Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 174: Die Grenzen Europas?

Vertrauen ist gut, Diver­si­fi­zie­rung ist besser

Europas Abhängigkeit vom russischen Gas.

Aus: vorgänge Nr.174, (Heft 2/2006), S. 52-67

In Anbetracht der jüngsten Drohgebärde aus Moskau, zukünftig Gaslieferungen an die Europäische Union zu drosseln und die Ressource an andere Interessenten zu liefern sowie dem „Gaskrieg“ zwischen Russland und der Ukraine Anfang diesen Jahres, warf US-Vizepräsident Dick Cheney auf einer Osteuropa-Konferenz im litauischen Vilnius der russischen Regierung vor, Öl und Gas als Druckmittel zur Einschüchterung und Erpressung zu nutzen. „Es dient keinen legitimen Zwecken, wenn Öl und Gas Gegenstand von Einschüchterungen oder Erpressung werden, weder durch Veränderungen der Lieferverträge noch durch Versuche, den Transport zu monopolisieren.“ Als präventive Maßnahme zur Minimierung der europäischen Abhängigkeit von Erdgas aus Russland schlug Cheney die Erschließung der großen Vorkommen in Zentralasien vor. Kasachisches Erdgas solle mittels einer Pipeline auf dem Grund des Kaspischen Meeres von Kasachstan nach Aserbaidschan gebracht werden. Von dort könnte es dann durch eine noch zu bauende Superpipeline bis zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan transportiert werden.Auch Präsident Bush warnte vor Russlands „wirtschaftlichem Nationalismus“, etwa wenn Ölfirmen zur Durchsetzung politischer Ziele eingesetzt würden.
Russische Medien sahen in dieser energiepolitischen Verballattacke von US-Politikern eine Parallele zum Kalten Krieg, als die Sowjetunion vom Westen eingekreist wurde. Die regierungsnahe russische Tageszeitung „Komsomolskaja Prawda“ empfahl russischen Politikern die außenpolitischen Beziehungen mit Belarus und Mittelasien zu stärken sowie dichter an China heranzurücken, um ein Gegengewicht zur Macht des Westens zu schaffen. Sergej Lawrow, russischer Außenminister, wies die Kritik Cheneys inzwischen als unbegründet zurück. Er bezeichnet Russland als verlässlichen energiepolitischen Partner des Westens.
Trotz dieser beruhigenden Worte russischer Politiker, zeigen aber die seit 1. Januar existenten Versorgungsengpässe in der Ukraine, dass russische Beteuerungen Erdgas nicht als politisches Mittel zu instrumentalisieren, nicht glaubwürdig sind. Schließlich hatte sich Gazprom 2004 gegenüber der Ukraine verpflichtet, bis 2009 Erdgas zum Fixpreis von 50 Dollar pro 1000 Kubikmeter zu liefern. Nach der so genannten Orangen Revolution wollte das Unternehmen aber nichts mehr davon wissen.
Konträr dazu schrieb Präsident Putin Anfang Januar, anlässlich Russlands neuer Rolle als G8-Vorsitzender, dass es zweifelsfrei zu den strategischen Aufgaben der G8 gehöre, ein zuverlässiges und allumfassendes System der Energiesicherheit aufzubauen. Für reiche wie arme Länder müsse eine zuverlässige Energieversorgung gesichert werden. Die Energiesicherheitsfrage werde deshalb im Mittelpunkt des russischen G8-Vorsitzes stehen.5
Als jedoch die britische Regierung eine Übernahme des britischen Gasversorgers Centrica durch Gazprom verhinderte, drohte Gazprom-Chef Alexej Miller, der Absichterklärung von Präsident Putin zum Trotz, dass das Gas nicht für alle reiche. „Wenn die europäischen Länder die Tätigkeit Gazproms auf dem europäischen Markt einschränken, so führt das nicht zu guten Resultaten.“
Damit reduziert sich das Motto, eine Energieversorgung für „reiche und arme Länder“ zu sichern, zu einer Floskel. Vielmehr fährt Gazprom mit Drohungen fort, Erdgaslieferungen an die Ukraine, Georgien, Armenien und Moldawien einzustellen, falls diese Staaten nicht bereit sind Weltmarktpreise zu bezahlen. Zudem versucht das Unternehmen über das Druckmittel die europäische Erdgasversorgung zu reduzieren, freien Zugang für Investitionen und Übernahmen in der Europäischen Union durchzusetzen.
Die Regierung in Moskau erklärte indessen, das diese aggressive Preis- und Expansionspolitik notwendig sei, um die Modernisierung Russlands mit Hilfe der Erdgas-Milliarden voranzutreiben. Laut Gazprom-Manager Alexander Medvedev verlangten ernsthafte Investitionen im Gassektor den Unterhalt und Ausbau des Transportsystems. Dies erfordere einen Übergang zu marktwirtschaftlichen Preisen und zwar unabhängig von der früheren Zugehörigkeit der einzelnen Staaten zur UdSSR. Der Gasmarkt müsse sich, genau wie der Erdölmarkt, marktwirtschaftlich entwickeln.
Hinter dieser Form der Energiepolitik verbirgt sich jedoch mehr als die Durchsetzung von angeblichen Weltmarktpreisen. Transparent wird dieser Aspekt besonders im Falle der ehemaligen Sowjetrepubliken wie der Ukraine.
In der Hoffnung auf eine erneute Annäherung im Rahmen der „eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ hatte Russland nach dem Ende der Sowjetunion 15 Jahre Erdgas zu Sonderkonditionen an die Ukraine, Georgien, Moldawien und Armenien geliefert. Nach den dortigen gesellschaftlichen Umbrüchen und der anschließenden Hinwendung zum Westen sollte nun diese Vorzugsbehandlung, die Russland jedes Jahr mehrere Milliarden Euro kostete, beendet werden.
Der exemplarische Streit um Gaslieferungen zwischen Moskau und Kiew hat jedoch ein langes Vorspiel. Er begann bereits im Februar 1993, als Gazprom mit dem Vorwurf des Diebstahls und ausbleibender Zahlungen die Gaszufuhr abzuschalten drohte. Am 1. Januar diesen Jahres setzte Gazprom die Drohung in die Tat um, da Kiew der Preiserhöhung nicht nachkam und angeblich weitere 95 Mio. m3 Erdgas aus den Transitpipelines entwendet hatte. Nach Wiederaufnahme der Lieferung gestand Kiew Ende Januar tatsächlich ein, aufgrund des strengen Winters 70 Mio. m3 mehr Gas als üblich entnommen zu haben: „Wir sind unseren Kollegen dankbar, dass die Lieferung von Gas ohne Unterbrechungen erfolgt. Das sind wahrhaft partnerschaftliche Beziehungen.“
Dank dieser neuen Freundschaft verkauft Gazprom nun Gas für 230 US-Dollar pro 1000 m3 an UkrGasEnergo, an dem Naftogas Ukrainy und das russisch-ukrainische, im schweizerischen Zug registrierte Unternehmen RosUkrEnergo beteiligt sind. Weitere Anteilseigner sind über die Gazprombank die österreichische Raiffeisen Investment, die Dresdner Bank und Deutsche Bank. UkrGasEnergo wiederum, dessen Vorstandsvorsitzender Alexander Rjasanow zugleich Gazprom-Vizevorstand ist, vermischt das russische mit billigem zentralasiatischem Gas und leitet es für 95 US-Dollar pro 1000 m3 an Kiew weiter. Dieses Abkommen gilt für fünf Jahre. Kiew wiederum kompensiert die Teuerung über höhere Transitpreise, die sich zukünftig auf 1,60 statt 1,09 US-Dollar für 1000 m3 je 100 km Strecke belaufen.
Damit sind, zumindest vorläufig, auch die – während des Streits in einigen Ländern zurückgegangenen – Lieferungen in die Europäische Union gesichert. Tatsächlich wird Erdgas im Energiemix der EU eine wachsende Rolle als zukunftsträchtige, umweltfreundlichere Alternative zu Erdöl und Kohle spielen.So ist der Anteil des Erdgases am Primärenergieverbrauch der EU-15 zwischen 1993 und 2002 von 18,8 auf 23,8 Prozent gestiegen. Hochrechnungen projizieren den Erdgasanteil am Energiemix für das Jahr 2020 bereits auf rund 40 Prozent.Derzeit deckt Westeuropa über die Hälfte seines Gasverbrauchs selbst, vor allem über Großbritannien (22 Prozent), Norwegen (15 Prozent) und die Niederlande (13 Prozent). Die EU-internen Reserven neigen sich jedoch dem Ende zu.
Dies führt zu einer steigenden Importabhängigkeit und wirft die Frage auf, aus welchen Ländern die EU in Zukunft ihren Gasverbrauch decken wird. Momentan sind dies vor allem Russland mit 27 Prozent und Algerien mit rund 12 Prozent des EU-Bedarfes. Da Algerien jedoch über lediglich 2,5 Prozent der weltweiten Reserven verfügt, besitzt es – im Gegensatz zu Russland mit 26,7 Prozent Weltmarktanteil – kaum Kapazitäten, seinen Marktanteil auszubauen. Eine zu hohe Abhängigkeit von Russland kann jedoch, wie die Beispiele Georgien und Ukraine gezeigt haben, sehr schnell zu politischer und wirtschaftlicher Erpressbarkeit führen. Ginge es dem Kreml nämlich tatsächlich bloß um die Durchsetzung der „Weltmarktpreise“, wäre schwer zu erklären, warum die Ukraine ein Jahr nach der „Orange-Revolution“ einer Preiserhöhung unterliegt, sich in Belarus an der für das Land günstigen Praxis jedoch bis heute nichts geändert hat (vgl. Tab. 1).
Zunächst stellt sich deshalb die Frage, ob überhaupt ein international einheitlicher Gasmarkt mit einem international einheitlichen Gaspreis existiert, an dem sich die russischen Preise gegebenenfalls orientieren.

Tabelle 1: Preise für von Gazprom geliefertes Gas (US-Dollar pro 1000 m3)

 Land

         2005            

        2006        

 Bundesrepublik                  

 200

250

 Slowakei,

 Slowenien

 180

250

 Westeuropa

(Durchschnitt)

 174

250

 Polen

 120

250

 Türkei

 75

250

 Estland,Lettland

 Litauen

 85-95

120-125

 Moldawien

 80

160

 Georgien

 68

110

 Aserbaidschan

 60

110

 Armenien

 56

110

 Ukraine

 50

95

 Weißrussland

 47

47

 Russland

 38

46

Quellen: Bofit Weekly (www.bof.fi/bofit/eng/3weekly/w06/w012006.pdf) sowie Gazprom online (http://eng.Gazpromquestions.ru/page9.shtml).

Der dreiteilige Gasmarkt

Tatsächlich besteht bis heute im Gassektor weder ein einheitlicher Markt noch ein einheitlicher Weltmarktpreis. Der Markt ist vielmehr in drei Teilbereiche unterteilt: Asien, Nordamerika und Europa. Diese Besonderheit des Gasmarktes beruht zunächst auf der komplizierten Struktur des Rohstoffs, nämlich seiner Flüchtigkeit, die einen Transport nur per Pipeline oder als „verflüssigtes Gas“ per Schiff zulässt. Demzufolge werden Nordamerika und Europa hauptsächlich über Pipelines, der asiatische Markt dagegen überwiegend über Flüssiggas versorgt.
Auch die Preisbildung ist alles andere als frei. Die Preise orientieren sich einerseits am Ölpreis. Andererseits resultieren sie maßgeblich aus den Eigentumsverhältnissen der Energiekonzerne an den Pipelines.
Weil der Gastransport in jeglicher Form sehr aufwändig und teuer ist, werden Gasfelder grundsätzlich erst dann erschlossen, wenn das dort vermutete Gas vollständig verkauft ist. Seit Beginn der industriellen Vermarktung in den 60er Jahren verpflichtet sich der Produzent in Langzeitverträgen, eine bestimmte Menge Gas pro Jahr zu liefern. Der Käufer verpflichtet sich wiederum, eine festgelegte Menge zu zahlen, unabhängig davon, ob er diese Menge später auch tatsächlich nachfragt („Take-or-Pay“). Wegen der sehr langen Laufzeiten werden in der Regel keine konkreten Festpreise vereinbart. Stattdessen werden Preisanpassungen vorgenommen oder Bedingungen für Nachverhandlungen spezifiziert. Die Bestimmung des Preises erfolgt dabei häufig durch eine so genannte Netback-Rechnung. Der Netback -Marktwert für eine spezifische Kundengruppe errechnet sich am Ort des Imports durch den niedrigsten Preis eines konkurrierenden Energieträgers, abzüglich der Kosten für Transport, Speicherung, Messung, Steuern etc. In den meisten EU-Staaten ist Heizöl die maßgebliche „energetische Leitwährung“. Durch eine um sechs Monate verzögerte Preisbildung („anlegbarer Gaspreis“) wird die Konkurrenzfähigkeit und Absatzsicherheit von Erdgas zusätzlich gesichert. Dieses System der Bindung an den Ölpreis ist die Basis für den Markterfolg des Erdgases.
Auch auf Märkten, wo es keine Ölpreisbindung gibt, beispielsweise in den USA und Großbritannien, orientieren sich die Gaspreise an den Ölpreisen, wenn auch mit höherer Volatilität. Parallel zum Ölpreis sind die Gaspreise auf den dortigen Spotmärkten gestiegen, was den Marktzusammenhang zwischen beiden Energien bestätigt. Diese Preisbildung führt dazu, dass selbst eine scheinbare Entkopplung des Gaspreises vom Ölpreis keine Preissenkung nach sich zieht, da sich die Gaspreise an den Spotmärkten weiter an den Ölpreisen auf den Spotmärkten orientieren. Eine echte Entkopplung der Gaspreise würde somit erst dann eintreten, wenn eine Vielzahl von Produzenten unabhängig von Langzeitverträgen den Markt versorgen würde. Zudem wird eine Liberalisierung und Entkopplung weiterhin zu steigenden Gaspreisen führen, wie am britischen Markt abzulesen ist.
Diese Prognose lässt sich angesichts der Entwicklungen im konkurrierenden Ölmarkt bestätigen: Auf dem Ölmarkt liegt der Anteil der Langzeitverträge zwar bei rund 60 Prozent; die Preise orientieren sich hier jedoch an den Spotmärkten, wo kurzfristig Rohöl oder Mineralölprodukte im Umfang von immerhin 40 Prozent des gesamten Ölmarktes gehandelt werden. Da es beim Erdgas zurzeit jedoch keine großen frei verfügbaren Mengen gibt, bestimmt hier, anders als beim Erdöl, der Spotmarkt nicht den Preis der Langzeitverträge. Im Gegenteil: Weil die steigende Nachfrage stets größer ist als die vier bis sechs Prozent frei verfügbaren Gases, sind die Preise auf den Spotmärkten zumeist höher als die der Langzeitverträge. Grundlage der Preisbildung bleibt also auch auf den kleinen Gas-Spotmärkten die Entwicklung der Preise bei den Langzeitlieferverträgen. Angesichts des geringen Volumens auf den Spotmärkten blockieren die auf dem Prinzip „Take-or-Pay“ abgeschlossenen Langzeitlieferverträge somit die Liberalisierung des gesamten europäischen Energiemarktes.
Die Energiekonzerne nutzten ihrerseits bis vor kurzem den fehlenden Wettbewerb auf dem europäischen Gasbinnenmarkt, um durch ihr Monopol auf das Pipelineeigentum die Preise einfach festzusetzen. Um diese Monopolstruktur aufzuheben und die Gasversorgung der EU weiterhin zu sichern, wurde über EU-Direktiven versucht, den Binnenmarkt zu liberalisieren und die Gaslieferanten zu diversifizieren. Durch die Einführung des „Third Party Access“ ist seit Kurzem der Zugang von Drittanbietern zu den Pipelines und damit zum Markt sichergestellt; die Existenz des „Take-or-Pay“ könnte dadurch wenigstens mittelfristig in Frage gestellt werden.
Die Unabhängigkeit von den Pipelineeigentümern würde auch durch die Erhöhung des Flüssiggas-Anteils vergrößert. Durch eine Beschleunigungsdirektive wurde deshalb auch der Bau der für die verstärkte Nutzung von Flüssiggas erforderlichen Liquified-Natural-Gas (LNG) Entladeterminals befördert. Die Internationale Energiebehörde (IEA) rechnet bis 2030 mit einer Versechsfachung der europäischen Flüssiggas-Importe; deren Anteil am europäischen Gasaufkommen insgesamt wird in Folge dieses Trends von 8,6 auf etwa 27 Prozent steigen.
Aufgrund der weiter existierenden Dreiteilung des Marktes in Nordamerika, Europa und Asien wird ein einheitlicher Weltmarkt jedoch bis auf weiteres ebenso wenig zustande kommen wie ein einheitlicher Weltmarktpreis. Damit die Liberalisierung des Gasmarktes samt einheitlichem Gaspreis tatsächlich fortschreitet, müssten die Produzenten und Quellen weiter diversifiziert und zusätzliche Flüssiggas-Systeme aufgebaut werden. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass gerade Russland in diesem Zusammenhang – entgegen der Behauptung seiner politischen Führung – ein stark bremsender Akteur ist. Dies ist explizit im Vorgehen Russlands gegenüber seinem „Nahen Ausland“ festzustellen.

Russlands dreidi­men­si­o­nale Energie­ver­mark­tungs­stra­tegie

Würde Russland als wichtigster Produzent für den Gasmarkt der EU tatsächlich einen einheitlichen Preisbildungsmechanismus anstreben, müsste es seine Preise standardisieren und die Preisspanne minimieren. So müsste beispielsweise Weißrussland anstatt derzeit 47 US-Dollar bei der Orientierung an „Weltmarktpreisen“ ebenfalls 250 US-Dollar bezahlen.
Davon kann jedoch keine Rede sein. Das „Privileg“ Weißrusslands ist vielmehr Folge seiner partiellen Souveränitätsaufgabe: Da Minsk einer Preiserhöhung von 30 auf 46 US-Dollar nicht nachkam, stoppte Gazprom am 26. Januar 2004 die Gaslieferungen. Sie wurden aber einen Tag später wieder aufgenommen, da Minsk nicht nur den höheren Preis akzeptierte, sondern Gazprom auch partielle Kontrolle über seine Pipelines überließ. Gazprom-Manager Medvedev begründet den inzwischen auf 47 US-Dollar gestiegenen Preis damit, dass Russland und Weißrussland einen Unionsstaat aufbauen, die „Yamal-Europa-Pipeline“ fast zur Gänze von Gazprom kontrolliert wird und die Verhandlungen über Beltransgas, die zur vollständigen Kontrolle Gazproms über das weißrussische Gastransportsystem führen sollen, wieder aufgenommen wurden.Die angekündigten Erhöhungen des Gaspreises für Belarus auf Weltmarktniveau zum 1. Januar 2007 dienen in diesem Zusammenhang dazu, die Verhandlungen zu beschleunigen und die russische Position zu stärken.
So wird deutlich, dass im Gasstreit mit Minsk es also nicht primär um den russischen Willen zu höheren Preisen geht. Russland sieht vielmehr in der Kontrolle des Erdgasversorgungnetzes ein strategisches Instrument, um seinen politischen Einfluss im „Nahen Ausland“ zu erhalten. Umgekehrt folgt aus dieser Zielsetzung, dass Moskau die Westorientierung der Ukraine und Georgiens nicht auch noch subventionieren möchte.
Der Kreml verfolgt dabei eine dreidimensionale Expansionspolitik: die Kontrolle der Gasreserven der Kaspischen Region, den Aufbau von Anteilen an der europäischen Gasversorgung sowie die Anlockung von ausländischen Direktinvestitionen zum Ausbau der russischen Energieinfrastruktur. Diese Strategie steckt hinter der Ende 2005 von Präsident Wladimir Putin ausgegebenen Zielsetzung, die „Energiesupermacht Russland“ aufzubauen. Dazu müsse das Land, so Putin, die gesamte exportorientierte Rohstoffinfrastruktur unter staatliche Kontrolle bekommen, autarke Rohstofftransportrouten aufbauen, die Diversifizierung von Abnehmern durchsetzen, die Expansion transnationaler Gesellschaften in strategisch wichtigen Regionen bremsen sowie die Kontrolle über Infrastrukturnetze im GUS-Raum übernehmen. Sobald die größten russischen Rohstoffkonzerne eine einheitliche Strategie zur Erschließung der Weltmärkte konzipierten, werde die Energiesupermacht Realität.
Insbesondere von der Einbindung der EU in das russische Energiewirtschaftssystem erhofft sich Moskau große wirtschafts- und machtpolitische Dividenden. Seit Oktober 2000 verhandeln die EU und Russland über ein Abkommen für eine strategische Energiepartnerschaft, das die Versorgung der EU auf lange Sicht sichern und Eckpfeiler einer gemeinsamen Strategie für nachhaltige Entwicklung werden soll. Das Abkommen beinhaltet garantierte Lieferungen von Energieträgern und -produkten zu kalkulierbaren Preisen über mindestens 20 Jahre. Im Gegenzug wird die EU in die russische Energiewirtschaft und -infrastruktur investieren sowie eine Pipeline bauen, die die EU direkt mit Russland verbindet.
Neben diesen Vereinbarungen tragen die steigenden Energiepreise zu hohen Einnahmen und zum wachsenden Selbstbewusstsein der politischen Führung in Moskau bei. Die Idee, dass die angeschlagene Atommacht als Energiegroßmacht ihre Schlüsselrolle in der Weltpolitik wiedergewinnen soll, wurde mit Hilfe der autoritären russischen Präsidialverwaltung konsequent umgesetzt: Zuerst wurde Ende 2003 Yukos-Chef Michail Chodorkowski inhaftiert und sein Konzern zerschlagen. Dabei wurden nach einen Gerichtsbeschluss von Ende 2004 die verbliebenen Yukos-Anteile am Ölkonzern Sibneft in Höhe von 34,5 Prozent zur Zahlung der Steuerschulden an den russischen Staat gesperrt. Mit einer Übernahme von Yukos hätte die Gazpromtochter Gazpromneft ihre Förderkapazitäten auf bis zu 90 Mio. Tonnen Öl am Tag mehr als verdoppeln können. Die Yukos-Tochter Yuganskneftegas wurde jedoch am 19. Dezember 2004 für 9,35 Mrd. US-Dollar an die Baikalfinancegroup versteigert, die wiederum von der halbstaatlichen Ölfirma Rosneft übernommen wurde.
Während Moskau eine Beteiligung von US-Ölfirmen am Yukos-Konzern nicht billigte, scheint man europäischen Investitionen gegenüber nicht abgeneigt. Ende April 2004 wollte die französische Total vier Mrd. US-Dollar in Sibneft einbringen und sich ein Vetorecht sichern. Doch dieser Deal platzte; Sibnefts Hauptaktionäre sind jetzt Gazprom mit 55,99 Prozent, Gazprom Finance BV mit 16,67 Prozent und – mit einer Beteiligung von 20 Prozent – die Deutsche Bank LLC.

Wie Gazprom das Erdgas aus der Kaspischen Region kontrol­liert

Parallel dazu hat Moskau die Kontrolle des Energiesektors im „Nahen Ausland“ ausgebaut und bis nach Saudi-Arabien erweitert.
Russland hat inzwischen, trotz anfänglicher Verluste nach dem Zerfall der Sowjetunion, seine energiepolitische Kontrolle im ressourcenreichen kaspischen Raum wiederhergestellt. Seit Jahren versucht Moskau, den Energiemarkt der gesamten Kaspischen Region zu beherrschen.17 In diesem Sinne ist der russische Stromgigant RAO-UES bestrebt, 40 Prozent des staatlichen Stromproduzenten in Tadschikistan zu übernehmen. Bereits Anfang März 2003 kaufte Russland zudem die Stromnetze Armeniens und Georgiens.
Neben den Stromnetzen greift Russland über Gazprom auch nach den Gasreserven in der Region. So wurde Ende März 2006 ein Gas-Joint-Venture zwischen Tadschikistan und Gazprom gegründet. Hierbei stehen Gazprom folgende Gasfelder zur Erschließung zur Verfügung: Sarikamysch, Rengan – geschätzte 40 Mrd. m3 – sowie Sragason – geschätzte 30 Mrd. m3 – und Olimtoj. Daneben soll der russische Konzern am Ausbau des Pipelinenetzes der zentralasiatischen Republik, an der Ölverarbeitung und der Errichtung eines Wasserkraftwerkes teilnehmen.
Auch um seine Rolle als Energiepartner der EU weiter auszubauen, treibt Moskau die Expansion auf dem Energiemarkt in der Kaspischen Region voran. So unterzeichnete Lukoil mit der usbekischen Usbekneftegas ein Abkommen über Erdgasförderungen in den Gebieten Buchara und Chiwa im Südwesten Usbekistans. Investitionen in der Höhe von rund einer Mrd. US-Dollar – 90 Prozent Lukoil, zehn Prozent Usbekneftegas – sollen es ermöglichen, ab 2007 jährlich bis zu 8,8 Mrd. m3 Gas zu fördern und die erforderliche Infrastruktur für Verarbeitung und Transport aufzubauen.20 Mit der Übernahme der drei größten Gasvorkommen Usbekistans in Urga, Kuanysch und Aktschalak für 25 Jahre wird Lukoil den Gasexport aus Usbekistan faktisch monopolisieren. Dafür fordert Taschkent von Moskau im Gegenzug Hilfe gegen Umsturzversuche und Schutz vor der politischen Einwirkung durch den Westen.
In Kasachstan möchte Gazprom laut UkrGasEnergo-Chef Rjasanow große Anteile des Gaspipelinesystems kaufen. Dies bedeute eine „Win-Win-Situation“, da Gazprom so den Transit von 80 Mrd. m3 Gas aus Usbekistan und Turkmenistan pro Jahr ermöglichen könnte. Ferner sollten Moskau und Astana eine Zollunion gründen, um eine Gewinnoptimierung zu erzielen und gemeinsam neue Märkte zu erobern.
Bereits Ende Februar 2004 erwarb Gazprom 85,16 Prozent der kirgisischen Ölgesellschaft Kirgisneft. Am 27. Januar 2006 wurde ein Memorandum über die Gründung eines Joint Ventures unterzeichnet, welches die Entwicklung der Öl- und Gasbranche Kirgisistans umfassen soll. Für das Land sei es „außerordentlich wichtig, dass das Flaggschiff der russischen Wirtschaft nun auf den kirgisischen Markt kommt“, betonte der kirgisische Präsident Felix Kulow.
Damit die Interessen Gazproms in Produktion und Transport angemessen berücksichtigt werden, plädiert Rjasanow für eine koordinierte Gaspolitik in der GUS. Es läge im Interesse der betreffenden Staaten, Gas zu einem möglichst hohen Preis zu verkaufen. Wenn jedoch jeder Akteur seine Preispolitik individuell bestimme, wähle der Verbraucher den Verkäufer und könne jederzeit den Preis drücken.
Welche strategischen Möglichkeiten diese energiepolitische Verzahnung bietet, zeigt der am 11. April 2003 geschlossene Vertrag zwischen Gazprom und Turkmenistan, der Gazprom für die nächsten 25 Jahre insgesamt zwei Trillionen m3 Erdgas zusichert. Der Preis soll in den ersten drei Jahren bei 44 US-Dollar für 1000 m3 liegen.Doch selbst wenn Aschchabad den Preis ab 2005 auf 60 US-Dollar erhöhen sollte, bliebe der Transport in die EU, die 250 US-Dollar bezahlt, für Moskau ausgesprochen lukrativ.

Drohge­bärden für Preis­er­hö­hungen

Über die Politik der Preiserhöhung versuchte Russland nun, seine Position auszubauen. Nach harten Verhandlungen zahlt bspw. Armenien bis 1. Januar 2009 den „Freundschaftspreis“ von 110 Dollar pro 1.000 m3. Als Gegenleistung bekommt Gazprom einige Eigentumswerte, u. a. die für Gazprom strategisch wichtige Gaspipeline aus Iran, die noch in diesem Frühjahr in Betrieb gehen soll. Bei Übernahme dieser Pipeline, die über Georgien und die Ukraine nach Westeuropa verlängert werden kann, kann Moskau den Transport iranischen Gases bis in die EU kontrollieren. Damit erhält vor allem Gazprom im Südkaukasus eine Machtposition mit kaum überschaubaren Konsequenzen.
Doch Russlands energiepolitische Ambitionen reichen inzwischen weit über den Kaukasus hinaus, unter anderem bis in die Türkei. 2004 lieferte Moskau bereits 3,2 Mrd. m3 Gas über die 2,7 Mrd. Euro teure „Blue-Stream“-Pipeline, die durch das Schwarze Meer verläuft. Bis 2010 sollen die Lieferungen an die Türkei auf 16 Mrd. m3 aufgestockt werden. An der Pipeline sind Gazprom, die italienische ENI sowie der türkische Staat beteiligt. Sie ermöglicht auch Perspektiven für den Transit über die Türkei bis nach Südeuropa und Israel.
All dies zeigt die Entschlossenheit Russlands, als „Energiesupermacht“ zum Dreh- und Angelpunkt der eurasischen Zusammenarbeit im Energiesektor zu werden. Um finanz- und energiepolitische Vorteile zu akkumulieren, erweitert Moskau schrittweise den Radius seiner Energie-Interessen – bis nach Saudi-Arabien, Indien und in den Iran. So hat Gazprom bereits seine Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, an der mit sieben Mrd. US-Dollar veranschlagten Pipeline „Iran-Pakistan-India“ (IPI) mitzuwirken, und auch der russische Staat wird sich an den politischen Risiken des Projekts beteiligen.
Ein weiteres Beispiel für den russischen Einflusszuwachs ist Saudi-Arabien, das sich jahrzehntelang ökonomisch und politisch an den USA orientierte. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kühlten die Beziehungen jedoch ab. Seitdem bemüht sich das Land, seine internationalen Beziehungen auch in Richtung Russland auszubauen. Die beiden Staaten sind die größten Erdölexporteure der Welt; von ihrer Koordination hängt die Preisstabilität auf dem Welterdölmarkt ab. Saudi-Arabien setzt sich deshalb für einen Beobachterstatus Moskaus in der OPEC ein. Der Einstieg Russlands in den Saudi-arabischen Gasmarkt könnte umgekehrt künftig eine größere Kompromissbereitschaft Moskaus bei Verhandlungen über den Weltölpreis zur Folge haben.
Das Engagement von Lukoil soll schließlich auch im Irak fortgesetzt werden. Dort wurde im März 2004 zwischen dem Konzern und dem irakischen Ölministerium eine Absichtserklärung über gegenseitige Kooperation bei Verträgen aus der Zeit vor der US-Intervention unterzeichnet.

Gaskon­trolle als Grundlage eines „liberalen Imperiums“

Im Rahmen seiner Energieexpansionspolitik versucht Russland über die Integration der Staaten im GUS-Raum einen einheitlichen Wirtschaftsraum aufzubauen. Der Direktor des Stromgiganten EES Rossii, Anatoli Tschubais, sprach bereits von einem „liberalen Imperium“.
Dieser Plan alarmierte jedoch die US-Regierung. Der ehemalige CIA-Direktor George Tenet bezeichnete die energiepolitische Expansion Russlands als Gefahr für die strategischen Interessen der USA. Trotzdem meldeten sich die Vereinigten Staaten nach den Anschlägen im Nordkaukasus vom Januar nur sehr zurückhaltend zu Wort; das US-Außenministerium forderte Russland lediglich zur Aufklärung der Ursachen der Detonationen auf. Im Fall der Ukraine konzedierte Washington, dass Russland seine Energieexportpreise auf Weltmarktniveau anheben könne, plädierte aber gleichzeitig dafür, dass der Ukraine mehr Zeit für den Übergang gewährt werden solle.
Auch in Berlin wurde nur vorsichtig Druck auf Russland ausgeübt. Wirtschaftsminister Michael Glos betonte, dass die Bundesregierung sich überlegen müsse, ob der russische Anteil am deutschen Energiemix (derzeit 36 Prozent) wie geplant erhöht werden solle. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Gert Weisskirchen, verlangte Konsequenzen für den Fall, dass Russland seine „Monopolmacht“ missbrauche. So könne man etwa im Kreise der G8 auf das Neumitglied Russland einwirken.
Für diese zurückhaltende Kritik hat der Duma-Abgeordnete Valentin Iwanow eine äußerst plausible Erklärung: Die EU muss nämlich künftig mit China, Japan und den USA um russische Erdgaslieferungen konkurrieren. Daher sei es von besonderer Bedeutung, dass mit dem Baubeginn der Ostseepipeline künftige Lieferungen aus Sibirien rechtzeitig abgesichert werden. Dass im Jahr 2008 Flüssiggas-Lieferungen aus Sachalin in die USA und Japan durchgeführt werden sollen und außerdem bereits der Bau einer Gasleitung nach China (und eventuell Südkorea) realisiert wird, bestätigt den wachsenden energiepolitischen Konkurrenz- und Handlungsdruck.

Europäische Investoren und der russische Gasmarkt

Seit 2001 befürwortet Russland auch eine internationale Kapitalpräsenz auf dem russischen Markt. Man verspricht sich hiervon eine Erweiterung der Kapitalbasis und die Modernisierung der Energieinfrastruktur. Auch aus diesem Grund werden die russischen Energieexporte in die EU inzwischen auf Euro-Basis abgewickelt.
Einer der größten ausländischen Investoren im Energiesektor Russlands ist Großbritannien. 2003 hatte BP mit der russischen Alpha-Group die Gründung des milliardenschweren Gemeinschaftskonzerns TNK-BP beschlossen. Shell investierte seitdem ebenfalls 5,5 Mrd. US-Dollar in die Ausbeutung von Ölfeldern vor Sachalin, wo 185 Mio. Tonnen Erdöl und 800 Mrd. m3 Erdgas vermutet werden. Ab 2009 will Shell in Salym täglich 120 000 Barrel Öl fördern. Im September 2003 verhandelte Gazprom-Chef Alexej Miller auch über Gaslieferungen in die USA, auf die ein Viertel des weltweiten Gasverbrauchs entfällt. Er forderte die USA auf, sich an der Erschließung des attraktiven Shtockman-Feldes und am Aufbau von Flüssiggas-Anlagen zu beteiligen.
Auch die deutsche Industrie soll sich an russischen Konzernen beteiligen. Die Teilhabe von Ruhrgas an Gazprom wird beispielsweise zu Investitionen in Sibirien und indirekten Beteiligungen im „Nahen Ausland“ führen. Grund für diese strategische Zusammenarbeit ist das Bestreben der deutschen Energiewirtschaft, die im Erdölgeschäft keine bedeutende Rolle spielt, im globalen Strom- und Gassektor zu Global Players aufzusteigen.
Moskau ist der Ansicht, dass die solide makroökonomische Lage im russischen Energiesektor ein positives Signal für deutsche Investoren ist. Durch Umstellung der Rechnungslegung auf Weltstandard werden die korporativen Regeln russischer Unternehmen transparenter, wodurch nun auch Versicherungsgesellschaften und private Pensionsfonds auf den russischen Markt gelangen. Auch deutsche Konzerne wollen sich hier zunehmend durchsetzen. So übernahm die Deutsche Bank 2005 das führende russische Finanzunternehmen „Investmentbank United Financial Group“ (UFG). Sie erhofft sich dadurch eine Stärkung ihrer Position auf den russischen Aktien-, Anleihen- und Derivatmärkten. Im Dezember 2005 kaufte die Dresdner Bank für rund 810 Mio. US-Dollar 33,3 Prozent der Gazprombank. Die drittgrößte Kreditanstalt Russlands wurde bis dahin von Gazprom kontrolliert. Dank der erworbenen Anteile an der Gazprombank sind am ukrainisch-russischen Joint Venture RosUkrEnergo auch Dresdner Bank und die österreichische Raiffeisen Investment beteiligt. Sie teilen sich somit mit Gazprom die Dividenden aus dem ukrainischen Gassektor.

Ostsee­pi­pe­line: Der Gipfel der Zusam­me­n­a­r­beit

Als Höhepunkt der Zusammenarbeit im Energiesektor besiegelten im September 2005 Gazprom, Wintershall und E.ON den Bau der rund vier Mrd. Euro teuren Ostseepipeline, die bis 2010 fertig gestellt sein soll. Laut Altbundeskanzler Gerhard Schröder, neuerdings Aufsichtsratsmitglied der deutsch-russischen Gaspipeline-Gesellschaft NEGP (51 Prozent Anteil Gazprom), sichert sich die Bundesrepublik damit auf Jahrzehnte einen Großteil ihrer Energieversorgung. Durch die Pipeline sollen zunächst jährlich 27,5 Mrd. m3 des größtenteils aus Westsibirien stammenden Gases in Westeuropa verteilt werden. Später soll die Menge auf mehr als 50 Mrd. m3 steigen.
Total und Gazprom haben inzwischen die gemeinsame Erschließung des Shtockman-Vorkommens in Sibirien und die Flüssiggas-Herstellung aus diesen Vorräten erörtert. An der ersten Phase der Erschließung sind ferner Statoil, Chevron, Hydro und ConocoPhillips beteiligt, aus deren Kreis auch die zwei bis drei Partner für ein Konsortium kommen sollen. Daneben wollen Total und Gazprom in Zukunft auch bei Projekten in Drittländern kooperieren. Dies betrifft unter anderem das iranische Vorkommen „Südpars“ im Persischen Golf.
Trotz der im Ukraine-Gasstreit wurzelnden Vorbehalte sind auch Konzerne jenseits des Atlantiks an einer strategischen Zusammenarbeit mit Russland interessiert. Mitte Januar erörterten Manager von PetroCanada und Gazprom die Realisierung eines Gemeinschaftsprojektes zur Produktion und Veräußerung von russischem Flüssiggas. Bereits im Oktober 2004 war eine Absichtserklärung über Flüssiggas-Lieferungen auf den nordamerikanischen Markt ab 2009 unterzeichnet worden.
Auf diese Weise ist Russland zum „natürlichen“ Energielieferanten Europas, der USA und Ostasiens herangereift; die umfangreichen Energievorräte wie die geographische Nähe, aber auch die genannten Kooperationen, finanziellen Möglichkeiten und die militärische Macht, die Sicherheit der Transporte zu garantieren, begründen diesen einzigartigen Status. Im Unterschied zum energiereichen, aber politisch instabilen Nahen Osten ist Russland bisher ein insgesamt stabiler und verlässlicher Handelspartner. Hauptprofiteur der Zusammenarbeit ist die russische Regierung, die den Staatshaushalt über die Energiepolitik seit 1999 weitgehend sanieren konnte; ca. 230 Mrd. US-Dollar Zentralbankreserven sind hierfür ein eindrucksvoller Beleg. Weitere Gewinner sind europäische Banken und Energiekonzerne, die über Joint Ventures an den russischen Energieressourcen partizipieren. Aber auch die EU gewinnt bei der Zusammenarbeit, nicht zuletzt über den Handel der russischen Energieressourcen in Euro. Die entscheidende Frage, wie lange und in welchem Umfang Russland die Energiesicherheit Europas tatsächlich garantieren kann, bleibt jedoch weiter offen.

Gazprom als Garant der Energie­si­cher­heit der EU?

Nach Angaben der russischen Regierung wird der Anteil russischen Erdöls an den europäischen Importen zwischen 2000 bis 2020 von 30 auf 27 Prozent zurückgehen; beim Erdgas wird mit einem drastischen Rückgang von etwa 70 auf 30 Prozent gerechnet. Aus diesem Grund wird Europa in Zukunft vermehrt auf Erdgas aus Afrika, dem Nahen Osten und dem Kaspischen Raum angewiesen sein.
Russland bemüht sich, seine strategische Rolle auf dem europäischen Gasmarkt dadurch aufrechtzuerhalten, dass es die postsowjetischen Nachbarstaaten dazu drängt, Erdgas an Russland zu verkaufen – das man anschließend gewinnbringend weiter veräußern kann. Bereits heute stammen 15 Prozent der Gasexporte Russlands aus seinem „Nahen Ausland“.
Der Gasstreit zwischen der Ukraine und Russland, aber auch die Preiserhöhungen im Energiesektor haben jedoch in der EU eine grundsätzliche Debatte über seine zukünftige Energiesicherheitsstrategie angestoßen. Nicht nur die österreichische EU-Ratspräsidentschaft, die beim EU-Gipfel im März die Energieversorgung als zentrales Thema auf die Agenda setzte, befürwortet erneuerbare Energien und plädiert dafür, dass Europa seine Quellen und Lieferwege für Gas und Öl weiter diversifiziert und Energie effizienter nutzt.
Der wissenschaftliche Leiter des Instituts für Globalisierungsprobleme in Moskau, Michail Deljagin, ist jedoch der Ansicht, dass die Suche der EU nach neuen Lieferanten illusorisch bleibt, da es keinen weiteren auch nur annähernd gleich großen Energie-Produzenten gibt. Hinzu kommt, so der Leiter des Lehrstuhls Öl- und Gasgeologie der Moskauer Hochschule für Energiewirtschaft Nikolai Jaremtschuk, dass auf dem internationalen Gasmarkt große Veränderungen zugunsten der Produzenten anstehen, da der Gebrauch von Flüssiggas immer rentabler werde: Der Transport wird billiger, die Ressource dagegen teurer. Allerdings erhöhe sich nicht nur die europäische Abhängigkeit von Lieferungen aus Russland; auch Russlands Abhängigkeit vom Verkauf der Rohstoffe werde weiter steigen.

Die Kaspische Region und Iran als Alternative zu Gazprom

Die Europäische Union unternimmt unterdessen erste Versuche, sich von der Abhängigkeit von Russland zu befreien, nachdem es diese zwischen 1997 und 2005 kontinuierlich erhöhte. So stieg der Ölimport in diesem Zeitraum von 122,6 auf 244,2 Mio. Tonnen und der Gasimport von 116,8 auf  139,8 Mrd. m3. Zu diesem Zweck könnte zukünftig eine in Norwegen entstehende Flüssiggas-Anlage genutzt werden. Der EU-Sonderbeauftragte für den Südkaukasus, Heikki Talvitie, verwies ferner auf die Attraktivität, die Aserbaidschan als Produzent- und Transitland besitzt. Vor dem Hintergrund, dass Turkmenistan aus der GUS ausgetreten ist und seine Reserven nicht in vollem Umfang nach oder durch Russland leiten möchte, bestehen hier in der Tat alternative Optionen.
Die EU-Länder hätten darüber hinaus auch aus machtpolitischer Sicht allen Grund, mit Turkmenistan ein Abkommen über Erdgaslieferungen zu schließen. Der Transport könnte über den Iran und die Türkei abgewickelt werden.Mit einer solchen Pipeline könnten Turkmenistan und Aserbaidschan die Lücke schließen, die Russland hinterlassen wird (vgl. Tab. 2), aber auch der Iran.
Denn auch der Iran besitzt als europäischer Energielieferant die nötigen Kapazitäten. Das Land verfügt über rund 10 Prozent der globalen Öl- und etwa 15 Prozent der Erdgasreserven. Volker Perthes zufolge ließe sich auf diesem Wege möglicherweise sogar der Atomstreit beilegen, wenn der Iran überzeugt werden kann, dass Europa tatsächlich an stabilen Beziehungen interessiert ist und das Land als eine ernst zu nehmende regionale Mittelmacht und Europas potentiell wichtigsten energiepolitischen Partner im Nahen Osten akzeptiert.
Aufgrund der gewaltigen Gasvorkommen in der Persischer Golf und Kaspischen Region plant der österreichische Energiegigant OMV bereits die Errichtung einer Pipeline zwischen Europa und Zentralasien sowie dem Nahen Osten. In Kooperation mit der Türkei, Bulgarien, Rumänien und Ungarn wurde am 29. Juni 2005 eine Vereinbarung über ein Joint Venture zur Realisierung der Nabucco-Pipeline unterzeichnet, die vom Iran ausgehend bis nach Wien führen soll. Zudem versucht der Konzern, sein Engagement in der iranischen Öl- und Gassuche auszuweiten. Im April 2001 unterzeichnete die OMV Iran Exploration GmbH deshalb ein Abkommen mit der National Iranian Oil Company über eine Explorationstätigkeit von vier Jahren in der Region Zagros. Die Arbeiten konzentrieren sich auf ein 2500 km2 großes Gebiet, den so genannten „Zagros Mehr Block“. Auch der Energie-Multi Wintershall, der im siebenbürgischen Sighisoara Erdgas für den rumänischen Binnenmarkt fördert, begründet das eigene Interesse am rumänischen Erdgasmarkt damit, dass das Land auf der Route der geplanten Nabucco-Pipeline liegt.

Tabelle 2: Nachgewiesene Gasreserven

 Land

Reserve

(in Billionen m3)           

Prozent                 

 Welt

 179,53

100

 Russland

 48

26,7

 Iran

 27,50

15,3

 Katar

 25,78

14,4

 Turkmenistan

 2,9

1,6

 Usbekistan

 1,86

1,0

 Kasachstan

 3

1,7

 Aserbaidschan

 1,37

0,8

Quelle: BP Weltenergiestatistik, Juni 2005, S.20.Obwohl die Gasreserven der Kaspischen Region und des Iran für die Deckung des Weltmarkts momentan nur eine marginale Rolle spielen, sind sie angesichts der vorhandenen Kapazitäten sehr attraktiv, um ab 2010 bis zu zehn Prozent des zukünftigen Gasbedarfs der EU zu decken.Daher sind europäische Energiekonzerne und Banken bemüht, diesen geographischen Raum möglichst unabhängig vom russischen Machtbereich zu erschließen.

Die Absicherung der künftigen Energie­ver­sor­gung

Die Bedeutung dieses Vorhabens wird auch durch die im „Grünbuch“ der EU-Kommission aufgezeigten potentiellen Energiekonflikte und Gefahren einseitiger Abhängigkeiten bestätigt. „Energie verbrauchende Länder beginnen, einander als potentielle Rivalen für die Lieferungen zu sehen“, heißt es dort. „Und das zu einer Zeit, in der Europa mehr Energie als je zuvor importiert. Dieser Trend wird sich noch bedeutend beschleunigen.“ Deshalb werden sechs Prioritäten definiert, die die effiziente Energieversorgung Europas sicherstellen sollen. Dazu gehören Schritte in Richtung einer gemeinsamen Energie-Außenpolitik, die Vollendung des EU-Gas- und Elektrizitätsmarkts sowie mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten bei Notfällen.Damit Europas Energiesicherheit in Zukunft tatsächlich gewährleistet ist, darf diese von der EU-Kommission geforderte energiepolitische Vision keine Utopie bleiben. Obwohl europäische Banken momentan stark von der Zusammenarbeit mit Russland profitieren und sich der Euro als Leitwährung neben dem US-Dollar zu etablieren beginnt, sollte der langfristigen Energiesicherheit der EU zentrale Bedeutung beigemessen werden. Neben sektoraler Diversifizierung im Energiemix und der Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energieträger muss die Erdgasversorgung der EU weiter diversifiziert werden. Der Bau der Nabucco -Pipeline und der Ausbau des Flüssiggas-Systems sind deshalb Schritte in die richtige Richtung. Ferner muss jedoch sowohl die Türkei als auch Russland davon überzeugt werden, den Energiechartavertrag zu unterzeichnen und zu ratifizieren. Dies hätte zur Folge, dass Nachteile gegenüber Drittanbietern und die Monopolstellung Russlands abgebaut würden sowie eine „Energie-Nato“, wie von Polen vorgeschlagen, obsolet wird. Andernfalls wird die Europäische Union dem russischen Energiegiganten schon bald wenig entgegenzusetzen haben.

1   Vgl. n-tv; Russische Presse; http://www.n-tv.de/664385.html; 05.05.2006. und Die Presse;  Erdöl:  Cheney legt sich mit Russland an; Wettstreit um Erdöl; http://www.diepresse.com/Artikel.aspx?channel=e&ressort=eo&id=556654; 06.05.2006.
2  Vgl. Spiegel Online; Kritik an Putin:  Bush besorgt über die Entwicklung in Russland;               http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,414936,00.html; 08.05.2006.
3    Vgl. Tagesspiegel; http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/08.05.2006/2517033.asp.
4    Vgl. Kölner Stadt-Anzeiger http://www.ksta.de/html/artikel/1144673386755.shtml.
5    Vgl. Putin, Wladimir: Energie-Egoismus ist eine Sackgasse; In: Die Welt; 01. 03. 2006.
6    Vgl.Russland- Aktuell;  http://www.russland-aktuell.ru/russland/wirtschaft/dreht_russland_europa_ den_gas- hahn_ab_1373print.html.
7   Vgl. Russland-Aktuell   ,http://www.aktuell.ru/russland/wirtschaft/gazprom_haelt_an_gas_transit_ durch _die_ukraine_fest_1222print.html.
8    Vgl. RIA Novosti, http://de.rian.ru/business/20060125/43181017.html.
9    Nach Einschätzung der International Energy Agency (IEA) wird der weltweite Erdgasbedarf in den nächsten 25 Jahren um knapp 80 Prozent steigen. Die weltweiten Erdgasreserven stiegen zwischen 1994 und 2005 von 149,98 Mrd. m³ auf 171,97 Mrd. m³. Vgl. BP Statistical Review of World Energy; June 2005; S. 20; IEA; World Energy Outlook 2002, Paris, S. 58 ff.
10  Vgl. „DIW-Wochenbericht“ 36-37/2003, S. 1.
11 Vgl. European Commission – Directorate-General Energy and Transport (Hg.); Study on Energy  Supply Security and Geopolitics. Final Report, Januar 2004, S. 57.
12 Vgl. Europäische Kommission, Grünbuch „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversor-   gungssicherheit“, Brüssel 29.11.2000, sowie den Endbericht der Enquete-Kommission des Deut- schen Bundestags, „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung“, BT-Ds. 14/2687 vom 7.7.2002.
13  Vgl. IEA, World Energy Outlook 2002, a.a.O.
14  Vgl. www.belarusnews.de/print.php?id=1352&archiv.
15  Vgl. http://www.aktuell.ru/russland/wirtschaft/gazprom_verdreifacht_gaspreis_fuer_weissrussland_  1363print.html
16  Vgl. RIA Nowosti, http://de.rian.ru/business/20060117/43037672.html.
17  Vgl. Alexander Warkotsch, Zwischen Konfrontation und Kooperation. Die russische Zentralasiepo- litik, in: „Blätter“ 9/2004, S. 1112-1122.
18  Vgl. Mathilde Damoisel und Regis Gente, Zwischen Hammer und Amboss. Georgien, Abchasien    und die Russische Föderation; in: „Le Monde diplomatique“ 10/2003, S. 4.
19  Vgl. Ria Novosti, Gazprom gründet mit Tadschikistan Gas- Joint- Venture,         http://de.rian.ru/ business/20060328/44912585.html
20  Vgl. http://russlandonline.ru/mainmore.php?tpl=Wirtschaft&iditem=773
21  Vgl. http://wirtschaft.russlandonline.ru/Gazprom/morenews.php?iditem=489
22  Vgl. „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 6.5.2003, S. 6.
23  Vgl. http://de.rian.ru/business/20060407/45425703.html
24  Dieser Einstieg wurde über die Gründung von Luksar, einem Joint Venture von Lukoil und Aramco, realisiert. Lukoil hält dabei 80 Prozent und Aramco 20 Prozent der Anteile an dem in der Ostprovinz angesiedelten Unternehmen.
25  Vgl. http://wirtschaft.russlandonline.ru/raoees/morenews.php?iditem=9
26  Vgl. Bundesministerium f. Wirtschaft und Technologie, Energiebericht Nachhaltige Energiepolitik für eine zukunftsfähige Energieversorgung“, Oktober 2001, sowie BDI-Positionen zur Energiepolitik, September 2001.
27 Vgl. Roland Götz, Russlands Energiestrategie und die Energieversorgung Europas, SWP-Studie, März 2004.
28  Vgl. RIA Novosti, http://de.rian.ru/business/20060201/43276011.html
29  Vgl. Friedemann Müller, Ein Rohr ist nicht genug, in: „Die Zeit“ 15/2004.
30  Vgl. „Handelsblatt“, 9.1.2006.
31 Vgl. Andreas Seeliger, Die Europäische Erdgasversorgung im Wandel, in: EWI Working Paper        04/2004.
32  Vgl. Europäische Kommission, Grünbuch, a.a.O.
 

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