Beitragsbild Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag
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Plädoyer für einen neuen Gesell­schafts­ver­trag

Die Zukunft der Wohlfahrtsstaaten in Europa.

Aus: vorgänge Nr.174, (Heft 2/2006), S.39-51

Es gibt keinen europäischen Wohlfahrtsstaat, zumindest nicht im Singular. Wer vom „Europäischen Sozialmodell“ in der Europäischen Union reden will, sollte immer den Plural verwenden. Denn die Sprache von dem europäischen Wohlfahrtsstaat oder dem europäischen Sozialmodell1 ist politisch und als solche von taktischen Abgrenzungsversuchen  meist gegen den angloamerikanischen Kapitalismus  inspiriert. Analytisch ist die Sprache von „dem“ europäischen Wohlfahrtsstaat falsch. Dies wissen wir mit einiger konzeptioneller und statistischer Klarheit spätestens seit Gøsta Esping- Andersens berühmter Studie „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ aus dem Jahre 1990.
Das Zugeständnis und Wissen, dass es unterschiedliche Typen von Sozialstaaten gibt, hat nicht nur den Vorteil diagnostischer Präzision, sondern auch jenen einer höheren prognostischen Kapazität. Handlungsorientiert gesprochen, signalisiert er eine höhere Bereitschaft, aus den eigenen wie aus anderen Erfahrungen im Vergleich zu lernen (benchmarking) und gegebenenfalls in Reformpläne umzusetzen. Und – Reformen sind notwendig, wollen die europäischen Wohlfahrtsstaaten solch zentrale Herausforderungen bewältigen, wie die demographischen Veränderungen, die Wirtschaftsverträglichkeit sozialstaatlicher Sicherungen, die Finanzierbarkeit des Sozialstaats sowie die Sicherung einer hinreichenden Fairness und Kohäsion in ihren entwickelten demokratischen Gesellschaften.
Schaut man sich die Wohlfahrtstaaten in der Europäischen Union in dieser Absicht an, so lassen sich zunächst mit Esping- Andersen drei Typen von Wohlfahrtsstaaten unterscheiden:
· der liberale Wohlfahrtsstaat, wie er prototypisch von Großbritannien vertreten wird, dessen Merkmale sich aber zunehmend auch in den Niederlanden finden lassen;
· der konservative Wohlfahrtsstaat, wie er vor allem in Deutschland und Frankreich, aber auch in Österreich, Belgien und Italien zu finden ist;
· der sozialdemokratische Wohlfahrtstaat, für den die skandinavischen Länder Dänemark, Norwegen, Schweden und seit einigen Jahren auch Finnland stehen.
Andere fügten später den mediterranen oder nach 1990 den osteuropäischen Wohlfahrtsstaatstypus hinzu. Die beiden letztgenannten sind jedoch klare Mischtypen. Dies könnte in näherer Zukunft anders sein, wenn man die osteuropäischen Tendenzen zur Marginalisierung der Steuer- und Sozialstaatlichkeit in die Zukunft extrapolieren will. Für die Gegenwart erscheint es mir empirisch gesicherter, es bei den drei klassischen Wohlfahrtsstaatstypen zu belassen

Die Performanz der Wirtschafts- und Wohlfahrts­re­gime

Für die Beurteilung der Wohlfahrtsstaaten und den Erfolg von Reformpolitik ist ihre Performanz auf drei zentralen Politikfeldern entscheidend, die in einem besonders engen funktionalem Zusammenhang mit ihrer Struktur stehen. Diese Politikfelder sind: Fiskalpolitik, Beschäftigungspolitik, Sozialpolitik.
Anhand dieser Politikfelder wurden sechs Länder (Großbritannien und die Niederlande, Deutschland und Frankreich sowie Dänemark und Schweden) hinsichtlich der gezeigten Reformfähigkeit als auch des dadurch erreichten Status untersucht.2 Die Untersuchungsperiode beginnt in der Mitte der 1990er Jahre und endet mit dem Jahr 2004.

Die Fiskal­po­litik

Vergleicht man die Fiskalpolitik der sechs Länder hinsichtlich ihrer Veränderung als auch ihres aktuellen Standes, so schneiden Schweden und Dänemark am besten ab. Beide Länder haben erfolgreich ihr Budget konsolidiert, indem sie die Ausgaben begrenzten, aber gleichzeitig die Steuereinnahmen auf ihrem hohen Niveau beließen. Sie reduzierten allerdings die Körperschaftsteuern, um die Kapitalflucht zu stoppen, die Anfang der 1990er Jahre insbesondere in Schweden enorme Probleme bereitet hatte. Großbritannien und die Niederlande rangieren im Mittelfeld. Beide Länder reduzierten erfolgreich die Staatsschulden und Haushaltsdefizite, indem sie die Ausgaben begrenzten und die Arbeitslosigkeit verringerten. Deutschland und Frankreich sind die Verlierer in diesem fiskalpolitischen Vergleich. Beide Länder schafften es nicht, ihre Ausgaben zu zügeln und ökonomisches Wachstum durch Steuerreformen zu stimulieren. Vor allem die Reduktion der Einkommens- und Körperschaftsteuer in Deutschland verfehlte das proklamierte Ziel eines Wachstums der Investitionen, des Konsums und der Wirtschaft. Die Steuersenkungspolitik von Rot-Grün war zudem weder wirtschaftlich erfolgreich noch sozialdemokratisch. Die Politik gezielter Steuererhöhungen der sozialistischen Linkskoalitionen war in Frankreich hinsichtlich der Steuereinnahmen und der Minderung des Haushaltsdefizits zwar gleichfalls erfolglos, wies aber zumindest keine solch vergleichbare unsoziale Schlagseite auf wie in Deutschland.

Abbildung 1: Performanz in der Fiskalpolitik

Anmerkung für Abb. 1-4: Für die Standardisierung des Status wurden die länderspezifischen prozentualen Abweichungen bei jeweils zwei Indikatoren in den Politikfeldern vom arithmetischen Mittel der sechs Länder errechnet. Für die Fiskalpolitik waren dies die Staatsverschuldung und das strukturelle Haushaltsdefizit, für die Beschäftigungspolitik die beschäftigungs- und die Arbeitslosenquote und für die Sozialpolitik die preisbereinigten Pro-Kopf-Sozialausgaben und die Veränderungsquote der Armutsgefährdung vor und nach sozialen Transfers. Für den Veränderungsindikator wurde jeweils die Prozentpunkt- Veränderung von Untersuchungsbeginn (1977) bis Untersuchungsende (2004/5) der beiden Indikatoren verwendet. Die Ergebnisse wurden in Relation zum maximalen Wert auf einer Skala von -100 bis +100 normiert. Für die oben abgebildete Gesamtbilanz wurde dann die Summe der länderspezifischen Status- und Veränderungswerte errechnet. Positive Werte bedeuten niedrigere Schulden bzw. Defizite, niedrigere Arbeitslosenquoten bzw. höhere Beschäftigungsquoten und höhere Schulden bzw. Defizite, höhere Arbeitslosenquoten und niedrigere Erwerbsquoten und niedrigere Sozialausgaben.
Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage von Eurostat und Daten der OECD.

Die Arbeits­markt­po­litik

Betrachtet man die durchschnittlichen Veränderungen der letzten Jahre als auch den aktuellen Status (meist die Jahre 2003/4), so sind bei der Bewältigung des Beschäftigungsproblems die Niederlande bis zu jenem Zeitpunkt die Erfolgreichsten gewesen. Vor allem die Schaffung von Teilzeitjobs für Frauen und Migranten trug zu einer steigenden Beschäftigungs- und sinkenden Arbeitslosenrate bei.3 Wie erwartet folgen die beiden skandinavischen Staaten und Großbritannien. Die schlechteste Vorstellung bietet erneut Deutschland, dicht gefolgt von Frankreich. Dieses Gesamtbild ist eine Reproduktion dessen, was der Vergleich bereits in der Fiskalpolitik ergeben hat. In der Arbeitsmarktpolitik wiegt dieses Politikversagen für sozialdemokratische Regierungen jedoch ungleich schwerer, da hier programmatische Kernziele der Sozialdemokratie verfehlt werden und vornehmlich die unteren Schichten der sozialdemokratischen Wähler von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Auch die niedrigen Frauenerwerbsquoten in Deutschland und mit Abschwächung auch in Frankreich lassen sich nicht mit den gesellschaftlichen Emanzipationszielen der Gleichberechtigung in Deckung bringen.

Abbildung 2: Performanz in der Beschäftigungspolitik im Vergleich

Die Sozial­po­litik

Als Indikatoren zum Vergleich der Sozialpolitiken wurden die Sozialausgaben pro Kopf der Bevölkerung und die Veränderung des Armutsrisikos durch Sozialtransfer mit einbezogen. Gemessen daran hat Großbritannien im Jahr 2001 den letzten Rang beibehalten, obgleich dort die größten positiven Veränderungen in den letzten Jahren zu verzeichnen waren. Zwar hat New Labour die Sozialausgaben angehoben und das Armutsrisiko für bestimmte Zielgruppen moderat gesenkt, doch reichte das nicht, um zu dem Niveau Kontinentaleuropas aufzuschließen, ganz zu schweigen von Skandinavien. 

Abbildung 3: Performanz in der Sozialpolitik im Vergleich

Da Dänemark und Schweden bereits zu Beginn des Untersuchungszeitraumes eine extrem gute Position einnahmen, ist es ihnen nicht gelungen, diese noch weiter zu verbessern. Entgegen der landläufigen Annahme ist die sozialpolitische Bilanz Frankreichs keineswegs besonders positiv, allerdings ist sie wesentlich besser als die britische.
Fasst man die Ergebnisse in den drei Politikfeldern der Fiskal-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in einem Gesamtranking zusammen, rangieren die skandinavischen Länder erneut an der Spitze, Frankreich und Deutschland am unteren Ende. Eine Ausnahme bildet die Sozialpolitik. Selbst nach neun Jahren Regierung ist es New Labour nicht gelungen, die in den neoliberalen Jahren der Thatcher-Politik (1979-1997) entstandene Lücke zu den anderen fünf Ländern zu schließen. Dieses Gesamtbild hat sich bis 2005 nicht wesentlich verändert, obgleich Deutschlands Position sich in den letzten drei Jahren vor allem aufgrund einer gestiegenen Armutsrate, bedingt durch gestiegene Arbeitslosigkeit und die Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit, weiter verschlechtert hat. Auch das ist für die rot-grüne Regierungskoalition ein besonders problematisches Politikergebnis, da beide Parteien programmatisch der Armutsvermeidung eine höhere Präferenz geben, als dies bei der CDU/CSU oder FDP der Fall ist (Abb. 4)

Abbildung 4: Gesamtperformanz sozialdemokratischer Regierungen im Vergleich

Die Gerech­tig­keits­bi­lanz

Die schlechte wirtschaftspolitische Bilanz hatte negative Folgen für die Gerechtigkeitsbilanz. Die bisweilen vertretene Position, man könne Schwächen in der ökonomischen Performanz hinnehmen, wenn man nur die soziale Kohäsion, Fairness und soziale Gerechtigkeit sichere, ist eine Illusion.
Wachstumsschwächen und eine schlechte beschäftigungspolitische Bilanz schlagen sich spätestens mittelfristig auf die Verteilungsrelationen in einer Gesellschaft nieder. Betrachtet man soziale Gerechtigkeit als ein Konstrukt von fünf wesentlichen Dimensionen4, nämlich Armutsquoten, Bildungschancen, Inklusion in den Arbeitsmarkt, Soziale Sicherung und Einkommensverteilung, ergibt sich eine Rangfolge, die an der Spitze der wirtschaftspolitischen Performanz gleicht, aber am Ende des Rankings eine signifikante Veränderung zeigt.
Dänemark und Schweden führen erneut die Rangfolge an, die Niederlande befinden sich in der Mitte und Frankreich rückt nach vorn. Deutschland befindet sich erneut auf dem vorletzten Platz. Allerdings liefert das Schlusslicht der Gerechtigkeitsbilanz Großbritannien den empirischen Beleg, dass eine gute wirtschafts- und beschäftigungspolitische Bilanz alleine keineswegs automatisch auch soziale Gerechtigkeit produziert. Die hohen Armutsquoten, Kinderarmut, Haushalte ohne Erwerbstätigkeit, „working poors“ unter Immigranten und alleinerziehenden Eltern (v. a. Frauen) zeigen, dass auch eine moderate Variante des angelsächsischen Liberalkapitalismus, wie die britische, tiefe Schatten auf die Gerechtigkeitsbilanz einer Gesellschaft wirft. Trotz sichtbarer Verbesserungen in den neun Regierungsjahren von New Labour hat sich die schlechte Position des Vereinigten Königreichs im internationalen Gerechtigkeitsvergleich nicht verbessert.

Abbildung 5: Index sozialer Gerechtigkeit (z-scores, gewichtet, Durchschnittswerte 1995  2005)

 Land

Armuts-

quote

Bildung

Arbeit

Sozial-

ausgaben

Ein-

kommen

Index

 

(5)

(4)

(3)

(2)

(1)

 

 Dänemark

 

7,33

 

11,02

4,32

1,76

1,76

5,24

 Schweden

 

 5,05

 

8,21

3,22

2,63

1,54

4,13

 Niederlande

 

4,11

 

-1,71

3,11

1,35

0,33

1,44

 Frankreich

 

1,45

 

2,20

0,43

2,28

0,15

1,30

 Deutschland

 

1,26

 

-2,85

0,43

1,91

0,53

0,26

 Großbritannien

 

-2,96

 

-1,82     

2,88      

  1,50     

-0,96

-0,27    

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage von Eurostat und Daten der OECD.

Die Zukunfts­fes­tig­keit der Sozial­staaten

Die Bilanz der Vergangenheit für die sechs Länder, die ich paradigmatisch für die drei Wohlfahrtstypen vorgestellt habe, ist klar. Die skandinavischen Länder führen in jeder Hinsicht, gefolgt von den Niederlanden und Großbritannien. Deutschland und Frankreich bilden die Schlusslichter. Die gemeinsame Herausforderung der Globalisierung und Europäisierung hat also weder zu einer Konvergenz der Politiken noch der Politikergebnisse geführt. Die Fähigkeit, neue Herausforderungen anzunehmen, divergierte stark zwischen den sechs Ländern. Dies ist ein weiteres starkes empirisches Argument, das gegen die simplifizierende These der Neoliberalen und Postmarxisten spricht, die Globalisierung habe die Handlungsspielräume der nationalstaatlichen Regierungen so verengt, dass in Zukunft eine marktdiktierte Konvergenz der Wirtschafts- und Sozialpolitiken zu erhoffen (Neoliberale) oder zu befürchten (strukturkonservative Postmarxisten) sei.
Man könnte nun argumentieren, diese Politikergebnisse spiegeln nur die Entwicklung der letzten Dekade wider. Solche Erfahrungen lassen sich nicht einfach in die Zukunft extrapolieren. Um diese Frage zu prüfen, soll im Folgenden die Zukunftsfestigkeit der europäischen Wohlfahrtsstaaten daran gemessen werden, wie sie drei große Herausforderungen meistern können. Dazu soll nicht mit empirischen Ergebnissen, sondern mit den Strukturen, Verfahren, Organisationsformen, kurz, mit den Stärken und Schwächen der Wohlfahrtsstaatstypen argumentiert werden. Die Prüfsteine sind:
· die demographische Herausforderung;
· die Finanzierbarkeit des Wohlfahrtsstaats;
· die Herstellung von sozialer Kohäsion und Fairness.

Das liberale Wohlfahrts­re­gime

Der britische Wohlfahrtsstaat verfügt im Vergleich der OECD-Staaten über ein mittleres Finanzvolumen.5 Die Sozialausgaben Großbritanniens beliefen sich 2001 auf 21,8 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP). Beträchtliche Bereiche dieser Ausgaben werden wie der Nationale Gesundheitsdienst (NHS) aus allgemeinen Steuern und nicht über Sozialversicherungsbeiträge und Lohnnebenkosten finanziert. Im Jahr 2001 betrug die Geburtenrate in Großbritannien 1,63. Die durchschnittliche EU-Rate lag im selben Jahr bei 1,47 pro Frau. Das tatsächliche Rentenalter (2000: 62 Jahre) überstieg deutlich jenes auf dem europäischen Kontinent (EU-Durchschnitt: 60,9). Das Verhältnis zwischen erwerbstätiger und nicht erwerbstätiger Bevölkerung fällt in Großbritannien, anders als in den meisten Wohlfahrtsstaaten des Kontinents, zugunsten der Erwerbstätigen aus. Während die Beschäftigungsrate in Großbritannien 2003 immerhin 78 Prozent betrug, lag der EU-Durchschnitt bei nur 70,7 Prozent. Die liberalen angelsächsischen Wohlfahrtsstaaten – und der britische unter New Labour bildet hier keine Ausnahme – binden ihre Sozialleistungen an Bedürftigkeit und die Pflicht zur Arbeitsaufnahme. Mit ihrer niedrigeren Arbeitslosigkeit und höheren Frauenerwerbsquote, mit dem wachsenden Anteil privater Wohlfahrtsdienste sowie ihrer stärkeren Finanzierung über allgemeine Steuern sind sie weniger von der finanziellen Belastung einer alternden Gesellschaft herausgefordert, als dies auf dem europäischen Kontinent der Fall ist.6
Der britische Wohlfahrtsstaat zahlt dafür jedoch einen hohen Preis. Selbst nach achtjähriger Regierungszeit von New Labour spalten die Ausdehnung der privaten Wohlfahrtsdienste und die steigenden Ausgaben privater Haushalte zur Abdeckung von Privatversicherungen immer noch die Gesellschaft in zwei Teile. Die Beschäftigungsdynamik allein hat kaum zur Senkung der hohen Armutsraten und der Anzahl arbeitsloser Haushalte beigetragen. Der britische Wohlfahrtsstaat ist allerdings nicht so sehr in seiner Finanzierungsfähigkeit bedroht. Aber er hat das vorrangige Ziel der Beschäftigungsausdehnung mit der Verbreitung von Niedriglohnjobs, dem ungleichen Zugang zur Sozialversicherung und der hohen sozialen Exklusion marginalisierter Gruppen geopfert. Die in den beiden Amtszeiten Blairs aufgelegten Programme zur Bekämpfung der Kinderarmut haben nicht ausgereicht, um Ungleichheit und Armut der letzten zwanzig Jahre sichtbar zu verringern. Insofern ist der liberale Wohlfahrtsstaat kein Auslaufmodell, aber aufgrund seiner sozialen Kollateralschäden kein nachahmenswertes Modell. Was schon für den britischen Mischtyp gelten mag, gilt in besonderer Weise für den Archetyp marginaler, liberaler Wohlfahrtsstaaten in den USA.

Der konser­va­tive Sozia­l­ver­si­che­rungs­staat

Die Wohlfahrtsstaaten des Kontinents sind wegen der anachronistischen Art ihrer Finanzierung mit viel größeren Schwierigkeiten konfrontiert als die liberale Welt des Wohlfahrtskapitalismus. Die Sozialausgaben (2004) sind beträchtlich höher (Frankreich 30,5 %; Deutschland 29,3 %) und werden größtenteils über Lohnnebenkosten finanziert. Bezahlt wird dies mit einer Fesselung der Beschäftigungsdynamik. Das Bismarck’sche Sozialversicherungsmodell, das immer noch den deutschen wie kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaat prägt, ist in Zeiten der Globalisierung und des demographischen Wandels zum Stabilisator der Arbeitslosigkeit geworden. Eine abnehmende erwerbstätige Bevölkerung kann schon in naher Zukunft nicht mehr die Hauptlast der Sozialversicherung über Lohnnebenkosten schultern. Dies ist bereits im deutschen Rentensystem sichtbar, wo die Bundesregierung rund 30 Prozent (2004) der Renten aus allgemeinen Steuern finanziert. Die hohen Lohnnebenkosten erschweren das Jobwachstum und führen in einer offenen Volkswirtschaft zu hohen Arbeitslosenraten. Die immer noch zu unflexiblen Tarif- und Arbeitsmarktregulierungen tragen zudem zu einer ebenso scharfen wie ungerechten Trennung zwischen Insidern und Outsidern bei.
Die unsichere Beschäftigungslage für junge Menschen und das Fehlen flächendeckender und qualitativ anspruchsvoller Kinderbetreuung haben einen negativen Einfluss auf die Geburtenrate. Die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt bedeutet Unsicherheit in der wirtschaftlichen Zukunftserwartung. Diese wiederum lässt junge Paare ihren Kinderwunsch zurückstellen. So kommt es nicht von ungefähr, dass in den Ländern mit der schwächsten Wirtschaftsentwicklung  Deutschland und Italien  die Lücke zwischen Kinderwunsch und tatsächlicher Geburtenrate besonders groß ist. Die mangelnde öffentliche Bereitstellung von Kinderbetreuung setzt dann noch zusätzliche Hürden, dass Frauen Erwerbsarbeit und eine berufliche Karriere mit der Erziehung von Kindern vereinbaren können (Esping- Andersen 2002). Entgegen wohlfeiler Lippenbekenntnisse hält der deutsche Sozialstaat sozialpolitisch immer noch an der traditionellen Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern fest. Die Verlierer sind die Frauen und die Gesellschaft. Denn die Folgen sind sowohl geringe Geburtenraten als auch niedrige Frauenerwerbsquoten. Während Frauen in zunehmendem Maße besser ausgebildet sind als Männer, verfestigen die institutionellen Strukturen des bismarckschen Sozialversicherungsstaats die traditionellen Rollen- und Familienmuster.
Das trifft besonders auf Deutschland und das südliche Europa zu. Es gilt weniger für Belgien und gar nicht für Frankreich mit seiner umfassenden öffentlichen Kinderbetreuung, seinen Ganztagsschulen und großzügigen Familienbeihilfen. Deshalb ist es wenig überraschend, dass im Jahr 2001 Frankreich die höchste Geburtenrate in Westeuropa aufwies (1,9); in Belgien betrug sie 1,65, während sich Deutschland (1,29), Spanien (1,25) und Italien (1,24) am untersten Ende befanden. Andererseits sind die Armutsrate und die Einkommensungleichheit in Deutschland aufgrund der relativ hohen Löhne für gering qualifizierte Arbeitskräfte und großzügiger passiver Sozialhilfen immer noch viel niedriger als in der angelsächsischen Welt. Dies ist sozial wünschenswert, belastet aber die öffentlichen Kassen und die Beschäftigungsdynamik im unteren Lohnsegment und kann deshalb nicht nachhaltig sein.
Deutschland, Südeuropa und weite Teile des europäischen Kontinents befinden sich in der „Wohlfahrt-ohne-Arbeit-Falle“ (Esping- Andersen 2002) und damit in einem Dilemma: Ihre Sozialversicherungen können weder langfristig finanziell überleben, noch sind sie sozial besonders gerecht, weil sie Frauen, junge Menschen, Migranten und andere Außenseiter des Arbeitsmarktes diskriminieren. Massive Investitionen in die Kinderbetreuung und Bildung, verstärkte Beschäftigung von Frauen und älteren Menschen, Verlagerung der Sozialversicherungslasten von den Lohnnebenkosten auf die allgemeinen (Mehrwert)Steuern und die Bereitstellung qualitativ hoher sozialer Dienstleistungen sind notwendige Voraussetzungen für die Zukunftsfähigkeit und Gerechtigkeit der postindustriellen Gesellschaften. Ein effektiver Politikwechsel in diese Richtung lässt sich in Deutschland nicht erkennen. Auch dies zählt zu den Versäumnissen der rot-grünen Regierungskoalition.
Wenn es ein Auslaufmodell europäischer Sozialstaaten gäbe, dann ist es das kontinental-(und süd-)europäische Modell – allen voran jene Varianten, die sich in Italien und Deutschland zäh halten. Sie sind sozial ungerecht, emanzipationsfeindlich, demographisch schädlich, behindern die Beschäftigungsdynamik und sind deshalb längerfristig kaum mehr zu finanzieren.

Der sozial­de­mo­kra­ti­sche Wohlfahrts­s­taat

Aufgrund der stärkeren Steuerfinanzierung, der Dienstleistungsorientierung sowie der frauen- und kinderfreundlichen Politik haben sich die skandinavischen (sozialdemokratischen) Wohlfahrtsstaaten am besten an den postindustriellen Wandel und die demographische Herausforderung angepasst. Indem sie umfangreiche, qualitätsorientierte Sozialdienstleistungen zur Verfügung stellen, haben sie viele Menschen frei von bedürfnisabhängigen monetären Transfers gemacht. Ihre Beschäftigungs- und Sozialpolitik stärkt die Familien, fördert die individuelle Unabhängigkeit der Frauen, macht Berufskarrieren vereinbar mit familiären Verpflichtungen und schafft soziale Sicherheit durch niedrige Arbeitslosigkeit. Haushalte mit doppeltem Einkommen haben sich als die effektivste Abwehr von Kinderarmut erwiesen. Zudem sind sie höheren Geburtenraten sehr zuträglich. Da weite Bereiche des Sozialversicherungssystems von allgemeinen Steuern – gerade auch der Mehrwertsteuer – finanziert werden, wird das Beschäftigungswachstum nicht behindert. Aufgrund der guten Qualität der sozialen Dienstleistungen ist die skandinavische Bevölkerung zudem viel eher bereit, hohe Steuern zu zahlen, als dies in den angelsächsischen Ländern und zunehmend auch auf dem europäischen Kontinent der Fall ist. Hohe Geburtenraten – in Dänemark 1,7, in Schweden 1,6 – und der spätere Eintritt ins Rentenalter erhöhen den Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung und vermindern dadurch den langfristigen finanziellen Druck auf die Rentensysteme. Skandinavien ist in Zeiten der Globalisierung und des demographischen Wandels keine perfekte Welt. Die nordischen Länder haben aber die Bedürfnisse einer offenen Wirtschaft und immer älter werdenden Gesellschaft mit dem sozialdemokratischen Ziel der sozialen Gerechtigkeit wirkungsvoll ausbalanciert.
Wenn es für Europa und Deutschland ein nachahmenswertes Wohlfahrtsmodell gibt, dann sind es die reformierten Wohlfahrtsregime Skandinaviens, insbesondere Dänemarks, Schwedens und Finnlands.

Ein neuer Gesell­schafts­ver­trag

Welche Lehren können aus den skandinavischen Erfahrungen gezogen werden, um gezielt die Schwächen der angelsächsischen Länder wie die schroffe Ungleichheit der Einkommen und die verfestigte Armut oder die Malaise des europäischen Kontinents mit seiner hohen Arbeitslosigkeit, der sozial- und beschäftigungspolitischen Diskriminierung von Frauen, Migranten und Outsidern zu beheben? Natürlich kann der skandinavische Wohlfahrtsstaat nicht einfach eins zu eins auf Kontinentaleuropa oder Großbritannien übertragen werden. Sozialpolitik ist hochgradig pfadabhängig. Je großzügiger und universalistischer sie zudem ist, desto mehr ist sie auf eher homogene Gesellschaften angewiesen, die über ein hohes Maß an wechselseitigem Vertrauen unter ihren Bürgern verfügen. Dennoch lässt sich von den skandinavischen Ländern viel lernen. Gøsta Esping- Andersen (2002) hat unlängst vorgeschlagen, den Gesellschaftsvertrag umzuschreiben. Seine Argumente können in drei gesellschaftlichen Teilverträgen illustriert werden, die als Leitideen für Reformen dienen können: ein neuer Familienvertrag, ein neuer Geschlechtervertrag und ein neuer Beschäftigungsvertrag.

Beschäftigungsvertrag

Der neue Familienvertrag muss um die bestmögliche Investition in die Kinder herum geschrieben werden. Dies beinhaltet eine großzügige Einkommensgarantie zur Verhinderung von Kinderarmut, eine frühzeitige qualitätsbezogene Förderung der Kinder in Tagesstätten und Ganztagsschulen sowie die Maximierung der Beschäftigung von Frauen. Haushalte mit zwei Einkommen bilden den besten Schutz gegen Kinderarmut. Dem Aufbrechen verfestigter Armutsfallen, die die Lebenschancen der Kinder fundamental einschränken und arme Familien sozial ausgrenzen, muss in einer gerechtigkeitsorientierten Politik eine hohe Priorität eingeräumt werden.
Der neue Geschlechtervertrag muss wirkungsvoller sein als die bürokratische Politik des „gender mainstreaming“. Das Bildungsniveau der Frauen hat etwa in Deutschland in den vergangenen Jahren jenes der Männer in vielen Bereichen übertroffen. Hinzu kommt, dass die Dienstleistungsgesellschaft Frauen Chancen verschafft, die sie in der Industriegesellschaft nie haben konnten. Frauen muss stärker der Zugang zur Beschäftigung geöffnet werden, indem sie Erwerbsarbeit und familiäre Verpflichtungen vereinbaren können und als Zweitverdienerinnen steuerlich nicht „bestraft“ werden. Das heißt nicht, dass Männer zukünftig nicht auch mehr Familienpflichten übernehmen müssen. Im Gegenteil. Aber weder die Frauen noch die Gesellschaft können warten, bis sich das Bewusstsein der Männer langfristig und grundlegend geändert hat. Die Verbesserung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit bedeutet im Übrigen nicht nur einen Fortschritt in der Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern auch eine Verbesserung der kollektiven Produktivität der Gesellschaft. Es ist ökonomisch unsinnig, in die Bildung der Frauen zu investieren, um sie dann am Zugang zum Arbeitsmarkt zu hindern, indem die institutionellen Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Beruf, Karriere und Familie so eng geführt werden. Wenn die europäischen Gesellschaften dieses Vereinbarkeitsproblem nicht lösen, werden sie weiterhin altern. Einbußen an wirtschaftlicher Wohlfahrt, sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit werden die Folgen sein.
Der Beschäftigungsvertrag muss die Arbeitslosigkeit vor allem durch wachsende Beschäftigungsraten und nicht durch Arbeitszeitverkürzung oder die Umverteilung stagnierender Beschäftigungspotentiale reduzieren. Die Lohnnebenkosten müssen drastisch gesenkt und der Renteneintritt hinausgeschoben werden. Die Deregulierung des Arbeitsmarktes muss von aktivierenden Programmen zur sozialen Sicherung, Ausbildung, Umschulung und Weiterbildung begleitet werden. Es ist jedoch realistischerweise zu erwarten, dass auch eine hoch entwickelte Dienstleistungswirtschaft 10 bis 20 Prozent der beschäftigungsfähigen Bevölkerung nur im Bereich gering qualifizierter Niedriglohnjobs unterbringen wird, wie die OECD vorrechnet. Um jedoch die neoliberale Krankheit der „working poors“ zu vermeiden, müssen diese Jobs subventioniert werden. Insbesondere müssen Bildungs-, Qualifizierungs- und Mobilitätsmaßnahmen ausgebaut werden, um die Verarmung von Familien zu verhindern. Niedriglohnjobs dürfen nicht zu Armutsfallen werden. Die Vererbung von Armut über Generationen hinweg, die sich auch in der Bundesrepublik festzusetzen beginnt, muss aufgebrochen werden. Bildung, Aktivierung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt sind besser als eine Armutsfestschreibung durch eine auch noch so generöse Sozialhilfe.
Vor den angelsächsischen und den meisten Wohlfahrtsstaaten auf dem europäischen Kontinent liegt noch ein langer Weg bis zum Abschluss solcher „Verträge“. Der Markt alleine wird den notwendigen Wandel nicht herbeiführen. Der Staat muss eine gewichtige Rolle dabei spielen, den Menschen mehr Entscheidungsmöglichkeiten zu geben, indem er in sie, ihre Fähigkeiten und Lebenschancen investiert. Dabei muss zuerst an die Kinder, Frauen und Familien gedacht werden. Ein neuer produktiver und sozial gerechter „Kompakt“ aus Kinderbetreuung, Bildung, Beschäftigung von Frauen, sozialer Sicherheit für Familien und einem längeren wie flexibleren Arbeitsleben ist unerlässlich. Der Gesellschaftsvertrag muss umgeschrieben werden. Das gilt nicht nur, aber ganz besonders auch für Deutschland.
 

 1 Das „Europäische Sozialmodell“ ist weiter gefasst als ein „europäischer Sozialstaat“. Während ersteres immer auch die kapitalistische Wirtschaftsform mit definiert, konzentriert sich der letztere Begriff auf die sozialen Sicherungs-, Kompensations- und Bildungssysteme.
2 Die Analyse ist vergleichend und berücksichtigt bewusst nur jene Zeiträume seit 1995, in denen sozialdemokratische Parteien die Regierungsgeschäfte in den sechs Ländern führten. Die empirischen Ergebnisse dieses Aufsatzes gehen auf ein Buch zurück, das ich mit vier Koautoren veröffentlicht habe: Merkel/Egle/Henkes/Ostheim/Petring, 2006, Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herauforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften.
3 Die gute Performanz der 1990er Jahre auf dem Arbeitsmarkt hat sich in den Niederlanden in den letzten Jahren jedoch sichtbar verschlechtert (OECD 2006).
 4 Merkel, Wolfgang (2001): „Soziale Gerechtigkeit und die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“, Berliner Journal für Soziologie 2: 135-157.
 5 Der britische Sozialstaat ist kein „idealtypisch“ liberaler Sozialstaat wie der US-amerikanische, sondern besitzt auch universalistische Elemente, die vor allem von der Labour-Regierung von Clement Attlee (1945-1951) etabliert wurden.
6 Alle Zahlen aus Eurostat.
7 Der folgende Abschnitt basiert auf Merkel (2005).  
 
 
Literatur
 Alber, Jens/Wolfgang Merkel (Hg.) (2006): Europas Osterweiterung: Das Ende der   Vertiefung? WZB-Jahrbuch 2005, Berlin: edition sigma.
Esping-Andersen, Gøsta (1990): The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton: Princeton University Press.
Esping-Andersen, Gøsta (2002): Why We Need a New Welfare State? Oxford/New York: Oxford University Press.
Merkel, Wolfgang/Christoph Egle/Christian Henkes/Tobias Ostheim/Alexander Petring (2006): Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Merkel, Wolfgang (2005): „Europa altert – sozial gerecht?“ Mitbestimmung 6: 38-41.
Merkel, Wolfgang (2001): „Soziale Gerechtigkeit und die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“, Berliner Journal für Soziologie 2: 135-157.
OECD (2006): OECD Economic Surveys. Netherlands, Volume 2006, Issue 2, Paris: OECD Publishing.
Rothstein, Bo (1998): Just Institutions Matter. The Moral and Political Logic of the Universal Welfare State, Cambridge: Cambridge University Press.
Schmidt, Manfred G. (32005): Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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