Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 174: Die Grenzen Europas?

Lost in Transition

Eine Literaturschau.

Aus: vorgänge Nr.174, (Heft 2/2006), S. 110-114

Es gehört zu den Eigenheiten der aktuellen Krise der Europäischen Union, dass ihr Anlass die Erweiterung um zehn vornehmlich mittel- und osteuropäische Staaten war, von ihr allerdings nun die alten Kernländer Westeuropas erfasst wurden. In den Gründerstaaten wird seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in bislang nicht gekannter Radikalität die Sinnfrage gestellt. Hätte man diese Entwicklung absehen und ihr vorbeugen können? Wohl kaum. Immerhin ist es bezeichnend, dass selbst derjenige, dessen Wirken in den vergangenen sieben Jahren wie das keines zweiten mit der Osterweiterung verbunden war, von der Vertrauenskrise gleichermaßen überrascht wurde. Günter Verheugens Aufgabe als EU-Kommissar war es, die zehn Staaten auf die EU vorzubereiten und hüben wie drüben Bedenken gegen die Aufnahme aus dem Weg zu räumen. Nun, da das Werk vollbracht ist,  kommen ihm selbst Bedenken. Bedenken, dass die enorme Dynamik der letzten zehn Jahre das Fassungsvermögen vieler Zeitgenossen übersteigert habe, dass Europa gerade in den Gründerstaaten kaum mehr verteidigt werde und die großen europäischen Fragen immer erst dann debattiert werden, wenn die Entscheidungen bereits gefallen sind. 

Günter Verheugen  Europa in der Krise  Für eine Neubegründung der europäischen Idee  Kiepenheuer&Witsch  Köln 2005  231 Seiten  18,90 Euro

Verheugens Bedenken gehen allerdings nicht so weit, das Projekt in Frage zu stellen. Allerdings verlangt er eine Neubegründung der europäischen Idee und eine Demokratisierung europäischer Strukturen. Dazu müssten nationale Vetorechte abgeschafft werden, die Mehrheitsentscheidung müsste die Regel sein und die Gesetzgebung müsste sich im hellen Licht der Öffentlichkeit abspielen.
Dass die europäische Politik dieses Licht bereits heute nicht scheuen muss, belegt er mit vielen Beispielen. Dass diverse Nationalpolitiker diese europäische Politik gerne in ein schiefes Licht rücken, wenn es gilt, von eigenem Versagen abzulenken, ärgert ihn. Das Gerede über die Brüsseler Bürokratie, über fehlende demokratische Kontrolle, Überreglementierung und Fehlinvestitionen verweist er in den Bereich der Mythen. Das Reden über Billiglöhner, Sozialdumping und Überfremdung hingegen hält er für gefährlich.
Verheugen mahnt nicht nur Reformen der Verfahren sondern auch der Politik an. Mehr Investitionen in Forschung und Bildung, eine weitere Liberalisierung des Handels und Stärkung des wirtschaftlichen Wachstums. Vor allem aber eine europäische Außenpolitik die den Namen verdient, die mit einer Stimme spricht und eine weltpolitische Rolle einnimmt. Verheugen will nicht viel weniger als eine Weltmacht neuen Typs aus Europa machen und lässt keine Zweifel daran, dass er dieses Ziel für erreichbar hält. Einem Kommissar, der in parallelen Verhandlungen zehn Staaten an die EU herangeführt hat nimmt man diesen Optimismus ab.

Während in den Gründungsländern die Zweifel an dem europäischen Projekt wachsen, sind die neu aufgenommenen davon umso mehr überzeugt. Diese Diagnose gilt erst recht für die um ihre Aufnahme bangende Türkei. Wer dieses Bangen spüren will, dem sei die Lektüre des Buches „Türkei und die EU“ von Mesut Yilmaz empfohlen. Als mehrfacher früherer Ministerpräsident und Europaminister der Türkei ist er mit den wenigen Höhen und den vielen Niederungen der wechselseitigen Beziehung bestens vertraut. Er kennt die Vorbehalte gegen die wirtschaftliche Schwäche, die demokratischen Mängel und kulturellen Eigenheiten seines Landes und die Finten, mit denen eine Entscheidung ein ums andere Mal hinausgezögert wurde, die „pseudojuristischen“ Argumente der Kopenhagener Kriterien, die nur dürftig ein politisches Zaudern verkleiden. Yilmaz betrachtet die gesamte Entwicklung seines Landes im Zwanzigsten Jahrhundert als Verwestlichung und erkennt im Beitritt zur EU deren  genuine Fortführung. Deshalb verficht er die europäische Idee glühender als so mancher Zentraleuropäer, sieht die Gemeinsamkeiten größer und negiert so manche Schwierigkeit.

Mesut Yilmaz Türkei und EU Die Suche nach einer ehrlichen Partnerschaft Berliner Wissenschaftsverlag 2004 173 Seiten  9,80 Euro
Sylvie Goulard EU- Türkei Eine Zwangsheirat? Berliner Wissenschaftsverlag 2006             83 Seiten  14 Euro
 
Wo Yilmaz zwischen EU und Türkei eine „ehrliche Partnerschaft“ vorschwebt, sieht die französische Politikwissenschaftlerin Sylvie Goulard schlicht „eine Zwangsheirat“- und rät dringend ab. Die Partner seien zu verschieden, die demografische und geografische Größe der Türkei  sowie deren „nichteuropäischer Charakter“ wirkten wie eine Zeitbombe. Auch sei fraglich, ob diese, wenn sie erst einmal Mitglied ist, sich auf einen Souveränitätsverlust einlasse. Eine EU, die auf absehbare Zeit mit den Instrumenten von Nizza laborieren müsse sei zu einer Aufnahme nicht in der Lage. Wer die Bücher von Yilmaz und Goulard gelesen hat, kennt die wechselseitige Geschichte und alle Argumente die gegeneinander und füreinander je vorgebracht wurden. Nur in einem Punkt stimmen die beiden überein: beide fordern dass sich die europäische Politik in der Türkeifrage endlich ehrlich machen solle. Die ehrlichen Antworten unterscheiden sich natürlich diametral.

 Zahlreich sind die Versuche, die Grenze der EU kulturell zu markieren, aus der gemeinsamen Geschichte eine Wertegemeinschaft heraus zu schälen, die als mehr oder minder exklusiv erachtet wird. Einem anderen Weg beschreitet der Makrosoziologe Jürgen Gerhards mit seiner umfassenden empirischen Studie über den Wertehaushalt der EU und die entsprechenden Einstellungen der nationalen Gesellschaften. Er beansprucht dabei keinesfalls eine Überlegenheit seines Verfahrens gegenüber der pfadabhängigen Betrachtung sondern sieht in ihm eine sinnvolle Ergänzung. Immerhin können seine Zahlen die Debatte versachlichen, denn was er zur Grundlage sind, sind die kulturellen Werte, wie sie sich in den Verträgen und Gesetzen der EU manifestieren.

Jürgen Gerhards, Mitarbeit Michael Hölscher  Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei VS Verlag Wiesbaden 2005  316 Seiten  27,90 Euro

Er untersucht die Varianzen in den fünf Bereichen Religion, Familie und Partnerschaft, Wirtschaft und Wohlfahrt, Demokratie und Zivilgesellschaft und zeichnet ein Bild abnehmender Übereinstimmung je jünger das Datum des Beitritts bzw. der Kandidatur ist. Die Befunde überraschen nicht wirklich. Interessant sind Teilbefunde, etwa dass für den Grad an Distanz zu den Wertvorstellungen der EU weniger die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion als vielmehr der Grad der Eingebundenheit in die Glaubensgemeinschaft entscheidend ist. Die christliche Orthodoxie in Rumänien ist da kein geringeres Hindernis als die muslimische Orientierung in Anatolien. Das Hindernis zu überwinden ist vor allem eine Frage der Modernisierung und der Bildung.   

Verändert die Osterweiterung die Finalitätsoptionen der EU? In den Kernländern wächst der Unmut der Bevölkerung und die Konsensbereitschaft der Eliten reicht nicht, die institutionelle Blockade zu überwinden. Die Krise ist dem WZB Anlass sein Jahrbuch erneut dem Thema Europa zu widmen. In 16 Aufsätzen werden der Zustand der Gesellschaft und der Demokratie sowie die Prozesse der Europäisierung analysiert. Den Auftakt macht eine Studie zur abnehmenden Kinderzahl, ein Problem, das alte und neue Mitgliedsländer eint und bei dem Deutschland als eines der Länder hervorsticht, in denen sogar die Zahl der gewünschten Kinder hinter der Reproduktionsrate zurück fällt. Wer erfolgreich Familienpolitik betreiben will, kann diese nicht mehr nur durch eine (umverteilende) sozialpolitische Brille betrachten.

Jens Alber; Wolfgang Merkel  Europas Osterweiterung: Das Ende der Vertiefung? Edition sigma  Berlin 2006  427 Seiten  27,90 Euro

Armut wird in Europa an dem nationalen Durchschnittseinkommen gemessen. Doch was sagt das über die tatsächliche Lage der Betroffenen aus. P. Böhnke geht in einem lesenswerten Beitrag dem Zusammenhang von wirtschaftlicher Verarmung und Defiziten sozialer Einbindung  nach. Ein Ergebnis: in armen Ländern sind Arme weniger stigmatisiert. Das Demokratieproblem der EU könnte man auf die Kurzformel bringen: einvernehmliche Entscheidungen sind bei 25 Mitgliedsstaaten kaum mehr möglich, eine höhere Effizienz durch Mehrheitsentscheidungen hingegen steht im reziproken Verhältnis zur deren demokratischen Legitimität und Effektivität bei der nationaler Umsetzung. Zugleich intensiviert das Wohlstandsgefälle zwischen alten und neuen Mitgliedern Interessenskonflikte. Keine Konstellation die eine Vertiefung wahrscheinlich werden lässt. Für Ralf Dahrendorf ist eine Vertiefung auch nicht das erste Ziel aller europäischen Bestrebungen, zumal ihr ein protektionistischer Zug anhaftet. Statt dessen orientiert er auf ein globales Engagement für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktfreiheit. Womit er sich als guter Brite erwiesen hätte.  

Wo angesichts der institutionellen Blockade über Europa neu nachgedacht wird, da schlägt die Stunde der Soziologie. So selbstbewusst leitet sich ein Sammelband über „Die europäische Gesellschaft“ ein- um sogleich über den eigenen Titel zu stolpern: Europa und Gesellschaft, wie geht das zusammen, wo doch die Vorstellungen von Gesellschaft meist national geprägt sind. Für die beiden Herausgeber Hans-Peter Müller und Robert Hettlage ist diese europäische Gesellschaft im Werden begriffen, befördert durch die Regulierungen und Harmonisierungen europäischer Mehrebenenpolitik. Sie ist mehr als eine neue Entwicklungsstufe einer nationalen Gesellschaft und auch nicht in dem Gefäß der Vereinigten Staaten von Europa zu fassen. Sie ist eine Gesellschaft sui generis, eine Konfiguration von kulturellen Traditiionen und Werten, historischen Erfahrungen  und spezifisch ausgestalteten Institutionen. Sie ist jedoch nicht für jede politische Entwicklung gleichermaßen offen.

Robert Hettlage, Hans-Peter Müller (Hg.) Die europäische Gesellschaft  UVK- Verlag Konstanz 2006  360 Seiten  34 Euro

Richard Münch kommt zu dem Ergebnis, dass unter den in nationalen Kontexten entstandenen Herrschaftssemantiken weniger der kontinentaleuropäische Republikanismus als vielmehr ein konventioneller Liberalismus dieser Gesellschaft Ausdruck verleihen kann. Womit denn auch die Tiefe einer weiteren Vertiefung annähernd ausgelotet wäre. Dass diese Vertiefung zwar in der Geld- und Wirtschaftspolitik aber kaum in der Sozialpolitik ihren Namen verdient ist eines der Befunde, an denen die europäische Gesellschaft krankt. Ungleichheiten werden noch weitgehend national geregelt. Die Europäisierung erweitert zwar den Anspruchshorizont, doch ist bei großen sozialen Ungleichheiten mit widerstrebenden Integrationsinteressen zu rechnen. Ein Symptom dessen ist der mancherorts wachsende Regionalismus.

Bei dem unentwegten Gründeln in der Krise Europas wird leicht vergessen, dass die Integration des Kontinents „die erfolgreichste politische und ökonomische Innovation der Nachkriegszeit war“ (W. Merkel). Sie hat jedoch nicht nur zu Frieden und Wohlstand geführt, sie hat auch verödete Brachen, verfallene Orte und verlassene Landschaften hinterlassen. So wie es ein Europa im Werden gibt, so gibt es auch ein verschwindendes Europa. Es verschwindet überall, an Englands Küste wie in der Uckermark, in Kaliningrad wie in Benidorm.

Katharina Raabe, Monika Sznajderman  Last& Lost  Ein Atlas des verschwindenden Europas  Suhrkamp-Verlag  Frankfurt / Main 2006  338 Seiten  29,80 Euro

Die Lektorin des Suhrkamp-Verlages Katharina Raabe und die Leiterin des Verlages Czarne in Wolowiec / Südpolen Monika Sznajdermann haben dreißig dieser Orte in einen „Atlas des verschwindenden Europas“ aufgenommen. Es ist keine Kartografie der Rückständigkeit, keine Reisebeschreibung von den Rändern des Kontinents. Das Buch „Last& Lost“ versammelt vielmehr Impressionen und Erinnerungen, die dreißig Autoren mit Orten ihrer Wahl verbinden. Das Verschwinden menschlicher Belebtheit aus einem Raum bestimmt auch die dokumentarischen aber gleichwohl konzeptuellen Fotografien, die den Band zu einem Kunstwerk machen.  
  

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