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Integration und Interessen

Lobbyismus in der EU – zivilgesellschaftlicher Reichtum oder demokratisches Defizit? Aus: vorgänge Nr.174, (Heft 2/2006), S. 68-78

Die Europäische Union scheint gegenwärtig an einem Wendepunkt angekommen zu sein. Das gescheiterte Verfassungsprojekt, die Osterweiterung im Jahre 2004 um 10 neue Staaten und die bevorstehende Erweiterung 2007 um Rumänien und Bulgarien haben die Einsicht reifen lassen, dass die Integration sich dadurch nicht vertieft hat oder vertiefen wird. Im Gegenteil, gegenwärtig sind Tendenzen einer Renationalisierung zu beobachten, die dem Ziel einer politischen Gemeinschaft zuwider laufen. Bei Beobachtern hat sich das Gefühl eingestellt, einer „Überdehnung der Grenzen Europas“ beizuwohnen, die letztlich zum Scheitern des „Projektes Europa“ als politischer Gemeinschaft führen wird.1 Damit würde Europa auf das Niveau eines reinen Binnenmarktes und einer wirtschaftsliberalen Freihandelszone zurückfallen. Das Projekt einer Demokratisierung Europas wäre durch diese Überdehnung gescheitert und notwendig wäre nur noch effektives Lobbying der verschiedenen Interessengruppen in Brüssel. Die Märkte haben sich durch das europäische Recht liberalisiert und durch den größer werdenden Wirtschaftraum hat die „negative Integration“ gegenüber der „positiven Integration“2 mit ihrem Fernziel einer europäischen Solidargemeinschaft mit belastbarer politischer Identität an Gewicht gewonnen.
Das Lobbying in der EU passt zur liberalen ökonomischen Logik der negativen Integration und der Marktliberalisierungsbemühungen der Europäischen Kommission. Es ist zu beobachten, dass sich inzwischen Interessen grenzüberschreitend organisiert haben und sich ein eigenständiges EU- Lobbying herausgebildet hat. Das EU- Lobbying ist aber nicht Resultat des Demokratiedefizits der europäischen Institutionen, sondern Ergebnis der Anpassung der Interessengruppen an die spezifischen Anreize, die ihnen das Institutionensystem, besonders die EU-Kommission, bietet. Die Förderung des Lobbying der Interessengruppen durch die Kommission wird die Probleme mit den beiden Dimensionen der demokratischen Legitimität, der Input-Dimension und der Output-Dimension, nicht grundlegend beheben können – auch wenn der Vizepräsident der EU-Kommission, Siim Kalles im Mai 2006 ein „Grünbuch“ zur Europäischen Transparenzinitiative3 vorgelegt hat, mit dem Spielregeln für das Lobbying definiert und die EU-Ausgaben transparenter gemacht werden sollen.

Lobbying: Europä­i­sie­rung und Demokra­ti­sie­rung?

Die Gründungsgeschichte der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zeigte einen sehr starken politischen Impuls, der auf eine voll entwickelte politische Gemeinschaft hin zielte. Die Entwicklung der europäischen Integration verlief aber zunächst über die Vergemeinschaftung des Kohle- und Stahlbereichs, dann der Landwirtschaft und später der weiteren Sektoren der Wirtschaft. Immer hoffte man, dass sich durch so genannte spill over- Effekte eine europäische Gesellschaft entwickelt, die aus sich selbst dann die Strukturen einer demokratischen politischen Gemeinschaft herausbildet. Von diesem Ziel ist die EU nach wie vor weit entfernt, und das Scheitern des Verfassungsprojektes zeigte, dass dieser Weg, der Ähnlichkeiten zur nationalen Staatswerdung aufweist, nicht Erfolg versprechend ist.
Trotzdem hat sich über die Jahrzehnte eine institutionelle Struktur der Vergemeinschaftung über den Markt herausgebildet, in deren Zentrum die Marktbürgerschaft steht. Vor allem mit dem Binnenmarktprojekt 1992 wurde eine institutionelle Struktur ausgebaut, in der die Interessengruppen eine zentrale Rolle spielen. Im Zuge der Schaffung des Gemeinsamen Binnenmarktes war ein starkes Wachstum der organisierten Interessen auf der Brüsseler Bühnen zu verzeichnen. Dabei hat sich auch ein spezifisches Muster des Lobbying dieser Gruppen entwickelt. In dieses Muster wurden unterschiedliche Politiktraditionen integriert, insbesondere die angelsächsische Art der Politikbeeinflussung.
Es gab insbesondere seitens der EU-Kommission Hoffnungen, das Demokratiedefizit durch die Förderung der Interessenartikulation zu kompensieren, doch aus einer Marktbürgerschaft erwächst nicht automatisch die politische Bürgerschaft. Umgekehrt gibt es aber ebenso wenig einen Effekt für die Demokratie, wenn dass Lobbying eingedämmt werden würde. Durch eine Stärkung der europäischen Demokratie durch mehr direkte Demokratie, Stärkung des EU-Parlaments, europäische Parteien etc. würde nicht zwangsläufig zur Folge haben, dass weniger private Interessengruppen auf die Politik der europäischen Institutionen Einfluss ausüben würden. Das spezifische EU-Lobbying ist untrennbarer Bestandteil des politischen Systems der EU und es verändern oder zurückdrängen zu wollen, würde bedeuten, die institutionellen Strukturen zu ändern. Ergeben hat sich eine Europäisierung der nationalen Interessengruppen, die eher eine Anpassung denn eine Neugründung – obwohl es diese auch gegeben hat – ist, nicht aber eine Europäisierung im politischen Sinne.

Lobby­gruppen und ihr Stellenwert

Es gibt keine verlässlichen Zahlen über Lobbyisten in Brüssel, sondern nur Schätzungen. Die Schätzungen schwanken zwischen 10.000 und 30.000 Personen, die mit EU-Lobbying beschäftigt sind. Verlässlicher ist die Zahl von rund 2.500 Interessengruppen, die Justin Greenwood erhoben hat.4 Diese Zahl umfasst die nationalen Verbände mit europäischem Ableger und die EU-Verbände, Unternehmensbüros mit Lobbycharakter, Büros der Regionen und nationalen Interessengruppen, Law Firms, die die amerikanische Tradition des Lobbying nach Brüssel gebracht haben und kommerzielle Public Affairs- Agenturen, die ihre Lobbyingdienste auf dem Markt anbieten.
Die Bedeutung der mehr als 10.000 Mitarbeiter der Lobbygruppen wird auch durch die Relation mit den 14.000 Beamten der EU-Kommission als Hauptadressat erkennbar. Es gibt zwar noch weitere 8.500 Mitarbeiter der Kommission für Übersetzungen, Sekretariat und technische Dienste, doch es wird davon ausgegangen, dass auf jeden Beamten der Kommission ein Lobbyist kommt.
Diese Interessengruppen waren für die EU-Kommission immer von besonderer Bedeutung, weil sie in ihrer Förderung einen Weg sah, das Demokratiedefizit zu beheben. Ganz besonders richtete sich daher das Augenmerk auf die zweitgrößte Gruppe, auf die „public interest groups“, die eine Verankerung der EU-Politik in der Zivilgesellschaft erbringen sollten. Die Interessengruppen aus dem Wirtschaftsbereich sind aber nach wie vor, was ihre Ressourcen und ihren Einfluss angeht, die stärksten.
Einfluss ist einer der zentralen Kategorien beim Begriff der Lobbying. Alle diese Interessengruppen versuchen durch Lobbying die Entscheidungen der EU-Institutionen (EU-Kommission, Parlament, Ministerrat) in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Die spezifische Art und Weise der Beeinflussung  steht in einem Spannungsverhältnis zu den formalen demokratischen Spielregeln und Verfahren. Denn Lobbying umfasst ein Set von Tools mit denen auf Beamte und politische Entscheider Einfluss ausgeübt wird, die abseits der formellen Wege eingesetzt werden. Die informelle Art der Beeinflussung vollzieht sich abseits öffentlicher Aufmerksamkeit und für Lobbyingprozesse ist mediale Aufmerksamkeit auch unerwünscht. Rinus van Schendelen spricht von „unorthodoxen Methoden“ und „ungewöhnlichen Mitteln“5. Diese ungewöhnlichen Mittel unterscheiden sich von den demokratischen Partizipationsinstrumenten (Wahlen, Delegation, Beteiligung an Institutionen, Beteiligung am Willensbildungsprozessen in Parteien). Zu diesen informellen Methoden zählen auch Kontaktnetzwerke und deren Pflege. Die wichtigsten Methoden von Lobbygruppen sind das Monitoring des politischen Prozesses und der Tausch von unterschiedliche Tauschgütern: gut aufbereitete Informationen, Expertise, politische Unterstützung gegen Interessenberücksichtigung. So ist der Erfolg der Lobbygruppen in Brüssel immer abhängig von der Ressourcenausstattung, der Präsenz vor Ort, den Kontaktnetzwerken und den eigenen organisatorischen Gegebenheiten, die schnelles Handeln ermöglichen sollen. Der spezifische Brüsseler Politikstil, die „Betonung der Handlungsrationalitäten von Effizienz und Sachlichkeit“6 begünstigt einen argumentativen Lobbyingstil, im Gegensatz zu den nationalen Traditionen, in denen die Lobbygruppen viel eher mit Drohpotenzialen arbeiten konnten. Durch ihre informelle Stellung scheinen Lobbyisten in allen politischen Systemen eine Scharnierfunktion zwischen dem Entscheidungssystem und den Interessengruppen zu haben. In der EU kommt aber noch ein besonderer Aspekt hinzu. Aufgrund der „Kontingenzen, Brüchen und Unsicherheiten europäischer Politik“ gibt es nach Christian Lahusen eine „erhöhte Nachfrage nach Informationsmaklern“7
Diese Scharnierfunktion ist aber nur zum Teil den Demokratiedefiziten des EU-Systems geschuldet. In normativer Hinsicht ergeben sich daraus aber Probleme, wenn die Prinzipien der demokratischen Verantwortlichkeit, der Chancengleichheit der verschiedenen Interessengruppen und der Transparenz der Entscheidungen verletzt werden.

Strukturen des Lobbying

Dieses Ungleichgewicht zwischen den Interessengruppen zeigt sich auf der europäischen Ebene. Nach Kohler-Koch u.a. würden rund 80 Prozent der Verbände wirtschaftliche Interessen vertreten und nur 20 Prozent allgemeine Interessen.8 Diese Bevorzugung der Produzenteninteressen zeigt sich zwar auch auf der nationalen Ebene, sie gewinnt aber auf der europäischen eine spezifische Dimension. Für das Lobbying auf der europäischen Ebene ist es daher nicht hinreichend, dass die Lobbygruppen als rationale Akteure beschrieben werden, die mehr oder minder professionell handeln.9 Hinzu kommen die besonderen institutionellen Bedingungen der europäischen Union, die Anreize schaffen und Zugangsmöglichkeiten öffnen oder auch verschließen. Diese besonderen institutionellen Bedingungen sind zugleich auch mit für das Demokratiedefizit der europäischen Union verantwortlich und eine Beschränkung des Lobbying allein würde daher das Demokratiedefizit nicht beseitigen.
Streeck und Schmitter haben bereits zu Beginn der 90er Jahre, wegen der beherrschenden Tradition der Vergesellschaftung über den Markt, das europäische System der Interessenrepräsentation als pluralistisches Modell beschrieben.10  Das politische Institutionensystem der EU ist durch die Vergemeinschaftung über den Markt und durch ein „utilitaristisches Verständnis von Politik“11, das statt des Gemeinwohls den Eigennutz als Leitlinie hat, gekennzeichnet. Von den Möglichkeiten und der Art und Weise des Lobbying unterscheidet es sich aber doch erheblich vom US-System, das ebenfalls als pluralistisch gilt. Denn im Unterschied zu den USA ist zum einen das System gegenüber Lobbygruppen offen und geschlossen zugleich, je nach Phase des Politikprozesses und dem Verhalten der Kommission. Hinzu kommt – im Gegensatz zum Mehrheitsprinzip der USA – die spezifische Art der politischen Willensbildung, die aus der EU ein Verhandlungssystem macht und ein „Regieren in Netzwerken“ zur Folge hat. Für Lobbygruppen bedeutet dies, dass sie anders als in einem pluralistischen oder etatistischen System agieren müssen. Den Strategien der Lobbygruppen auf EU-Ebene kommen daher die Erfahrungen in korporatistischen Systemen wie dem der Bundesrepublik entgegen.
In jüngerer Zeit hat sich daher für die komplexe Institutionenstruktur der europäischen Union die Beschreibung als Modell eines Mehrebenensystems durchgesetzt. Es umfasst die spezifischen Bedingungen für die Organisations- und Konfliktfähigkeit der verschiedenen Interessengruppen sowohl auf der nationalen als auch auf der europäischen Ebene. In diesem Mehrebenesystem, verstanden als „ineinander greifende Handlungssysteme“12, hat die Exekutive – die Kommission und der Rat – Handlungsvorteile gegen über dem Europäischen Parlament und den Interessengruppen. Denn die Kommission hat das Initiativerecht für alle politischen Projekte und versteht sich als die „Hüterin der Verträge“, die mit ihrer Politik die Europäisierung und Integration vorantreiben will.
Von dieser Seite hat das System pluralistischen Charakter und ist offen für Lobbygruppen, weil die Kommission die Lobbygruppen einlädt, bei „Gesetzgebungsprojekten“ mitzumachen. Sie tut dies, einerseits um die eigene Position durch strategische Allianzen mit gesellschaftlichen Interessengruppen zu stärken, andererseits weil sie Expertisewissen, „technical policy input“13 braucht, um die politischen Programme durchführen zu können.
Die EU hat aber auch den Charakter eines Verhandlungssystems mit einer kaum mehr überschaubaren Anzahl von Ausschüssen, in denen die nationalen Bürokratien, aber auch die Lobbygruppen einbezogen sind. Van Schendelen nennt rund 1800 solcher Ausschüsse mit etwa 80.000 Fachleuten, die jeweils zur Hälfte mit Experten aus den nationalen Regierungsapparaten und Privaten (Unternehmen, NGOs) besetzt sind. Diese Arbeitsgruppen sind für viele Lobbygruppen ein wichtiges Betätigungsfeld. Sie suchen Zugang zu diesen Verhandlungsrunden und bieten dort ihr Expertenwissen an. Die Kommission bietet diese Zugänge und die Lobbygruppen geben dafür politische Unterstützung und Expertise. Für Beyers und Kerremans steckt darin ein Nukleus demokratischer Input-Legitimation, denn die EU-Politiknetzwerke können nicht auf Expertise-gestütztes Verhandeln reduziert werden. Diese Politiknetzwerke fungieren in erheblichem Maße als „Kanäle durch die prinzipienorientierte Debatten fließen und in denen öffentliche Belange repräsentiert werden.“14 Lobbying ist daher auf der EU-Ebene sehr stark argumentativ geprägt und sachlich-nüchtern im Stil.
Diese Policy-Arenen können für Lobbygruppen bei aller Offenheit auch gleichzeitig große Hindernisse im Zugang darstellen. Die Kommission versucht zum einen als „gate-keeper“ den Zugang zu diesen Verhandlungsarenen zu kontrollieren und bestimmte Interessengruppen zu privilegieren. Zum anderen ist es für viele Lobbygruppen kaum möglich in allen Arenen gleichzeitig präsent zu sein oder auch nur alle Arenen mit gleicher Intensität zu beobachten. Hier werden ressourcenstarke Lobbygruppen bevorzugt. Darüber hinaus tun sich Lobbygruppen aus Deutschland mit einem korporatistischer Politiktradition leichter als Lobbygruppen aus Frankreich mit der etatistischen oder Großbritannien mit der pluralistischen Tradition. Die Europäisierung gelingt daher nicht allen Interessengruppen.
Weiterhin erhöht die Komplexität des Mehrebenensystems den Bedarf an Informationsbeschaffung, Analyse, Strategieplanung, Koalitionsbildung und Zielauswahl der Lobbygruppen. Viele Lobbygruppen versuchen durch Professionalisierung der Komplexität der europäischen Institutionen- und Entscheidungsstruktur Rechnung zu tragen, doch nicht allen gelingt dies auch in ausreichendem Maße.
Die Kommission ist traditionell die wichtigste Zielgruppe für das Lobbying, doch mit dem EU-Parlament ist in den letzten Jahren ein weiterer Adressat hinzugekommen. Die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens hat das Parlament zum attraktiven Adressaten für Lobbygruppen gemacht. Dabei zeigen sich in den Zugängen und in der Struktur der Nachfrage charakteristische Unterschiede zwischen den beiden Institutionen. Die Kommission ist vor allem an Fachwissen interessiert, weil sie Gesetzesvorschläge ausarbeiten muss. Sie ist in geringerem Umfang an umfassenden europäischen Interessen interessiert. Das Europäische Parlament versucht nach Cornelia Woll „Spaltungen und Blockaden durch nationale Konflikte (zu) vermeiden“ und öffnet sich daher stärker den umfassenden europäischen Interessen. Aufgrund dieser „Nachfragestruktur“ erklärt sich, wieso Unternehmen mit technischen Informationen vor allem Zugang zur Europäischen Kommission haben, während Europaverbände Kontakt mit dem Parlament und der Kommission pflegen“.15 Pieter Bouwen bestätigt diesen Befund, wonach Einzelunternehmen und Beratungsfirmen kaum Zugang zu den Parlamentariern finden. Sie gelten entweder als wenig vertrauenswürdig oder können keine umfassenden Interessen formulieren. Exzellente Zugänge hingegen haben nationale Verbände. Bouwen erklärt dies mit der immer noch bestehenden Verwurzelung der Parlamentarier in den nationalen Politiknetzwerken.16
Insgesamt ergibt sich durch verschiedene Studien und Befragungen der Eindruck, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments dem Lobbying positiv gegenüberstehen und an Lobbyisten das Angebot an gut aufbereitete Informationen schätzen. Die eigenen Mitarbeiter gelten aber immer noch als die wichtigsten und zuverlässigsten Informationsquellen, erst danach kommen die Informationsquellen der Lobbyisten.
Das Lobbying rund um die Chemikalienrichtlinie REACH hat aber jüngst gezeigt, dass die Bühne des Europäischen Parlaments für das Lobbying wichtiger wird. Wenn die Lobbyaktivitäten bei der Kommission nicht erfolgreich waren, so bietet sich nun beim Parlament eine zweite Chance, die Gesetzgebung zu verändern. Hinzu kommt, dass sich damit ein aggressiverer Lobbyingstil durchsetzt und dass in der Arena des Parlaments nationalen Lobbyakteuren besserer Zugang gewährt wird.

Europä­i­sie­rung des Lobbying

Als Verhandlungssystem mit pluralistischem Charakter zeigt das europäische Institutionensystem sich offen gegenüber den Lobbygruppen. Die Kommission lädt aber nicht nur die Lobbygruppen bei der Entwicklung von Policies ein, sondern fördert speziell die Bildung von europäischen Interessengruppen. Hat nun diese lobbygruppenfreundliche Politik zur Europäisierung der Interessengruppen und insgesamt zur Integration beigetragen?
Europäisierung kann zum einen verstanden werden als die Ausbildung eines politischen Systems auf der europäischen Ebene. Europäisierung kann zu zweiten auch verstanden werden als der Prozess durch den sich die nationalen Interessengruppen und Akteure auf den neuen europäischen Handlungsrahmen einstellen. In diesem Falle würde es zu einer allmählichen Konvergenz der nationalen Lobbytraditionen auf einer europäischen Ebene kommen. Es kann aber auch sein, dass die Lobbygruppen in den nationalen Traditionen verharren und die Bindungen an die nationalen Institutionen nicht aufgeben wollen.
Um den Fortschritt in der Integration durch die Förderung der Lobbygruppen bewerten zu können, ist zwischen den unterschiedlichen Ebenen des europäischen politischen Systems und zwischen den Typen der verschiedenen Interessengruppen zu differenzieren. Beate Kohler-Koch u.a. haben das zunächst für die nationale Interessenrepräsentation entwickelte Modell der Mitgliedschafts- und Einflusslogik auf die europäische Ebene übertragen.
Für viele Interessengruppen auf der nationalen Ebene ist mit der Europäischen Union zunächst nur eine weitere Ebene der Politikbeeinflussung hinzugekommen. Ergebnis ist, dass die nationalen Verbände „gleichzeitig in mehreren Welten leben“ und trotz der zunehmenden grenzüberschreitenden Organisation von Interessen, können wir nicht von einer durchgehenden „Europäisierung“ sprechen.17 Die Vielfalt der Lobbygruppen hat zugenommen und nationale Verbände sind Teil eines europäischen Verbandes und unterhalten in Brüssel eine eigene Repräsentanz. Hinzu kommt, dass einige ihrer Mitglieder, gerade transnationale Firmen, wie Siemens oder BASF, sowohl auf der nationalen als auch auf der europäischen Ebene eine Verbandsmitgliedschaft unterhalten und darüber hinaus eine eigene Konzernrepräsentanz haben.
Die Europäische Kommission verfolgt nicht nur eine Politik des offenen Zugangs, sondern unterstützt auch die Gründung von genuinen europäischen Verbänden (EuroFeds). Diesen EuroFeds gewährt sie auch privilegierten Zugang zu den verschiedenen Arenen. Solche EuroFeds wie die UNICE (Union of Industrial and Employers`Confederations of Europe), die sich bereits 1958 gründete, und EUROCHAMBRES, der europäische Zusammenschluss von Handelnskammern, sind aufgrund der heterogenen Mitgliederstruktur oft eher Foren für Diskussionen als schlagkräftige Lobbygruppen. Drei Viertel der UNICE-Mitglieder unterhalten wie der BDI darüber hinaus eigene Büros in Brüssel und verfolgen eigenständige Lobbystrategien. Hinzu kommt, dass daneben auch noch mit dem ERT (European Round Table of Industrialists) ein Zusammenschluss der CEOs der 100 größten Unternehmen besteht.
Die Mitgliedschaft von nationalen Verbänden in EU-Verbänden ist nach Rainer Eising unabdingbar, denn alle Alternativen sind kostspielig. Dennoch habe die „Europäisierung der Interessenvermittlung“ nicht dazu geführt, dass sich in Deutschland „EU-spezifische Interessengruppen“ gegründet hätten.18 Vielmehr würde nur eine bestimmte, gut mit Ressourcen ausgestattete Gruppe von den Möglichkeiten des EU-Lobbying profitieren: „Die EU hat somit die Macht von auf nationaler Ebene profilierten Organisationen gefestigt. Diese scheinen am ehesten in der Lage zu sein, aus den neuen politischen Gelegenheiten Kapital zu schlagen.“19 Notwendige Voraussetzungen neben materiellen Ressourcen sind Spezialisierung und Professionalität im Lobbying, was meist bei Verbänden auf dem oberen Segment der nationalen Verbandspyramide zu finden ist.
Die nationalen Verbände sind aber nicht die einzigen, die sich auf die neue europäische Dimension des Lobbying eingestellt haben. Die Europäisierung des Lobbying ist vor allem bei großen Unternehmen und bei Beratungsfirmen zu beobachten. Lahusen spricht daher von einer „Entwicklung der europäischen Beratungsindustrie“20, mit denen der angelsächsische Lobbyingstil in Brüssel Einzug gehalten hat.

Kompen­sa­tion des Demokra­tie­de­fi­zits durch Lobbying?

In verschiedenen Schüben hat sich eine europäische Lobbyingindustrie ausgebildet, die allerdings durch in Brüssel tätige nationale Interessengruppen ergänzt wird. Durch die spezifischen Anreizstrukturen hat sich damit teilweise eine Europäisierung der Interessengruppen und ihres Lobbying ergeben. Aber diese Europäisierung der Interessenpolitik hat nicht automatisch Auswirkung auf die mangelnde demokratische Legitimation der EU. Die Hoffnung der Kommission war, die offene Flanke des europäischen Institutionensystems, das Demokratiedefizit, durch eine stärkere Offenheit gegenüber dem Lobbying der Interessengruppen zu kompensieren. Greenwood kann daher festellen, dass “the EU’s democratic deficit has recently created a favorable environment for public intrests to operate in.” Er schränkt aber gleichzeitig die damit zusammenhängenden Hoffnung auf damit einhergehende Effekte der Demokratisierung ein: „Market power does not automatically translate to political power.“21
Um das Ziel der politischen Gemeinschaft zu erreichen, sollen zum einen  die Zugänge zur Kommission und zum Parlament verbessert werden. Dafür hat die Kommission intermediäre Räume der Konsultation und Beratung geschaffen. Zum anderen soll die umfassendere Einbindung der Lobbygruppen auch eine effizientere Gestaltung des europäischen Regierens erbringen. Im klassischen Fall der Out-put-Legitimation sollen die Problemlösungen qualitativ verbessert werden.
Die Strategie der Kommission, die Lobbygruppen stärker in die europäische Demokratie einzubinden und den Austausch mit ihnen als einen Zugewinn an Partizipation auszugeben, halten Eising und Kohler-Koch für „inszenierte Diskurse“22. Doch die Kommission hat eine Reihe von Anstrengungen unternommen, um dem Lobbying einen demokratiefördernden Charakter attestieren zu können. Das wichtigste Dokument für die neue Politik der Einbindung der Interessengruppen zur Behebung des Demokratiedefizits ist das Weißbuch zum Europäischen Regieren von 2001. Die Kommission hat dort eine Strategie der stärkeren „Einbindung der Zivilgesellschaft“23 in das europäische Regieren entworfen. Unter Zivilgesellschaft versteht sie den gesamten intermediären Bereich der organisierten Interessen, d.h. Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände ebenso wie Gewerkschaften und die traditionellen Gruppen der Non-profit- Organisationen und Public Interest- Groups. Diese Ausweitung und Umdefinition des Zivilgesellschaftsbegriffs erlaubt es der Kommission das Expertenwissen der Lobbygruppen für ihre Zwecke optimal nutzen und der Einbindung einen demokratischen, Partizipation fördernden Charakter geben zu können.24
Für die Kommission ist es vor allem die „organisierte Zivilgesellschaft“ – zu der sie aber auch Unternehmen und Unternehmensverbände zählt –  mit der „alle gesellschaftlichen Interessengruppen Gelegenheit haben sollen, ihre Meinung zu äußern.“ In der Mitteilung der Kommission zum Konsultationsverfahren stellt sie die Einbeziehung der organisierten Interessen ausdrücklich in einen demokratietheoretischen Zusammenhang: Die besondere Rolle der organisierten Zivilgesellschaft sei „eng verbunden mit dem in Artikel 12 der EU- Grundrechtecharta verankerten Grundrecht der Bürger, Vereinigungen zu bilden, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Die Mitgliedschaft in einer Vereinigung bietet dem Bürger eine weitere Möglichkeit, sich neben der Mitarbeit in politischen Parteien oder durch Wahlen aktiv zu beteiligen.“25 Auch im Entwurf des Verfassungsvertrages für Europa wurde im Artikel 46 diese Auffassung der Zivilgesellschaft und die demokratieförderliche Funktion des Lobbyings niedergelegt. Im Abs. 2 heißt es: „Die Organe pflegen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft.“
Die von der Kommission betriebene frühzeitige Einbindung der Interessengruppen in die Politikformulierung geht einher mit der Aufforderung der Kommission an die Lobbygruppen, zu bestimmten Themen Stellung zu nehmen. Die Kommission stellt aber auch, wie am Beispiel der Konsultation zur Chemikalienkontrolle deutlich wird, technische Infrastruktur wie online-Konsultationsverfahren zur Verfügung. Immer noch sprechen aber die Intransparenz und die Fülle der Beratungsgruppen (das Weissbuch nennt 700 beratende Ad-hoc- Gremien) gegen den demokratieförderenden Charakter der Einbindung der Lobbygruppen.
Die Europäische Kommission ging noch einen Schritt weiter und unterstützte die Gründung ressourcenschwacher Interessengruppen und NGOs finanziell und organisatorisch. Insbesondere lag ihr die Bildung europäischer Verbände und NGOs am Herzen, die jenseits der nationalen Ebene eine europäische Perspektive einnehmen sollen. Doch selbst bei den NGOs, die auf keine nationalen Interessentraditionen Rücksicht nehmen müssen, ist zu beobachten, dass die Nichtregierungsorganisationen, die für allgemeine Interessen lobbyieren, nicht den Prozess in Gang setzen, in dem aus den „Marktbürgern“ politische Bürger werden sollen. Stattdessen beobachtet Warleigh: “NGOs supporters do not wish to use these organisations as a means of active citizenship”26. Auch die NGOs verhalten sich wie Marktteilnehmer und betreiben Lobbying und tragen nicht dazu bei, dass Demokratisierungseffekte erfolgen würden.

Fazit

Die Politik der Kommission, über die Förderung von Lobbygruppen die Europäisierung zu erreichen und das Demokratiedefizit zu mildern hat sich als unzulänglich erwiesen. Mit dem neuen Grünbuch zur Europäischen Transparenzrichtlinie will der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Siim Kallas, einen anderen Weg beschreiten. Es soll mehr Spielregeln für das Lobbying geben, die im Sinne der Input-Legitimation mehr Transparenz schaffen und die demokratische Qualität des Politikprozesses verbessern sollen. Weil das Lobbying zunimmt, so Kallas, müsse es mehr Informationen darüber geben, wen die Lobbyisten vertreten, welche Ziele sie verfolgen und wie sie finanziert werden. Allerdings schlägt Kallas keine Registrierungspflicht wie im Amerikanischen Vorbild mit dem Lobbying Disclosure Act von 1995 vor, sondern ein System der freiwilligen Registrierung. Spezielle Zugänge zu Online-Befragungen bei EU-Initiativen sollen Anreize zur Registrierung schaffen. Flankiert werden soll die Registrierung durch einen gemeinsamen Verhaltenskodex für alle Lobbyisten.
Das Europäische Parlament (EP) ist hier ein Stück weiter. Es hat ein Akkreditierungssystem für Lobbyisten und die Liste der akkreditierten Lobbyisten wird auf der Website des EP veröffentlicht. Doch aus den Daten geht nicht hervor, welche Interessen ein Lobbyist vertritt.
Diese Maßnahmen sind angesichts der generellen Tendenzen notwendig, aber sind kaum ein Beitrag die durch die Überdehnung der Grenzen Europas heraufbeschworenen Problemen zu mildern oder gar zu lösen. Vielmehr nimmt das Lobbying zu und auch der Stil des Lobbying, der immer noch als konstruktiv und konsultativ beschrieben wird, ändert sich zusehends. Mit angelsächsischen Law firms, kommerziellen Lobbyagenturen und der wachsenden Heterogenität der EU hält auch ein kompetitiver und aggressiver Lobbyingstil Einzug. Mit dem EP wächst ein neuer relevanter Adressat für das Lobbying heran, so dass insgesamt die Komplexität noch zunimmt. Ergebnis wird sein, dass Lobbyerfolge immer stärker von den finanziellen und organisatorischen Ressourcen abhängig werden.

1    Sinia Grimm/Wolfgang Merkel, Die Grenzen der EU: Erweiterung, Vertiefung und Demokratie, in: Jens Alber/Wolfgang Merkel (Hg.), Europas Osterweiterung: Das Ende der Vertiefung?, (WZB Jahrbuch 2005), 183-206, hier: S. 202.
2     Fritz Scharpf, Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch? Frankfurt/New York 1999.
3     http://ec.europa.eu/commission_barroso/kallas/doc/com2006_0194_4_de.pdf
4    Justin Greenwood, Interest Representation in the European Union, Basingstoke: Palgrave/ Maxmillan 2003, S. 9. Rinus van Schendelen schätzt die Zahl der Gruppen auf 3.000; siehe: Rinus van Schendelen, Brüssel: Die Champions League des Lobbying, in: Thomas Leif / Rudolf Speth (Hg.), die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden, 2006, S. 136.
5     Schendelen, Brüssel: Champions League des Lobbying, S, 132,
6    Beate Kohler-Koch, Thomas Conzelmann, Michèle Knodt, Europäische Integration – Europäisches Regieren, Wiesbaden 2004, S. 240.
7   Christian Lahusen, Kommerzielle Beratungsfirmen in der Europäischen Union, in: Rainer Eising, Beate Kohler-Koch (Hg.), Interessenpolitik in Europa, Baden-Baden 2005, 251-280, hier: S. 275
8     Kohler-Koch, Conzelmann, Knodt, Europäische Integration, S. 234.
9     Siehe dazu: van Schendelen, Brüssel: Die Champions Leagua des Lobbying.
10  Wolfgang Streeck, Philippe C. Schmitter, From national Corporatism to transnational poluralism,    Politcs and Society, Band 19, Heft, 2 (1991), S. 133-164.
11  Kochler-Koch, Conzelmann, Knodt, Europäische Integration, S. 175.
12  Kohler-Koch, Conzelmann, Knodt, Europäische Integration, S. 170
13  Greenwood, Interest reppresentation in the European Union, S. 46.
14  Jan Beyers, Bart Kerremans, Bürokraten, Politiker und gesellschaftliche Interessen. Ist die Europäi  sche Union entpolitisiert?, in: Rainer Eising, Beate Kohler-Koch (Hg.), Interessenpolitik in Europa, Baden-Baden 2005, 123-149,S. 149.
15  Cornelia Woll, Herrschaft der Lobbyisten in der Europäischen Union?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 15-16/2006, 33-38, hier: S. 37.
16  Pieter Bouwen, Zugangslogik in der Europäischen Union: der Fall des Europäischen Parlaments, in: Rainer Eising, Beate Kohler-Koch (Hg.), Interessenpolitik in Europa, Baden-Baden 2005, 95-122, hier: S. 119.
17   Kohler-Koch, Conzelmann, Knodt, Europäische Integration, S. 237.
18   Eising, Die Europäisierung deutscher Interessengruppen, S. 318f.
19   Eising, Die Europäisierung deutscher Interessengruppen, S. 334.
20   Lahusen, Kommerzielle Beratungsfirmen in der Europäischen Union, S. 274.
21   Greenwood, Interest representation in the European Union, S. 74.
22   Eising, Kohler Koch, Interessenpolitik im europäischen Mehrebenensystem, S. 56.
23   Europäische Kommission, Weissbuch. Europäisches Regieren Brüssel 2001, S. 29.
24 „Partizipation heißt nicht Institutionalisierung von Protest. Partizipation bedeutet vielmehr wir kungsvollere Politikgestaltung auf der Grundlage frühzeitiger Konsultationen“, heißt es im Weiss-  buch. Siehe: Kommission, Europäisches Regieren, S. 30.
25  Die Europäische Kommission, Mitteilungen der Kommission. Hin zu einer verstärkten Kultur der Konsultation und des Dialogs. Allgemeine Grundsätze und Mindeststandards für die Konsultation betroffener Parteien durch die Kommission, Brüssel 2002, S. 5 (KOM (2002) 704 endg.).
26  Alex Warleigh, Informal Governance: What Contribution to the Legitimacy of the EU?, in: Thomas Christiansen, Sinona Piattoni (hg.), Informal Governance in the European Union, Aldershot 2003, Edward Elgar Publicytions, 22-35, hier: S. 30.
 
 

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