Bühnenbilds auf Veranlassung der katholischen Kirche war für Dr. Gerhard Szczesny der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Im Gründungsaufruf vom 06. Juni 1961 wandte er sich an „etwa 200 Persönlichkeiten des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens“ und forderte zur Gründung der Humanistischen Union auf. Darin sprach er „von dem immer unverhüllter und anmaßender zutage tretenden Versuch, eine Gesellschaft, die nur zu einem Teil aus gläubigen Christen besteht, dem totalen Machtanspruch einer christlichen Sprach-, Denk- und Verhaltensregelung zu unterwerfen. Die im Grundgesetz der deutschen Bundesrepublik verankerten Rechte der freien Persönlichkeitsentfaltung, der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, der freien Meinungsäußerung, Information und Forschung sind längst durch eine christlich- konfessionalistische Regierungspraxis ausgehöhlt, wenn nicht außer Kraft gesetzt … Die Erlösung des Denkens aus der Vormundschaft der Theologie, die Befreiung des Menschen aus den Fesseln obrigkeitsstaatlicher und klerikaler Bindungen, die Verkündung der Menschenrechte und Menschenpflichten, der Ausbau von Erziehungs-, Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen, die allen Bürgern offenstehen, die Entfaltung einer freien Wissenschaft, Presse, Literatur und Kunst – dies alles sind nicht Entartungen, sondern Grundbedingungen des Lebens in einer zivilisierten Gesellschaft … (Was uns leitet,) ist die Überzeugung, daß nur die Freiheit, zwischen sehr verschiedenen Weltdeutungen und Existenzweisen wählen zu können, ein menschenwürdiges Dasein möglich macht.“

Bereits gut zwei Monate später findet am 28. August 1961 die Gründungsversammlung der Humanistischen Union in München statt und wählt Szczesny, damals Abteilungsleiter beim bayerischen Rundfunk, ab 1962 selbständiger Verleger, zum Vorsitzenden. Die linksliberale intellektuelle Elite der Republik versammelt sich in der ersten deutschen Bürgerrechtsorganisation. Der hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer gehört ebenso dazu wie die Professoren Dr. Alexander Mitcherlich, Dr. René König oder Dr. Walter Fabian. Im Sommer 1962 hat die Humanistische Union bereits Ortsverbände oder Stützpunkte in Augsburg, Berlin, Dortmund, Düsseldorf, Essen, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Lübeck, Lüneburg, Nürnberg, Saarbrücken, Wuppertal; am 04. Juli 1962 gründet sich die erste Gruppe der Humanistischen Studentenunion (HSU) in Marburg, es folgen München und Freiburg. Es ist ein Aufbruch gegen geistige Bevormundung, für die auch schon im Gründungsaufruf angesprochene „erstrebte Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung des Einzelnen.“

Vorträge und öffentliche Erklärungen richten sich gegen häufig von der Kirche ausgehende Zensurversuche, gegen Konfessionalisierung, für Toleranz und freie Meinungsbildung. Eine Aktion in Bayern gegen die Konfessions- und für die Gemeinschaftsschule im Frühjahr 1963 ist eine der ersten öffentlichen Aktionen mit Plakaten, Podiumsdiskussionen und Rundschreiben. Es ist unvermeidlich, daß dieser Kampf gegen einen christlichen Weltanschauungsstaat, der sich in der letzten Phase der Adenauerzeit immer weiter ausbreitet, der Humanistischen Union schnell das Etikett einer antichristlichen Organisation anheftet. Dabei gehören schon zu den Mitgliedern der ersten Stunde Oberkirchenrat Heinz Kloppenburg, Pfarrer Günter Heipp und Pastor G. Abramzik, und aus einer Mitgliederbefragung im April 1963 ergibt sich, daß sie Mitglieder von neun Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen sowie aus sämtlichen demokratischen Parteien zählt. So erklärt Szczesny am 16. November 1963 auf der ersten Bundesmitgliederversammlung der neuen Organisation, daß im Gründungsaufruf zwar „der antiklerikale und antikonfessionalistische Akzent“ unmißverständlich war, wie aber ebenso die Absicht, „eine Vereinigung von christlichen und nichtchristlichen Freunden der Demokratie ins Leben zu rufen. In keiner Phase und zu keinem Zeitpunkt der Entwicklung der Humanistischen Union habe ich oder haben die anderen Mitglieder des Vorstandes gewollt oder gewünscht, daß die Humanistische Union ein antichristlicher, also gegen den christlichen Glauben gerichteter Kampfbund werden solle … Ich bin heute mehr denn je der Überzeugung, daß nur dann eine reale Chance besteht, die in unserer Verfassung vorgesehene freiheitliche Demokratie Wirklichkeit werden zu lassen, wenn sich die von gewissen Fehlentwicklungen zunächst betroffenen Nichtchristen mit den vernünftigen und demokratisch gesinnten Christen zusammenschließen.“

Dieser Kampf gegen die Übergriffe der Kirchen auf den Staat und damit für Trennung von Staat und Kirche prägt und begleitet die Humanistische Union in den folgenden Jahrzehnten. 1976 gibt sie die Broschüre „Glaubensfreiheit, Kirchenprivilegien und die sogenannte Partnerschaft von Staat und Kirche“ heraus. 1989 folgt als Band 16 ihrer Schriftenreihe die „Enzyklika für die Freiheit der Religionskritik“ , 1991 Band 18 „Was ist uns die Kirche wert“, im gleichen Jahre „Zur religiösen Legitimation der Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland“ und 1995 Thesen zur „Trennung von Staat und Kirche.“ Am 16. Mai 1995 erläßt das Bundesverfassungsgericht einen Beschluß, u.a. gestützt auf eine im Verfahren eingereichte Stellungnahme der Humanistischen Union, wonach die zwangsweise Anbringung von Kruzifixen in bayerischen Volksschulen verfassungswidrig ist (BVerfGE 93,1 f). Die Humanistische Union leitet hieraus die Forderung ab, aus allen staatlichen Gebäuden die Kruzifixe zu entfernen, da der Staat eben religionsneutral zu sein habe. Ein öffentlicher Proteststurm erhebt sich, die bayerische Staatsregierung ruft dazu auf, das Urteil nicht zu respektieren und bringt sofort ein Gesetz im Landtag ein, wonach auch in Zukunft trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder Kruzifixe in allen bayerischen Schulen hängen sollen (1). 1996 unterstützt die Humanistische Union durch Gutachter im brandenburgischen Landtag und öffentlichen Veranstaltungen, das dort neu eingeführte Unterrichtsfach an den Schulen „Lebensgestaltung – Ethik – Religionen (LER)“, weil diese Art Unterricht endlich der Rolle des Staates als religionsneutral gerecht wird – ein später Erfolg des Beschlusses der Delegiertenkonferenz von 1983 (auf der Prof. Dr. Jürgen Seifert erstmals zum Bundesvorsitzenden gewählt wird), die die Abschaffung des Ethikunterrichtes als Zwangsersatzfach für den Religionsunterricht gefordert hatte. Entweder alle Schüler müssen in staatlicher Verantwortung in ethischen Grundfragen unterrichtet werden oder keine – aber nicht zwangsweise nur diejenigen, die von ihrem verfassungsrechtlichen Recht Gebrauch machen, nicht an kirchlich geprägtem Religionsunterricht teilzunehmen.

Dabei geht es der Humanistischen Union immer, wie es ihr Bundesvorsitzender anläßlich der Standortbestimmung 1997 formuliert, um „das Eintreten für die freie Entfaltung der selbstbestimmten Persönlichkeit … , wenn die Kirchen sich staatlicher Macht bedienen, um den Bürgerinnen und Bürgern ihr kirchlich geprägtes Leitbild aufzudrängen … Das Eintreten für die freie Entfaltung der Persönlichkeit beinhaltet selbstverständlich ebenfalls das Eintreten für die freie Entfaltung der religiösen Überzeugungen eines jeden … Denn es geht nicht um die Bekämpfung religiöser Überzeugungen oder der Religionsgemeinschaften. So wie der religionsneutrale Staat nicht in religiöse Überzeugungen hineinregieren darf, so geht es uns nur darum, Übergriffe der Religionsgemeinschaften auf die staatliche Organisation zu verhindern, weil auf diesem Wege nicht religiöse Bürgerinnen und Bürger unter die Gesetze einer bestimmten Religionsgemeinschaft gedrückt werden sollen und dadurch ihr Recht auf freie Entfaltung auch im religiösen Bereich eingeschränkt wird.“ (2)

Das Eintreten für Trennung von Staat und Kirche als Abwehr gegen kirchliche Übergriffe auf eine pluralistisch verfaßte Gesellschaft für Toleranz und Meinungsbildung führte die Humanistische Union zwangsläufig bereits ab dem Jahr der Gründung zu einer Ausweitung der Einzelthemen, zur Verteidigung von Meinungsfreiheit und Entfaltung der Persönlichkeit auch auf anderen Gebieten. Der erste Bereich neben Kultur, Schule und Erziehung, auf den sich die Tätigkeiten der Humanistischen Union erweitern, ist das Strafrecht. Das Gründungsmitglied Rechtsanwalt Heinrich Hannover aus Bremen macht das politische Strafrecht zum Gegenstand. Die geistige Auseinandersetzung mit Kommunismus und Sozialismus, mit der DDR und der Sowjetunion wird leicht und leichtfertig in den Bereich der demokratischen Unzuverlässigkeit, des Hoch- und Landesverrats, der Strafbarkeit abgedrängt. Weitere für das menschliche Zusammenleben nicht notwendigerweise unter Strafe zu stellende Bereiche im Strafgesetzbuch sind die Tatbestände, die mit Moral und Sitte in einer gewissen Verbindung stehen, also neben der „Gotteslästerung“ insbesondere das Gebiet des Sexualstrafrechts, einschließlich der „unzüchtigen Schriften und Sachen.“ Auch hier vertritt die Humanistische Union die Auffassung, daß unter Strafe gestellt werden darf nur der absolute Kernbereich des für die Gesellschaft schädigenden Verhaltens, nicht aber Normen und sittliche Vorstellungen, selbst etwa der Mehrheit, wenn deren Verletzung sich nicht konkret gefährdend gegen andere auswirkt. Das erste Memorandum der Humanistischen Union vom November 1964 bezieht sich folglich auf „Vorschläge zur Strafrechtsreform“.

Damit ist gleichzeitig erstmals eines der Dauerthemen angesprochen, welche die Humanistische Union immer wieder begleiten: Der Schwangerschaftsabbruch. Bereits in diesem ersten Memorandum zum Entwurf eines Strafgesetzbuches 1962 äußert sich die Humanistische Union zur vorgesehenen Indikationslösung. Insgesamt fünfmal sieht sie sich in der Folgezeit bis 1993 zu eigenständigen Veröffentlichungen zum Schwangerschaftsabbruch genötigt (3). Bereits 1971 fordert sie in ihrer Broschüre „Gegen den §218“ als erste Organisation die Fristenlösung, die 1975 Gesetz wird. Nachdem das Bundesverfassungsgericht, vom Land Baden-Württemberg angerufen, dieses Gesetz verworfen hat, kommt als Kompromiß das Indikationenmodell zustande. Am 21. Juni 1976 eröffnet die Humanistische Union in Lübeck die bundesweit erste Beratungsstelle für ungewollt Schwangere. Ein Ende der Diskussion ist hiermit allerdings nicht erreicht, sie wogt weiter hin und her. Die Delegiertenkonferenz der Humanistischen Union im Mai 1987 fordert die Herausnahme der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafgesetzbuch; der Papstbrief im Januar 1998 fordert die deutschen Bischöfe umgekehrt auf, aus dem deutschen Beratungssystem wieder auszusteigen, welches eine für alle Seiten einigermaßen erträgliche Lösung, gefunden von einem fraktionsübergreifenden Kompromiß im deutschen Bundestag, darstellt.

Der Streit um den Schwangerschaftsabbruch ist nur eine Facette des von der Humanistischen Union geforderten Selbstbestimmungsrechts der Frau. Eine andere ist die Forderung nach einem Antidiskriminierungsgesetz für die Bundesrepublik, welches die Humanistische Union als erste im November 1977 mit einer Broschüre unter diesem Titel fordert. Die Benachteiligung aufgrund des Geschlechts soll verboten, eine Gleichberechtigungskommission, die die Durchsetzung des Gesetzes überwacht, eingesetzt werden. Später wird diese Forderung von der Partei Die Grünen übernommen werden. In der Verfassungsdiskussion nach der deutschen Einigung 1990 organisiert die Humanistische Union eine Postkartenaktion an die Verfassungskommission, um den Artikel 3 des GG zu ergänzen. Es gelingt, dieser Forderung im Rahmen der Verfassungsdiskussion die größte öffentliche Resonanz zu verschaffen, und 1994 wird in Artikel 3 des GG der Satz eingefügt: „Der Staat fördert die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“

Der von der Aufklärung und dem Humanismus ausgehende Ansatz der Freiheit des Einzelnen zur Selbstverwirklichung hat zwar den Übergriff der Kirche auf staatliche Institutionen und damit ihren Machtanspruch auf nicht kirchlich gebundene Staatsbürger zum Ausgangspunkt der Vereinsgründung genommen, sich aber notwendigerweise sofort ausgeweitet, da die Freiheit der Selbstverwirklichung nicht nur von dieser Stelle aus bedroht ist. Schon wenige Jahre nach der Gründung findet sich die Humanistische Union in der 17. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie von 1969 beschrieben als „überparteiliche gemeinnützige Vereinigung zur Wahrung der freiheitlich-demokratischen Ordnung und zum Schutz der Grundrechte.“ Wer sich gegen Bevormundung im Bereich der Moral durch die Kirche wendet, der muß auch aufstehen gegen die Bedrohung der Grund- und Freiheitsrechte in anderen Bereichen und von anderen Mächten und Kräften. Ab den siebziger Jahren sind dies maßgeblich die Sicherheitsapparate der Bundesrepublik Deutschland, die die Freiheitsrechte der Bürger bedrohen. Es ist ebenfalls der Zeitraum, in dem Jürgen Seifert, bereits 1964 als 36-jähriger der Humanistischen Union beigetreten, die Bürgerrechtsorganisation als Vorstandsmitglied 14 Jahre lang von 1973 bis 1987 wesentlich mit prägt, die letzten vier Jahre davon als Bundesvorsitzender.

Am 28.Januar 1972 fassen Bundeskanzler Willy Brandt (der Jahre später dies öffentlich für einen politischen Fehler erklärt) und die Ministerpräsidenten der Länder ihren Beschluß zur „Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“, später bekannt als Radikalenerlaß oder Extremistenbeschluß, und leiten damit die Praxis der „Berufsverbote“ ein, die nun Jahrzehnte lang die Diskussion beherrscht und ein unrühmliches deutsches Lehnwort in fremden Sprachen wird. In insgesamt 3,5 Millionen Fällen wird die sogenannte Regelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern durchgeführt. Erst 1996 stellt die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte letztinstanzlich fest, daß hierin ein Verstoß gegen die Menschenrechte der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit zu sehen ist (4). Bereits im Geburtsjahr des „Radikalenerlasses“ stellt der Verbandstag der Humanistischen Union seine Verfassungswidrigkeit fest, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 1975 kritisiert Jürgen Seifert in der Zeitschrift Vorgänge (5), am 21. Februar 1976 veranstaltet die Humanistische Union gemeinsam mit SPD, FDP, DGB, ÖTV und DAG in Stuttgart den Kongreß „Innere Freiheit in der Demokratie – wen schützen die Berufsverbote?“ Die befürchtete Überwachung durch und Regelanfrage beim Verfassungsschutz diszipliniert eine ganze Generation.

In der Auseinandersetzung mit den Linksterroristen der RAF bezieht die Humanistische Union in spezifisch rechtsstaatlicher Weise Position. Die Konfliktlage war prekär: Wer auch nur nach Motivationen der RAF-Mitglieder fragte, wer auch nur ihr Verhalten zu verstehen (nicht zu rechtfertigen) versuchte, wurde von der Öffentlichkeit mit dem politischen Kampfbegriff des „Sympathisanten“ belegt und stigmatisiert. Anwälte, die auch für ihre Mandanten aus dem linksextremistischen Lager die Einhaltung des Rechtsstaats und der strafprozessualen Garantien forderten, wurden wie Heinrich Albertz, Heinrich Böll oder Helmut Gollwitzer als angebliche Sympathisanten gebrandmarkt und zur Hauptgefahr des Staates überhöht. In dieser Situation interveniert die Humanistische Union: Am 9. September 1977 schreibt die Bundesvorsitzende Charlotte Maack an den damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel einen maßgeblich vom Bundesvorstandsmitglied Jürgen Seifert mitformulierten offenen Brief, in dem eine rationale Überprüfung des Sympathisantenbegriffs eingefordert und der Präsident gebeten wird, das Gewicht seines Amtes und das Ansehen seiner Person für die Bewahrung der politischen und geistigen Freiheit in der Bundesrepublik einzusetzen. Kritisch heißt es darin: Beim Sympathisantenbegriff wird nicht unterschieden zwischen denjenigen, die sich durch Attentate oder ähnliches strafbar gemacht haben, solche Straftaten aktiv unterstützen, dazu auffordern oder solche Straftaten billigen, und jenen, die aufgrund rechtsstaatlicher Erwägungen für einen fairen Prozeß – ohne Verurteilung im voraus – und für strikte Einhaltung der auch für die Gegner der Verfassung geltenden Verfahrensgrundsätze eintreten oder die aus Sensibilität Mitleid haben (Sympathie) nicht nur mit den Opfern des Terrorismus, sondern auch gegenüber den Akteuren selbstverschuldeter Verstrickung Humanität wahren wollen. Politiker, Instanzen der Strafverfolgung und Publizisten verkennen oder verwischen bewußt den Unterschied zwischen politischer Solidarität mit den terroristischen Straftätern und dem Plädoyer, daß auch für solche Täter die rechtsstaatlichen Schutzpositionen gelten müssen und für sie Menschenwürde und Humanität zu wahren ist. (…) Wer Menschlichkeit auch gegenüber Akteuren selbstverschuldeten Leidens wahrt, ist kein „Sympathisant“ und kein Förderer der Position der Terroristen. Mitgefühl und Protest gegen Rechtsverletzungen können dem Terrorismus nur dann und so lange nützen, wie jeder, der für die Position des Rechtsstaates und für Humanität auch gegenüber Terroristen eintritt, zum „Sympathisanten“ gestempelt werden kann. Der falsche Begriff verleitet die Terroristen zu dem falschen Eindruck, ihre Ziele und Methoden fänden verbreitet Zustimmung.“ (5) Bundespräsident Walter Scheel hat den offenen Brief aufmerksam gelesen und sich über weite Strecken die Argumentation zu eigen gemacht. In seiner Ansprache beim Staatsakt für Hanns Martin Schleyer in Stuttgart am 25. Oktober 1977 nannte er einerseits deutlich die aktiven Helfer und Propagandisten der Gewalt und des Terrors beim Namen, distanzierte sich jedoch mit gebotener Präzisierung von den verheerenden Folgen des überbordenden Mißbrauchs des Sympathisantenbegriffs. „Wir alle bejahen den demokratischen Kampf der Meinungen und Argumente. Aber dieser Kampf beruht auf der Achtung vor den Überzeugungen des politischen Gegners. Wohin es in letzter Konsequenz führt, wenn der Kampf seinen Ursprung in Haß und Feindschaft hat, haben wir in diesen Tagen nur zu deutlich erfahren. Uns allen ist bekannt, daß die Terroristen ihre Verbrechen nur ausführen können, weil es Menschen gibt, die ihnen helfen. für diese Helfer ist das Wort „Sympathisanten“ in Umlauf gekommen. Doch die Grenzen dieses Wortes haben sich verwischt. Das ist nicht gut, denn gerade hier kommt es darauf an, daß wir sorgfältig unterscheiden.“ Die Bekämpfung der terroristischen Gruppen und ihrer Helfer geschehe am besten dadurch, „daß wir sie von der Würde einer freiheitlichen Ordnung überzeugen. (…) Von den beschriebenen Gruppen sind diejenigen zu unterscheiden, die weder die Ziele noch die Methoden der Terroristen billigen, die jedoch verstehen möchten, was Terroristen zur Gewalt treibt; diejenigen die auf der Menschenwürde auch dessen bestehen, der selbst unmenschlich handelt. Haben diejenigen, die die Terroristen geistig oder materiell unterstützen, überhaupt noch nicht begriffen, was eine demokratische Lebensordnung ist, so haben diejenigen, die auf der menschlichen Würde auch des Terroristen bestehen, die Demokratie zu Ende gedacht.“ (6)

Nicht nur rechtsstaatliche und strafprozessuale Garantien werden abgebaut, Polizei und Verfassungsschutz rüsten auf, erhalten zusätzliche Aufgaben und Befugnisse. In den Verfassungsschutzberichten werden angebliche verfassungsfeindliche (ein rechtlich nicht greifbarer Begriff) Personen und Organisationen genannt und damit öffentlich „hoheitliche Verrufserklärungen“ (Jürgen Seifert) erlassen. Unter Leitung des Verfassers und unter Mitarbeit von Jürgen Seifert erarbeitet ein Arbeitskreis der Humanistischen Union ein Memorandum zur Reform des Verfassungsschutzes und veröffentlicht dieses 1981 unter dem Titel „Die (un)heimliche Staatsgewalt“. Es stellt den Versuch der Kontrolle und rechtlichen Bändigung des Geheimdienstes Verfassungsschutz dar. Nach zahllosen Stellungnahmen zu weiteren Novellierungen der Verfassungsschutzgesetze stellt die Humanistische Union die Vergeblichkeit dieses Versuchs fest und fordert im April 1990 die Abschaffung des Verfassungsschutzes: „Weg mit dem Verfassungsschutz – der (un) heimlichen Staatsgewalt. Enzyklika für Bürgerfreiheit“; im Mai desselben Jahres entsteht hieraus der erste gemeinsame Aufruf von insgesamt 11 ost- und westdeutschen Bürgerrechtsorganisationen: „Es gilt, dem Beispiel der DDR zu folgen. Die Ämter für Verfassungsschutz sind – wie die STASI – ersatzlos aufzulösen. Wir, die Bürgerbewegungen der DDR, haben nicht 40 Jahre unter den Praktiken der STASI gelitten, führen nicht den aktuellen Streit um die endgültige und restlose Auflösung des Staatssicherheitsapparates, um demnächst – nach der Vereinigung und Rechtsangleichung – erneut Gefahr zu laufen, in unserem politischen Denken und Handeln durch Ämter für Verfassungsschutz überwacht und bespitzelt zu werden … Wir, Bürgerrechtsorganisationen der Bundesrepublik, wissen um die erheblichen Differenzen zwischen den Befugnissen und Praktiken der Ämter für Verfassungsschutz und der STASI. Wir wissen aber auch um die Gemeinsamkeiten beider Behörden, d.h. jene Praktiken der Überwachung, Registrierung und offiziellen wie verdeckten Denunziation politischer Gesinnungen.“ (7)

Ebenso ist die Bürgerrechtsorganisation gezwungen, sich gegen immer weiter ausufernde Aufgaben, Zuweisungen und Befugnisse der Polizei zu wenden. Gegen den beamteten Straftäter, den unter einer Legende verdeckt arbeitenden Polizeibeamten, veröffentlicht Jürgen Seifert als Bundesvorsitzender der Humanistischen Union im Januar 1984 das Memorandum „Auf dem Wege zu einer halbkriminellen Geheimpolizei.“ Im Mai 1988 bringt der Verfasser als Mitglied des Bundesvorstandes als Heft 13 der Schriftenreihe der Humanistischen Union die Broschüre heraus „Sicherheitsgesetze – Notstandsgesetze für den alltäglichen Gebrauch?“ , und im April 1994 Heft 20 der Schriftenreihe mit dem Titel „Innere Sicherheit. Ja – aber wie ? Plädoyer für eine rationale Kriminalpolitik“ mit u.a. der Enttarnung des Begriffs der organisierten Kriminalität als politischen Kampfbegriff und „Sesam öffne dich“ – Schlüssel zur Beseitigung von Bürgerfreiheiten, der Entzauberung des Großen Lauschangriffs als nicht nur gefährlich, sondern auch untauglich und einem Gutachten von Jürgen Seifert über die verfassungswidrigen Lauschbefugnisse des Bundesnachrichtendienstes. Der Fritz-Bauer-Preis, den die Humanistische Union seit 1969 im Andenken an ihren Mitgründer, den hessischen Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer, an unbequeme und unerschrockene Frauen und Männer verleiht, die sich um Recht und Gerechtigkeit verdient gemacht haben (frühere Preisträger u.a. Gustav Heinemann, Heinrich Hannover, Gerald Grünwald, Ruth Leuze, Ossip K. Flechtheim, Eckhard Spoo und Lieselotte Funcke) geht im Jahre 1995 an den Polizeipräsidenten von Düsseldorf, Prof. Dr. Hans Lisken , der sich auch als Polizeipraktiker engagiert gegen neue Befugnisse der Polizei, gegen Vorfeldbeobachtung, Großen Lauschangriff und under-cover-agents wendet, die lediglich für eine Demokratie notwendige Bürgerfreiheiten einschränken, ohne auf der anderen Seite zu dem versprochenen Mehr an Bürgersicherheit zu führen.

Wer in einer gegebenen historischen Situation im Jahre 1961 gegen den kirchlichen Machtanspruch antritt, um Meinungs- und Kulturfreiheit und die freie Entfaltung jedes Einzelnen zu sichern, der kann dabei nicht stehenbleiben, sondern muß sich gegen alle Machtansprüche, gegen alle Bedrohungen der Bürgerfreiheiten wehren. Ein solcher Verein wird zwangsläufig zur umfassenden Bürgerrechtsorganisation, die auch in zahllosen anderen Zusammenhängen, oft an vorderster Spitze, für die Bürger und Menschenrechte kämpft, begrenzt lediglich aus Einsicht in die beschränkten eigenen Kräfte auf Deutschland. Bereits gegen die Volkszählung 1983 ist die Humanistischen Union unter ihrem damaligen Vorsitzenden Prof. Dr. Ulrich Klug zur Verteidigung der Verfassung aufgetreten, zur Volkszählung 1987 hat sie gemeinsam mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie 700.000 „Bürgerinformationen zur Volkszählung“ und gemeinsam mit dem Republikanischen Anwaltsverein eine Volkszählungs-Rechtsschutzfibel herausgebracht, der maschinenlesbare Ausweis und das Personenkennzeichen waren Gegenstand ihrer Kritik, der Schutz des Demonstrationsrechts und die Durchsetzung des zivilen Ungehorsams als nicht strafbare Nötigung hat ihre Arbeit geprägt, gegen die Diskriminierung und menschenunwürdige Behandlung von Ausländern und Asylbewerbern hat sie gekämpft und war auf der Großkundgebung in Bonn am 14. November 1992 „Grundrechte verteidigen – Flüchtlinge schützen – Rassismus bekämpfen“ durch den Verfasser als Kundgebungsredner präsent, Patientenverfügung, Psychiatrie, Kinderrechte, Soldaten sind Mörder, Kriegsdienstverweigerung, Akteneinsichtsrecht, rechtlicher Status von Prostituierten, Entkriminalisierung des Drogengebrauchs, neue deutsche Verfassung nach 1990 und eine europäische Verfassung und und und … sind ihre Themen.

Das ganze Spektrum der Bürgerrechtsarbeit zeigt sich im „Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“, den die Humanistische Union beginnend ab 1997 jährlich gemeinsam mit den Bürgerrechtsorganisationen Gustav-Heinemann-Initiative, Komitee für Grundrechte und Demokratie sowie Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen herausgibt (8). Im Einleitungsartikel „Wer schützt die Verfassung?“ heißt es, hierdurch solle deutlich werden, „daß die Grundrechte und die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht von Bürgern und ihren Organisationen gefährdet und vom Staat (den Verfassungsschutzbehörden) geschützt werden, sondern daß umgekehrt die Gefährdungen von öffentlichen Institutionen ausgehen und der Schutz der Verfassung durch die Bürger selbst geleistet werden muß! Da die Grundrechte konstitutiv für den demokratischen Rechtsstaat sind, lohnt es sich, sie zu verteidigen.“

Till Müller-Heidelberg

Anmerkungen:

(*) Dieser Beitrag wurde erstmals Ende April 1998 in der Festschrift für Jürgen Seifert anläßlich seines 70. Geburtstags abgedruckt (Michael Buckmiller u. Joachim Perels [Hg.]: „Opposition als Triebkraft der Demokratie – Bilanz und Perspektiven der zweiten Republik“ 1998: Offizin-Verlag, Hannover)

(1) Vgl. Till Müller-Heidelberg „Kruzifixe in Schulen und anderswo“, S. 68 ff, in: Grundrechte- Report (1997), rororo aktuell Band 22124.

(2) Till Müller-Heidelberg, Standortbestimmung der Humanistischen Union 27.09.1997, Mitteilungen der Humanistischen Union, Zeitschrift für Aufklärung und Bürgerrechte, Nr. 160, Dezember 1997, S. 117.
(3) Zuletzt Heft 19 der Schriftenreihe der Humanistischen Union „Im Namen des Volkes“. Unfreundliche Bemerkungen zum §218 – Urteil von Karlsruhe, Juli 1993.

(4) Vgl. Becker/Dammann „Berufsverbote: Treuepflicht und Meinungsfreiheit“, S. 125 ff in Grundrechte-Report
(s. Anm. 1.)

(5) Vorgänge Nr. 17, 5/75.

(6) Abgedruckt in Freimut Duve/Heinrich Böll/Klaus Staeck, Briefe zur Verteidigung der Republik, S. 173 ff,
rororo 4191.

(7) Abgedruckt in Heft 17 der Schriftenreihe der Humanistischen Union, Weg mit dem Verfassungsschutz, der (un) heimlichen Staatsgewalt, 2. bis 4. Auflage, 1990.

(8) Erschienen in der Reihe rororo aktuell, Band 22124 (1997) und Band 22337 (1998).

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