Referat auf der ersten HU-Sitzung

vom 19.11.1963

Sie alle kennen meinen offenen Brief vom Juni 1961, in dem ich den Vorschlag zur Gründung der „Humanistischen Union“ machte. Die „Humanistische Union“ wurde von mir ins Leben gerufen, um den Tendenzen entgegenzuwirken, aus der Bundesrepublik einen christlichen Weltanschauungsstaat zu machen. Es scheint mir wichtig, diese Ausgangsposition ins Auge zu fassen, da sonst die Entwicklung und heutige Situation unserer Vereinigung nicht richtig bewertet und verstanden werden kann. Als Autor eines Buches über den „Unglauben“ war ich für die rein politisch und kulturpolitisch gemeinten Ziele der „Humanistischen Union“ von vorneherein eine Belastung. Aber es hat mir nun einmal kein Christ die Gründung der „Humanistischen Union“ abgenommen. Mein in jener Schrift bekundeter Agnostizismus hat es jedenfalls den Gegnern der „Humanistischen Union“ leicht gemacht, sie als atheistischen Kampfbund zu diskriminieren.

Immerhin hat sich auch dieses Bild inzwischen wesentlich geändert. Unser Auftreten in der Öffentlichkeit, eine Vielzahl von Richtigstellungen, die von der Presse veröffentlicht wurden, und nicht zuletzt Tenor und Inhalt unserer Korrespondenz haben dazu geführt, daß zumindest die seriösere Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen hat, daß die „Humanistische Union“ nicht eine zur Verbreitung meiner Philosophie gegründete Glaubensgemeinschaft ist. Doch wie sich immer wieder zeigt, bleibt in dieser Hinsicht noch viel zu tun. Dennoch darf ich feststellen, daß in jenem offenen Brief der antiklerikale und antikonfessionalistische Akzent ebenso unmissverständlich war, wie die Absicht, eine Vereinigung von christlichen und nichtchristlichen Freunden der Demokratie ins Leben zu rufen. In keiner Phase und zu keinem Zeitpunkt der Entwicklung der „Humanistischen Union“ habe ich oder haben die anderen Mitglieder des Vorstandes gewollt oder gewünscht, daß die „Humanistische Union“ ein antichristlicher, also gegen den christlichen Glauben gerichteter, Kampfbund werden solle. Diese Position war, wie viele von Ihnen wissen, auch manchem unserer Mitglieder gegenüber nicht ganz leicht durchzusetzen. Ich bin aber heute mehr denn je der Überzeugung, daß nur dann eine reale Chance besteht, die in unserer Verfassung vorgesehene freiheitliche Demokratie Wirklichkeit werden zu lassen, wenn sich die von gewissen Fehlentwicklungen zunächst betroffenen Nichtchristen mit den vernünftig und demokratisch gesinnten Christen zusammenschließen. Darüberhinaus bin ich der Meinung, daß eine Vereinigung, die sich „humanistisch“ nennt, kein Recht mehr hätte, sich so zu nennen, wenn sie von der Möglichkeit, human zu sein, die Christen ausschließt. Diese Haltung wäre nicht besser als die Haltung der von uns bekämpften Christen, die die Humanität für das Christentum usurpieren. Aus diesem Grunde halte ich es auch für ein Unglück, daß sich in vielen Ländern unter dem Namen „Humanismus“ dezidiert nichtchristliche Gruppen zusammengeschlossen haben. Sie haben sich damit in die gleiche fragwürdige Situation gebracht, wie die von ihnen befehdeten christlichen Gruppen. Solange wir in der pluralistischen Phase der Weltgeschichte leben, d.h. solange es Menschen und Völker gibt, die Christen sind oder zu sein glauben, läßt sich eine friedliche und freiheitliche Weltordnung nur verwirklichen, wenn man diese Christen in die Gemeinschaft derer, die guten Willens sind, einbezieht und alle sich uns stellenden vorletzten Fragen mit ihnen gemeinsam zu lösen versucht.

Ein womöglich noch heikleres Thema ist die schon erwähnte Einstellung der „Humanistischen Union“ zu jenen sittlichen Normen, die als allgemein verbindlich gelten sollen und deren Übertretung zu bestrafen ist. Wir haben in unserer Korrespondenz ausführlich über die öffentliche Diskussion etwa der Frage der ethischen Indikation [zur Abtreibung, d. Red.] oder der Homosexualität berichtet und keinen Zweifel daran gelassen, daß die „Humanistische Union“ beide Tatbestände nicht für strafgesetzlich zu ahndende Delikte hält. Auch hier möchte ich feststellen, daß es meines Erachtens für uns eine andere Einstellung gar nicht geben kann. Dies aus zwei Gründen: Zum einen sind wir der Meinung, daß in einer Gesellschaft, in der die Anhänger sehr verschiedener Lebensanschauungen zusammenleben, das Strafgesetz hier nur jene Delikte erfassen darf, die nach Meinung aller Gruppen strafwürdig sind, und daß es nicht angeht, die moralischen Vorstellungen einer Gruppe zur Norm für alle zu machen. Es wird niemand, der die Homosexualität verabscheut, dazu gezwungen, sich selbst homosexuell zu betätigen. Es wird niemand, der den Ehebruch für ein Sakrileg hält, gezwungen, einen Seitensprung zu machen. Jeder hat die uneingeschränkte Freiheit, über die sittlichen Minimalnormen hinaus seine spezielle „höhere“ Moral zu verwirklichen. Der zweite Gesichtspunkt, der hier zu Buch schlägt, ist unsere Überzeugung, daß es den Staat nichts angeht, was sich zwischen erwachsenen Menschen abspielt, wenn damit niemand geschädigt wird. Die „Humanistische Union“ hätte meines Erachtens ihre Existenzberechtigung verloren, wenn sie auch nur den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen würde, daß sie nicht entschlossen ist, sich die Forderung nach dem Schutz der Privat- und Intimsphäre konsequent zu eigen zu machen. Das von uns erstellte Memorandum zur Strafrechtsreform geht jedenfalls von diesen Grundüberzeugungen aus und ich nehme an, daß Sie diesen Prinzipien zustimmen.

Dr. Gerhard Szczesny
19.11.1963

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