Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 174: Die Grenzen Europas?

Freiheit als Weg

Ralf Dahrendorfs Tugendlehre der Freiheit.

Aus: vorgänge Nr. 174, (Heft 2/2006), S. 132-135

1516 veröffentlichte Thomas Morus seine berühmte Schrift „Utopia“. Darin berichtet er von einer Empfindung der Insulaner, auf die man erst einmal kommen muss. Denn seine Utopier erfreuen sich, falls eine Krankheit dem nicht entgegensteht, tagtäglich ihrer Gesundheit. „Dass man nämlich sagt, man könne Gesundheit nicht empfinden, ist nach Meinung der Utopier ganz falsch. … Wer liegt in so festen Banden des Stumpfsinns oder der Lethargie, dass er nicht zugeben wollte, die Gesundheit bereite ihm Freude und Genuss. Was ist aber Genuss anderes als eine andere Bezeichnung für Vergnügen?“1

Ralf Dahrendorf  Versuchungen der Unfreiheit  Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung;  C.H. Beck  München 2006; 239 S. 19,90Euro

In diesem Punkt sind wohl damals wie heute nur ganze wenige Utopier. Was eigentlich ist Gesundheit? Beschreibt sie nur die Abwesenheit von Krankheit, die ziemlich genau zu bestimmen ist? Oder meint sie auch vollkommenes soziales, seelisches und körperliches Wohlbefinden? Also eine sehr individuelle Wahrnehmung, die kaum verallgemeinerbar sein dürfte? Beides scheint zutreffend zu sein, klärt aber das Problem nicht. Das erste ist lediglich eine Abgrenzung, ohne positive inhaltliche Bestimmung. Das zweite versucht ein Ideal zu umkreisen, das nur individuell beschreibbar ist.
Es gibt nicht viele andere Begriffe, die so zentral, evident und signifikant für Gesellschaft und Individuum und zugleich so schwierig zu definieren sind. „Freiheit“ aber gehört dazu, zweifellos, auch wenn die Spezialbibliotheken dazu überborden und die Debatten darüber nicht abreißen. John Stuart Mills berühmte „Freiheits-Formel“ aus dem Jahr 1859 hat nicht an Strahlkraft eingebüßt. „Dies Prinzip lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eins ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten. … Man kann einen Menschen nicht rechtmäßig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug oder sogar richtig handeln würde.“2 Die Geschichte hat das Problem insofern aber nicht gelöst, weil kein Staat bisher dieses Prinzip akzeptiert hat. Natürlich, die Neuzeit hat einige Staatsmodelle hervorgebracht, die dieses Prinzip besser beachten als andere. England gehört dazu wie die USA, Frankreich wie die Bundesrepublik, Schweden wie Neuseeland und noch eine ganze Reihe weiterer Staaten. Prinzipiell freilich aber können auch diese Staaten Freiheit nur mittels Rechtsprechung, Verfassungsordnung und demokratischer Staatsprinzipien abstrakt garantieren. Jede Ordnung, jedes Gesetz, jede Regelung beeinträchtigt oder unterbindet gar die „absolute Freiheit“, die konkret handelnden Individuen in diesen Strukturen tun ihr übriges dazu, um die an sich garantierte Freiheit noch weiter einzuschränken, manchmal bis hin zur Unkenntlichkeit. So wie Demokratie nicht Wohlstand oder soziale Gleichheit verspricht, so bringt eine freiheitliche Grundordnung noch lange keine ideale Freiheit.
So wie Krankheit der Antipode zur Gesundheit ist, so stellt die Diktatur den schärfsten Gegensatz zur freiheitlichen Verfassungsordnung dar. In der Diktatur Lebende können dann genau Freiheit definieren und als absolut erstrebenswertes Ziel angeben, wenn sie die Diktatur als nicht lebenswert erachten und überwinden wollen. In der freiheitlichen Ordnung angekommen, verlieren viele den Sinn für Freiheit und sehnen sich nach Arkadien, das sie einst überwinden wollten. Dabei erfahren sie mannigfaltige Unterstützung. Denn so wie der Gesunde sich zumeist nicht seiner Gesundheit zu erfreuen weiß, so können viele in einer freiheitlichen Ordnung Sozialisierte sich nicht ihrer zunächst einmal prinzipiellen Freiheit erfreuen. Mehr noch, für viele ist sie eine Last, die sie nach Staatsinterventionen und -alimentationen rufen lässt. Nur in der Freiheit selbst lässt sich Freiheit denunzieren, und wie ich als früherer DDR-Bürger  seit 16 Jahren beobachten kann, ein medial, kulturell, politisch und wissenschaftlich alltäglicher Vorgang. Und wie ich zudem betrüblichen Quellenstudien entnehmen konnte, ein Vorgang, der sich seit der europäischen Revolution von 1989/91 eher verbessert als verschlechtert hat, d.h. die Verachtung von Freiheit trieb in den Jahren und Jahrzehnten zuvor noch breitere Massen, von noch mehr Intellektuellen angeführt, zusammen.
Wie aber kann man Freiheit in Freiheit erlernen? Wie kann man sie schätzen, würdigen und verteidigen lernen, wenn sie unter Inanspruchnahme der Freiheit beständig denunziert wird? Ist das überhaupt möglich, ohne gleich wieder nach dem Staat zu rufen? Könnten der Bürger und die Bürgergesellschaft wiederum eine Freiheitserziehung gewährleisten, ohne in der Erziehung Freiheitsrechte einzuschränken? Dazu gibt es bislang weder hinreichende Überlegungen noch intensive Debatten. Aber es gibt mit dem neuesten Buch von Ralf Dahrendorf einen Entwurf, den der Lord selbst „Tugendlehre der Freiheit“ nennt.
Manches in dem Buch ist wohl nicht ganz so ernst gemeint, wie einige verächtliche Rezensionen vorgeben. Dahrendorfs Ausführungen aber sind insgesamt ernsthaft genug, um sie nicht nur zu bedenken, sondern auch zum Ausgangspunkt einer neuen Freiheitsdebatte werden zu lassen. Das große Thema ist nicht so sehr die Frage, warum so viele Intellektuelle den totalitären Verführungen, ob nun Faschismus, Nationalsozialismus oder Kommunismus, erlegen waren, sondern vielmehr, warum einige ihnen nicht erlagen. Diese nennt er in Erinnerung an Erasmus von Rotterdam Erasmier, die sich in der nicht existierenden Societas Erasmiana versammelt sehen. Aufnahme findet, wer konsequent und lebenslang die Dahrendorfschen Tugenden der Freiheit erfüllte, die da wären „Mut des Einzelkampfes um Wahrheit“, „Gerechtigkeit im Leben mit Widersprüchen“, „Besonnenheit beim engagierten Beobachten“ sowie „Weisheit der leidenschaftlichen Vernunft“. Mustermitglieder dieser Akademie sind Raymond Aron, Isaiah Berlin und Karl Raimund Popper, aber auch Norberto Bobbio, Jan Patočka, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt oder Theodor Eschenburg. Viele weitere Personen lotet Dahrendorf nach einer eventuellen Akademiemitgliedschaft aus, findet aber nicht allzu viele, die für tauglich befunden werden. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass er nur eine bestimmte Alterskohorte, zwischen 1900 und 1910 Geborene, in den Blick nimmt, sondern auch regional begrenzt bleibt. Sei es drum, dem Leser eröffnet sich trotz dieser Einschränkung schnell und einleuchtend, worum es dem Autor geht, man muss es nur erkennen wollen. Warum schaffen es nur so wenige, sich dem Zeitgeist zu verschließen, selbst wenn er den Totalitarismus welcher Spielart auch immer preist? Dahrendorf allerdings geht das Problem positiv an und untersucht, warum es manche schaffen: weil sie, trotz oder gerade wegen individueller Eigenheiten, die ihrer Umwelt zuweilen einiges abverlangten, die „Tugendlehre der Freiheit“ lebten.
Auch wenn nicht alle Antworten erfüllend ausfallen mögen, auch wenn nicht jede Argumentation restlos überzeugen mag, auch wenn man nicht jeder Entschuldigung folgen kann, so bleibt doch Dahrendorfs abstrakte „Tugendlehre“, die einem kategorischen Imperativ gleichkommt, deshalb überzeugend, weil sie Freiheit als alternativlosen Weg ins Zentrum jeglichen Tun und Denkens rückt und dabei zugleich ein Verhaltensregister anbietet, das diesen Weg ermöglicht.
Ja, es gibt vieles an diesem Essay, das irritiert oder zu Widerspruch anregt. Am meisten irritiert mich, dass ein „Erasmier“, wenn es auch große Nähe gibt, kein „Sokratiker“ sein könne. Dem Ersamier ist, so die Konsequenz bei Dahrendorf, das Wort und das Leben für das Wort wichtiger als das Einstehen für Handlungen, die aus dem Wort folgen. Anders formuliert: Der Erasmier geht, wenn er irgendwie kann, davon, ins Exil, während der „Sokratiker“, etwa auch Thomas Morus, lieber stirbt als geht. Diesen „Fanatismus“ stellt Dahrendorf in Gegensatz zur Vernunft der Erasmier. Ebenso irritiert im Übrigen die Kategorie des „Mutes“. Im Totalitarismus beantwortet sich die Mut-Frage fast allein und ist hunderttausendfach, ganz individuell, mit zum Teil furchtbaren Folgen, beantwortet worden. Aber was bedeutet Mut in der Offenen, in der freiheitlichen Gesellschaft? In den 16 Jahren, die ich in der Offenen Gesellschaft lebe, habe ich darauf bislang keine wirklich überzeugende Antwort finden können. Wer es bereits als mutig empfindet, eine Meinung zu veröffentlichen und zu vertreten, für die er voraussehbar „sanktioniert“ wird, in dem ihm etwa ein paar Türen verschlossen werden, weiß nicht, was Mut in der geschlossenen Gesellschaft bedeutet. Insofern verlangt die Offene Gesellschaft Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, aber wirklich Mut?
Sehr wohltuend an dem Buch von Ralf Dahrendorf ist, dass er – wie schon in vielen anderen Publikationen zuvor – Freiheit in Opposition zu Unfreiheit stellt und nicht, wie es manche immer wieder gern tun, in Opposition zu „sozialer Gleichheit“ oder „sozialer Gerechtigkeit“. Der arkadische Traum hat mit Freiheit nichts zu tun.
Ungelöst freilich bleibt die große Frage, wie der eigentliche Beschützer der Freiheit, der Staat, dessen zentrale Aufgabe in einer demokratischen Verfassungsordnung gerade in der Gewährleistung der Freiheit liegt, nicht gleichzeitig zur größten Gefahr für die Einschränkung der Freiheit wird. Denn jede Hierarchie, Ordnung, Institution und Verordnung, so nützlich und auch notwendig sie sein mögen, schränkt zwangsläufig Freiheit ein. Worin ein vernünftiges Maß liegt, ist umstritten, sicherlich aber gehen Forderungen, den Sozial- und Wohlfahrtsstaat ganz abzuschaffen, was Dahrendorf nicht fordert!, dann doch erheblich zu weit.
Ralf Dahrendorfs Buch, durchaus mit einem Augenzwinkern geschrieben, ist aber nicht nur ein der Freiheit gewidmeter Essay, es ist auch ganz persönliches Erinnerungsbuch des Soziologen, Politikers, Wissenschaftsmanagers – des Intellektuellen eben. Die von ihm vorzugsweise behandelten Aron, Berlin und Popper nennt er „väterliche Freunde“, was so manche, für mich durchaus wohltuende Emphase erklären mag. In einem Punkt aber irrt Ralf Dahrendorf, so glaube ich jedenfalls. Ein Erasmier habe, so der Autor, in der Regel keine (wissenschaftliche) Schule gebildet. Das mag stimmen, wenn der Blick allein auf die traditionellen Institutionen und den Vorgang einer wissenschaftlichen Schulbildung gerichtet bleibt.
Aber für die Wirkungsgeschichte wird man diese Feststellung nicht so einfach aufrechterhalten können. Gerade Popper und Aron, aber auch Berlin haben aus der Offenen  Gesellschaft auf vielen verschlungenen Pfaden in geschlossene Gesellschaften hinein  und, so behaupte ich, schulbildend gewirkt, ohne dass dabei eine klassische wissenschaftliche Schule herausgekommen wäre, sehr wohl aber eine Denkschule. Und das wiederum hat durchaus dazu beigetragen, dass nicht wenige sich potentiell eher „sokratisch“ denn „erasmisch“ verhielten. In der Offenen Gesellschaft muss man nicht zwischen dem einen oder dem anderen wählen, man kann hier für die Freiheit streiten, ohne ernstliche Sanktionen zu befürchten. Die geschlossene Gesellschaft aber bedarf auch sokratischer Intellektueller, die die Aufnahmebedingungen in die Societas Erasmiana erfüllen, um die Mauern niederzureißen und die vergleichsweise langweilige Offene Gesellschaft zu ermöglichen.

1    Thomas Morus: Utopie. Leipzig: Verlag Ph. Reclam, 1985, 7. Aufl., S. 86.
2    John Stuart Mill: Über die Freiheit. Stuttgart: Ph. Reclam jun., 1988, S. 16.

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