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Die Grenzen Europas

aus: vorgänge nr.174, (Heft 2/2006), S.1-3

Nach den Grenzen Europas zu fragen kommt auf dem ersten Blick dem Versuch gleich, sich einen Reim auf eine Contradictio in adjecto zu machen. Denn nicht in der Festlegung sondern in der Überwindung von Demarkationslinien manifestiert sich die Gründungsphilosophie dessen, was mittlerweile zu einer Europäischen Union gereift ist. Die Einbeziehung immer neuer Staaten war die Wegmarke, an der europäischer Fortschritt gemessen wurde. Und so galt noch bis in jüngster Zeit die EU als ein nach vorne offenes Projekt. Erweiterung und Integration schienen wie zwei Seiten einer Medaille zu sein. Natürlich hat es auch schon frühzeitig Rückschläge gegeben, angefangen mit der Luftnummer einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, doch diese ließen sich als temporäre Widrigkeiten, als nationaler Eskapismus einer Entwicklung verbuchen, der man allseits eine geradezu historische Notwendigkeit zusprach. Diese Historie hat sich als gemeinsame Sinnressource erschöpft. Sie war vornehmlich eine der Kernländer der EU. Mittlerweile wird offen und geradezu mit Erleichterung über die Finalität Europas nachgedacht, als wäre es der einzige Deckel, der auf diesen Topf noch passen kann.   
Schon die Erweiterung um die postkommunistischen Staaten war von einer anderen Melodie getragen, als die vorherigen Aufnahmen in die EU. Den Takt gab das ungleiche Zusammenwachsen Deutschlands vor. Kein Akt auf Augenhöhe, vor allem keiner mit Augenmaß für die Schwierigkeiten, die vierzig, fünfzig Jahre getrennte Entwicklung in sich bargen. Man hätte am deutschen Beispiel studieren können, wie sehr in dieser Zeit die Substanz des Gemeinsamen gelitten hat, dass ihre Revitalisierung Engagement, Zeit und vor allem Geld erfordert. Doch die gescheiterten Referenden über die EU- Verfassung nur als ein nachträgliches Votum zweier Kernvölker über die Osterweiterung zu begreifen, erfasst die Sache nicht ganz. Denn noch ernüchternder als die Ergebnisse ist die Uneindeutigkeit der Motive, die ihnen zu Grunde lagen. Diese „unerträgliche Leichtigkeit des Neins“, die der Soziologe Ulrich Beck beklagte, lastet schwer auf dem europäischen Geist, denn er weiß sich keinen rechten Reim darauf zu machen.
Die vorgänge wollen zur Erträglichkeit der Lage beitragen, indem sie nicht über geschlossene Modelle nachdenken, sondern von einer weiterhin offenen Entwicklung ausgehen. In diesem Sinne analysiert Georg Vobruba die neue Qualität der europäischen Grenze. Er beschreibt das Bewegungsgesetz der europäischen Entwicklung als eine von der Dynamik abgestufter Wohlstands- und Sicherheitsniveaus angetriebene Dialektik von Erweiterung und Integration. Ein System konzentrischer Kreise, dessen nächster sich allerdings wieder im Kern der EU bilden kann. Michael Zürn interpretiert das Scheitern des Verfassungsvertrags als Ausdruck neuer Bewertungsansprüche an europäische Politik. Politische Prozesse jenseits des Nationalstaates werden nicht mehr mit den üblichen Effektivitätsmaßstäben zwischenstaatlicher Politik gemessen, sondern mit Ansprüchen einer guten politischen Ordnung konfrontiert. Gemessen daran sei das Vorgehen der Regierungen, welches europäische und internationale Politikprozesse noch immer in traditionellen Formen abhandelt, zum Scheitern verurteilt. Gelinge es jedoch nicht den neuen Ansprüchen zu genügen, sei eine Renationalisierung der europäischen Politik wahrscheinlich. Achim Hurrelmann  sieht die gescheiterten Referenden hingegen vor dem Hintergrund des „permissiven Konsenses“, der bislang das Verhältnis des europäischen Bürgers zu seinen Institutionen getragen hat. Dessen Grundlagen sind Ambiguität, Intransparenz und Entpolitisierung. Die durch die Verfassung angestrebte normative Legitimität bedeutet das genaue Gegenteil dieser Grundlagen. Dadurch wird der Konsens gefährdet. Aus diesem Dilemma mag eine aufklärende Neuauflage der Verfassungsdebatte helfen, erfolgreicher wäre wahrscheinlich eine Politisierung über konkrete Politik. Wer das „Nein“ der holländischen und französischen Referenden verstehen will, dem empfiehlt Antje Wiener, nicht die rechtliche Substanz der Verfassungsnormen, sondern ihre soziale Sichtbarkeit und kulturelle Anerkennung im Kontext zu erforschen. Beides gilt es zu entwickeln, soll der europäische Bürger kein Phänotyp einer Elite bleiben. Wolfgang Merkel warnt davor, von dem europäischen Wohlfahrtsstaat zu reden und lotet die Vor- und Nachteile der verschiedenen Typen aus. Die skandinavischen Länder liegen an der Spitze, u.a. weil sie Globalisierung und Soziales zusammen denken und nicht als Widerspruch behandeln. Sozialpolitik, das schreibt er nicht nur aber vor  allem Deutschland ins Stammbuch, braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag. Europa hat gemeinsame Interessen, sogar ganz handfeste.  Behrooz Abdolvand, Matthias Adolf und und Kaweh Sadegh- Zadeh erklären anschaulich die komplexe Melange aus Machtinteressen, Monopolstrukturen und spezifischen Preisbildungsformen auf dem Gasmarkt. Sie weisen auf die Gefahren einer zu starken Abhängigkeit von Russlands Gasreserven hin und plädieren für eine stärkere Orientierung auf den Nahen und Mittleren Osten. Mit dem Lobbyismus durchleuchtet Rudolf Speth eine der Schattenzonen europäischer Demokratie. Diese Zone ist groß und ambivalent, doch gibt es durchaus Ansätze in der EU, sie zu erhellen.  Nichts hat die Debatte um die Grenzen Europas so beflügelt wie die mögliche Aufnahme der Türkei. Derzeit wird darüber verhandelt. Ausgang offen. Dass die Grenze zu ihr zumindest keine sein muss, die sich in unterschiedlichen Religionen begründet, macht der Beitrag von Khadija Katja Wöhler- Khalfalla deutlich. Die islamische Glaubenslehre, so ergibt ihre Exegese der einschlägigen Quellen, enthält nicht mehr und nicht weniger Anlagen zur Demokratie wie die die christliche. Dass die Sinnfrage vornehmlich eine der alten EU- Länder ist, wird bei der Lektüre der Beiträge von Kai-Olaf Lang und Kartazyna Stoklosa klar. Die Neumitglieder haben mehrheitlich von ihrem Eintritt profitiert und zeigen eine hohe wirtschaftliche Dynamik. Ihr Entwicklungsstand und von daher ihre Integrationsperspektive sind jedoch sehr unterschiedlich. Nicht nur das Beispiel Polen macht dabei deutlich, dass zwar die Stimmung der Bevölkerung  zunehmend zugunsten der EU ausschlägt, gleichwohl die Regierungen  sich nicht unbedingt die Sache Europas zur eigenen machen. Marcus Hawel plädiert in seinem Essay dafür, die Kategorien der westlichen Kultur und der Moderne zu trennen, denn letztere sei kein Privileg der europäischen und nordamerikanischen Länder. Er wendet sich damit explizit gegen Samuel Huntington. Eine Würdigung Wolfgang Abendroths, der im Mai 100 Jahre alt geworden wäre und drei Rezensionen aktueller Bücher runden diese Ausgabe der vorgänge ab, von der ich hoffe, dass Sie nach der Lektüre ein paar neue Erkenntnisse gewonnen haben und in die Einsicht des Alt- Europäers Johann W. Goethe einstimmen können: „Lassen Sie uns denn also, wenn es auch in Europa noch etwas bunter zugehen sollte, gerne in diesem Weltenteile verbleiben.“  

Ihr
Dieter Rulff

Vorschau auf Heft 175 (3/2006 – September): „Tod und Selbstbestimmung“

 Sterben ist nicht mehr allein ein natürlicher Prozess sondern häufig auch eine Frage von Behandlung oder unterlassener Behandlung. Bei nicht Wenigen keimt der Wunsch, den Prozess, sofern er mit Leid und keiner Aussicht auf Besserung verbunden ist abzukürzen. Ob jemand über das Ende seines Lebens verfügen darf, ist eine ethisch strittige Frage. Hierzulande ist aktive Sterbehilfe verboten, in anderen Ländern erlaubt.  In Umfragen spricht sich ein großer Teil der Bevölkerung dafür aus, dies auch in Deutschland zu ermöglichen. Aber gibt es nicht auch eine aus der Geschickte ableitbare Verpflichtung an diesem Verbot festzuhalten? Für die entscheidenden Eliten gilt dieses Tabu noch. Doch damit gesellt sich zum ethischen Problem noch ein demokratisches.  

Vorschau auf Heft 176 (4/2006 – Dezember): Die geschlossenen Gesellschaften

Über Jahrzehnte war das Bild der deutschen Gesellschaft durch das korporatistische Zusammenwirken von Kapitaleignern und Arbeitenden geprägt, technischer Fortschritt ging einher mit industriellem Wachstum und sozialer Aufwärtsmobilität. Inzwischen sind diese etablierten Beziehungen zerfranst und auf einen industriellen Kernbereich geschrumpft, umlagert von einem Heer von prekär Arbeitenden, von Ausgeschlossenen und dauerhaft Beschäftigungslosen. Die Gesellschaft ist fragmentiert. An ihren Rändern haben sich Parallel- und Nischengesellschaften etabliert. In ihrem Inneren hat sie an Mobilität eingebüßt. Sie zerfällt in Teilgesellschaften, die sich zunehmend gegeneinander abschotten. Damit ist die Frage aufgeworfen, was sie als Ganzes noch zusammenhält.  
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