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Die inneren Grenzen der EU-Er­wei­te­rung

Mit der Erweiterungskrise wandelt sich die Dialektik von Expansion und Integration. Aus: vorgänge Nr.174 (Heft 2/2006), S.4-11

Einleitung

Im Zuge der Entwicklung der modernen politischen Welt wandelten sich  Grenzen von Zonen umstrittenen Einflusses zu Linien zwischen Nationen. Für Nationalstaaten spielen Grenzen in zweifacher Hinsicht eine ausschlaggebende Rolle: Einerseits definieren sie die territoriale Dimension eines Staates, andererseits gibt es innerhalb seines Gebietes keine Grenzen. Folglich dienen Grenzen dem Unterfangen oder zumindest dem Versuch, praktisch alle Arten von Bewegungen zwischen Staaten zu kontrollieren, wohingegen es innerhalb des Nationalstaates keine Kontrolle der Bewegungen gibt. Aufgrund der Tatsache, dass eine nationale Grenze die territoriale Integrität eines Staates definiert, ist die Veränderung von Grenzen grundsätzlich eine prekäre Aktion. 
Diese provisorische Charakterisierung deutet bereits darauf hin, dass die Grenzen der EU ein besonderes Merkmal besitzen, genauer: Die EU verfügt über multiple Grenzen. Erstens gibt es solche die nach außen gerichtet sind und Grenzen innerhalb der EU. Das Abkommen von Schengen bestimmt die äußere Grenze der EU. Die soziale und politische Bedeutung von Staatsgrenzen innerhalb der EU hat abgenommen, ist jedoch nicht gänzlich verschwunden. Zweitens sind als Konsequenz in einem gewissen Sinne Grenzen als Zonen wieder neu aufgetaucht. Hand in Hand mit der Einrichtung der Grenzordnung von Schengen entwickelten sich ausgedehnte Grenzkontrollzonen. Und drittens hat sich die Veränderung von Grenzen zu einem normalen und friedlichen – nicht aber immer unumstrittenen – Verfahren entwickelt.
Dieser letzte Punkt bringt mich zum Mechanismus der EU Erweiterung. Um die Veränderungen der EU Grenzordnung verstehen zu können, ist eine Analyse der EU- Erweiterung erforderlich, weil die Dynamik der EU- Erweiterung den elementaren Grund für die Entwicklung der multiplen oder „postnationalen 1“ EU Grenzen bildet.

Der Weg in die Erwei­te­rungs­krise

Die politische und wirtschaftliche Einflusssphäre der EU entwickelten sich gemäß einem Muster konzentrischer Kreise 2. Das Zentrum umfasst hierbei eine politisch stabile Region des materiellen Wohlstandes. Außerhalb dieser Region nimmt der Wohlstand mit steigender Distanz zum Zentrum ab. Grenzen mit unterschiedlicher Durchlässigkeit trennen die verschiedenen Wohlstandszonen. Je entfernter eine Region vom Zentrum ist, desto weniger durchlässig sind die Grenzen. Sinkender Wohlstand und abnehmende Durchlässigkeit bilden einen doppelten Sicherheitsmechanismus für die Kernregion. Sie verschärfen die Aufnahmebedingungen, während die Anreize für einen Beitritt sinken. Die Rationalität hinter der dynamischen Expansion ist der Schutz des prosperierenden EU- Kerns durch Integration der Peripherie nach festgelegten Kriterien demokratischer Entwicklung und Rechtsstaatlichkeit.
Was treibt die dynamische Expansion der EU an?3 Erstens wird die Expansion angetrieben von dem großen Wohlstandsunterschied zwischen der EU und ihrer Peripherie. Solche Wohlstandsgefälle rufen nicht nur in der armen Peripherie Probleme hervor, sondern auch im wohlhabenderen Kern – durch potenzielle Einwanderungsüberschüsse, grenzüberschreitende ökologische Schäden und politische Instabilität. Daher hat die EU ein Interesse daran, die wirtschaftliche Entwicklung in den ärmeren Regionen ihrer Peripherie zu fördern. Doch während das wirtschaftliche Wachstum in den Grenzländern die Kluft zwischen ihnen und dem wohlhabenden Kern verkleinert, erweitert es zugleich die Kluft zwischen ihnen und den noch ärmeren Nachbarn. Während ehemalige Grenzgebiete in die EU aufgenommen werden, bewegt sich der Wohlstandsunterschied weiter nach außen. Da jedes neues Mitglied des EU- Kerns ein unmittelbares Interesse an einer sicheren und gedeihenden Nachbarschaft, d.h. an einer Pufferzone, hat, hat diese Form der Expansion eine integrale Tendenz sich selbst zu perpetuieren.
Zweitens verändert die Vertiefung der Integration die Außenbeziehungen der EU. Ihr allgemeiner Effekt liegt in der direkteren Auswirkung von Ereignissen jenseits der Grenzen auf den wohlhabenden Kern. Das ruft das unmittelbare Interesse des Kerns hervor, die gemeinsamen äußeren Grenzen zu sichern und die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in den umgebenden Regionen zu verbessern. Mit anderen Worten: eine sich vertiefende EU- Integration, d.h. die sich verringernde Bedeutung der inneren Grenzen, erhöht die allgemeine Wachsamkeit an den äußeren Grenzen und verbessert die politischen und sozialen Bedingungen jenseits den EU- Grenzen.
Die Erweiterungspolitik praktiziert eigennützige Hilfe durch Einbeziehung der Peripherie, während Grenzschließungen der Versuch sind, die EU von äußeren Einflüssen abzuschirmen. Zusammen reproduzieren diese beiden Vorgehensweisen das Bild der konzentrischen Kreise auch außerhalb der EU Grenze.

Eigen­nüt­zige Hilfe durch Inklusion

Der wohlhabende Kern fasst viele verschiedene äußere Einflüsse als Bedrohung auf. Die klassische Reaktion ist das Verlangen nach Schließungen der Grenzen. Das politische Thema der Einwanderung demonstriert dies besonders gut. In einer wohlhabenden Wirtschaft verlangen niedrig qualifizierte Arbeitskräfte und wettbewerbsschwache Firmen nach Grenzschließungen. Sie bilden protektionistische Allianzen gegen offene Grenzen, sie fordern Beschränkungen der Importe und Begrenzungen der Einwanderung. Obgleich sie nicht übereinstimmen, nähern sich ihre Interessen und Forderungen an, weil beide Interessengruppen im Nationalstaat ein Bollwerk gegen externe Bedrohungen erkennen – und ihn auch so nutzen wollen, obwohl an den Beispielen der grenzüberschreitenden Einwanderung, Umweltverschmutzung etc. die Begrenztheit der Erfolge von Grenzschließungen sichtbar wird.
Nichts kann Grenzen komplett undurchlässig machen. Manche grenzüberschreitende Aktivitäten können nur zu extrem hohen Kosten gestoppt werden, einige können gar nicht verhindert werden. Die Erfahrung des oder die Einsicht in den begrenzten Erfolg der Abschottungspolitik führt zu politischen Strategien der kalkulierten Inklusion. Solche Strategien werden wahrscheinlicher, wenn die Effekte nicht zu stoppender grenzüberschreitender Prozesse  zum Thema von Wahlkämpfen werden. Kalkulierte Inklusion folgt der Logik der eigennützigen Hilfe4. Im Falle eigennütziger Hilfe hat die helfende Gruppe einen Anreiz, Probleme an ihrer (äußeren) Quelle zu lösen, weil sie die sich daraus ergebenden ungewollten grenzüberschreitenden Auswirkungen verhindern will – angefangen  „von Terrorismus bis zur Luftverschmutzung“5.
Die deutsche Wiedervereinigung, verstanden als die Integration der ehemaligen DDR in die Europäische Union (und NATO) und daher eine erste Osterweiterung, kann als  Veranschaulichung dafür dienen, wie das Interesse an politisch und wirtschaftlich stabilen Nachbarn die dynamische Expansion der EU befördert. Nach 1989 wurde Deutschland schnell zum Anwalt der Interessen seiner östlichen Nachbarn, die in die EU und die NATO aufgenommen werden wollten. Das wiedervereinte Deutschland erkannte klar, dass seine geographische Lage verlangt, politische Instabilität jenseits seiner Ostgrenzen so früh wie möglich zu verhindern. Das führte zu dem Ergebnis, dass die deutsche  Europapolitik seit 1990  Stabilisierungspolitik der Peripherie im Osten war.  Das grundlegende Prinzip dieser Strategie, Stabilitätsexport statt Instabilitätsimport, gilt bis zum heutigen Tag. Der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe, betonte, dass es Deutschlands größtes Interesse sei, von stabilen Demokratien, Partnern und Allianzen umgeben zu sein: „Wir wollen nicht der Staat am Rande Westeuropas sein.“6
Entsprechend der Logik der eigennützigen Inklusion nutzen Repräsentanten von Ländern am Rande der EU ihre besondere geographische Lage als ein Argument für einen EU Beitritt.7 Zum Beispiel antwortete der ehemalige Polnische Präsident Kwasniewski auf die Frage „was kann Polen zur EU beitragen?“: „Unsere strategische Position hat uns viel Leid gebracht, aber auch viel Kompetenz im Umgang mit Nachbarn, besonders jenen im Osten, verliehen. Polen trägt eine Menge zur Stabilität in dieser Region bei.“8 Dasselbe strategisch wichtige Argument wird oft in der Diskussion über den Beitritt der Türkei zur EU vorgebracht.

Konzen­tri­sche Kreise nach der Erweiterung

Die jetzige Tiefe der EU-Integration wird im Wesentlichen durch den Schengen-Vertrag mit der gemeinsamen Außengrenze und der Europäischen Währungsunion mit der gemeinsamen Währung und den Maastrichtkriterien definiert.
Die Übereinkunft von Schengen schaffte Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union beinahe ganz ab. In der unmittelbaren Konsequenz wurden Entwicklungen in den EU-Grenzregionen relevant für die wohlhabende Kernregion, insbesondere für Deutschland. Vor Schengen bedeutete Einwanderung von Nordafrika nach Spanien, dass die Einwanderer in Spanien blieben. Nach Schengen bedeutet sie, dass Einwanderer in die gesamte Schengen-Zone gelangen, inklusive Deutschland, Frankreich Skandinavien etc. Die Entwicklungen in den spanischen Enklaven in Afrika, in Ceuta und Medilla, veranschaulichen eindringlich die Auswirkungen von Schengen. Berichten von Grenzposten zufolge war die Grenzregion vor dem Abschluss des Abkommens relativ friedlich. Dies änderte sich danach grundlegend. Heutzutage steht die Grenze unter massivem Einwanderungsdruck und sie wird mit hohen Kosten gesichert. Im Effekt hat Schengen zu einem drastisch zunehmenden Einwanderungsdruck von Süden her geführt, zu professionellem Menschenhandel rund ums Mittelmeer und zu wachsender Rücksichtslosigkeit der Schlepperbanden. Berichte über die menschlichen Tragödien der Flüchtlinge im Gebiet des Mittelmeeres ähneln zunehmend jenen aus der Karibik oder von der Grenze zwischen den USA und Mexiko.9
Einerseits hat die tiefe Integration das gemeinsame Interesse der reichsten EU Länder an strengen  Standards für Grenzkontrollen geweckt und Bestrebungen ausgelöst, die Überwachungspraxis der EU- Mitglieder mit EU- Außengrenzen zu kontrollieren. Andererseits hat die fortschreitende europäische Integration ein allgemeines Interesse der wohlhabenden Kernländer an verbesserten Lebensbedingungen und eine Stabilisierung der politischen Situation in den EU- Nachbarländern erzeugt- was sich in eigennütziger Nachbarschaftshilfe zeigt.
Aus Sicht der EU hat die Politik der Einbindung zwei Vorteile gegenüber dem Versuch, die Grenzen zu schließen. Erstens ermöglicht sie den nördlichen Ländern die Entscheidungen welche die Grenzthematik betreffen zu beeinflussen, während sie sich andernfalls auf die Außen- und Sicherheitspolitik der Mitglieder mit äußeren EU- Grenzen verlassen müssten. Dies ist ein Vorteil, da die Bereitschaft oder die Möglichkeit dieser Länder, strenge Grenzkontrollen durchzuführen einigermaßen zwiespältig ist. Zum Beispiel haben diverse spanische Interessengruppen eine bemerkenswert andere Sichtweise der Einwanderung als die EU10. Spanische Bauern hängen von legalen und illegalen Einwanderern ab und stimmen darum nicht mit der restriktiven EU- Einwanderungspolitik überein. In Bezug auf Putzfrauen und Kindermädchen haben die Haushalte11 der Mittelschichten in Spanien und anderswo in der EU dasselbe Interesse.
Zweitens entschärft die Politik der Integration die starke Wohlstandskluft und die politische Instabilität an den unmittelbaren EU Grenzen. Wie oben beschrieben hilft dies, das Modell der konzentrischen Kreise in Übereinstimmung mit den EU Stabilitätsinteressen zu reproduzieren.
Die nächste Runde der Ausschließung zeichnet sich ab. Die EU übt steigenden Druck auf ihre östlichen und südlichen Nachbarn aus, ihre Grenzen zu schließen, weil deren Rolle als Durchgangsroute für Einwanderer aus anderen Teilen der Welt wächst. Sie installiert neue Abschiebeketten, besonders hinter der ersten und zweiten Reihe der östlichen Nachbarn. Schon vor der EU- Erweiterung im Mai 2004 war erkennbar, dass sich dieses System der Ausschließung weiter nach außen verlagert und die Politik, Pufferzonen um den wohlhabenden EU- Kern zu legen, fortgesetzt würde. Das Strategie-Papier der EU Kommission „Wider Europe“ macht dies deutlich. Es schlägt vor: „Die EU sollte helfen, die Anstrengungen der Nachbarländer zu verstärken,  illegale Einwanderung zu bekämpfen und effektive Mechanismen für die Rückführung einzuführen, besonders bei illegaler Transit- Migration. Abschließende Wiederaufnahmeabkommen mit allen Nachbarn, angefangen mit Marokko, Russland, Algerien, der Ukraine, Belarus und Moldawien, werden ein entscheidendes Element in den vereinten Bemühungen sein, illegale Einwanderung einzudämmen.“12
Die Analyse zeigt, dass sich die Entwicklung der Europäischen Union tatsächlich in der Bahn der beschriebenen Dialektik bewegt hat: Grenzen haben sich nach außen verlagert, Abschiebeketten wurden eingerichtet und dies hat Interessenkonflikte zwischen der (teilweise) integrierten Peripherie und den Nachbarn außerhalb hervorgerufen. Gleichzeitig lässt das Wohlstandsgefälle, während es abnimmt und sich nach außen bewegt, die Hoffnung anderer Nachbarn schrittweise ansteigen, dass sie ebenfalls an dem Integrationsprozess teilnehmen können. Dieses Entwicklungsmodell hat sich über viele Jahrzehnte entfaltet und wurde folglich so prägend, dass es die Vorstellung der politisch Handelnden innerhalb der EU und ihrer Nachbarschaft bis heute dominiert. Die Parallelität von kalkulierter Integration und Grenzschließungen zielt darauf ab „eine Zone des Wohlstands und der freundlichen Nachbarschaft zu entwickeln“ – einen „Ring von Freunden“, mit welchen die EU enge, friedliche und kooperative Beziehungen genießt.13

Abgestufte Integration

Die EU- Osterweiterung 2004 und die darauf folgende tiefe Erweiterungskrise der EU markieren den Bruch mit ihrem ehemals vorherrschenden Entwicklungsmuster. Die Strategie, die in dem Papier „Wider Europe“ skizziert wurde,  ist bereits eine Reaktion darauf. Was hat dies für die zwei oben beschriebenen Mechanismen des Wechselspiels von Expansion und Integration zu bedeuten?
Die dynamische EU- Expansion entfaltete sich bisher nach dem Muster konzentrischer Kreise die sich permanent selbst reproduzieren. Gerät sie allerdings ins Stottern und kommt zum Stillstand, steht das Modell in Frage. Dies berührt vitale Interessen des wohlhabenden EU Kerns. Daher kann die künftige Entwicklung zwei mögliche Wege gehen. Die EU könnte sich entscheiden, sich nach außen hin strikt zu isolieren, was strenge Grenzziehungen und bewaffnete Grenzsicherung mit sich bringt. Jedoch ist eine solche Entscheidung unwahrscheinlich, da die Ausschlusspolitik der Gründe wegen, die bereits oben erwähnt wurden, nur begrenzt effektiv ist. Grenzen können nicht auf Dauer geschlossen werden. Wahrscheinlicher ist eher, dass die konzentrischen Kreise auch weiterhin das geläufige Entwicklungsmodell der EU sein werden, jedoch in modifizierter Form. Einzelne EU- Mitglieder werden beginnen, Gruppen zu bilden, mit einem abnehmenden Grad an  Integration vom Zentrum zur Peripherie hin.
Eine solche abgestufte Integration ist eine Möglichkeit, kein Automatismus, denn die weitere Entwicklung der EU ist nicht einfach ein automatischer Prozess sich verlagernder konzentrischer Kreise, wie von dem Zentrum- Peripherie Modell14 vorgezeichnet, sondern sie ist ein wohldurchdachter politischer Versuch, den Integrationsprozess fortzusetzen und zugleich wohlhabenden Kern der EU zu sichern. Denn tatsächlich kann das geopolitische Ziel, einen wohlhabenden Kern zu bewahren, der umgeben ist von Schichten abnehmenden Wohlstandes und zunehmender Zutrittsbarrieren, auf zwei verschiedenen Wegen erreicht werden. Entweder strebt der Kern nach Pufferzonen in seiner unmittelbaren Umgebung, welche zu gegebener Zeit selbst zum Zentrum gehören und dann selbst entferntere Pufferzonen schaffen wird. Oder eine Kerngruppe von Staaten entschließt sich, sich von der größeren Gemeinschaft gleichberechtigt integrierter Mitglieder abzusetzen indem sie die Integration weiter vorantreibt und ihre EU- Umgebung in eine Pufferzone verwandelt.  Dies ist das gemeinsame Vielfache der Vorschläge einer Integration à deux vitesses, eines Abkommen innerhalb eines Abkommens, eines Kerneuropas oder eines Gravitationskerns von einigen Staaten. Sie alle befürworten einen integrierten Kern umgeben von anderen Mitgliedern. Die Ansichten unterscheiden sich nur in der Frage, wer zum Kern gehört und ob oder wie der Kern anderen Mitgliedern offen steht.
Es wäre jedoch falsch, eine direkte Verbindung zwischen solchen öffentlichen Vorschlägen und dem tatsächlichen Pfad der europäischen Entwicklung herzustellen. Es ist beispielsweise plausibel, dass manche Politiker die Auffassung eines „Kerneuropas“ als Drohung anwenden, um den Widerstand einiger EU Mitglieder gegen eine tiefere EU Integration zu zermürben; wie es z.B. bereits geschehen ist, als bei den Beratungen zur EU-Verfassung Meinungsverschiedenheiten über das Mehrheitsprinzip aufkamen. Es könnte ebenso passieren, dass Politiker versuchen werden, die Möglichkeit eines Kerneuropas herunter zu reden, gerade sobald ernsthaftere Bemühungen ersichtlich sind, ein solches zu erschaffen. Es ist nicht mein Ziel, die „wahren“ Intentionen irgendeines politisch Handelnden aufzudecken, noch weniger versuche ich eine alternative Blaupause für eine künftige europäische Integration aufzuzeigen. Ich stelle lediglich fest, dass die Fixierung auf politische Rhetorik politische Ereignisse auf politische Intentionen reduziert. Dies setzt eine sehr einfache kausale Beziehung zwischen Intentionen und Resultaten voraus und ist von daher für die Analyse eines komplexen Vorgangs wie die EU- Entwicklung nicht geeignet. In Wirklichkeit entsteht eine neue Art von Integration, erzeugt von Entwicklungen, die relativ unbeeinflusst von Intentionen sind.

Zahlreiche Beobachtungen unterstützen diese Hypothese. Erstens arbeiten einige EU- Mitglieder bereits intensiver als andere auf verschiedenen politischen Gebieten miteinander.15 Beispielsweise hat die begrenzte Teilnahme an der Währungsunion zu unterschiedlichen Integrationstiefen im Bereich der Wirtschaftspolitik geführt. So haben besonders die neuen EU- Ostmitglieder eine flachere Mitgliedschaft erhalten, da sie nicht in der Lage sind, die Kriterien für einen schnellen Beitritt in die Eurozone zu erfüllen.16 Außerdem werden Grenzkontrollen innerhalb der EU weiter existieren, so lange es keine freien Verkehr der Arbeit (um die Arbeitsmärkte in den alten Mitgliedsstaaten zu schützen) und keinen freien Verkehr der Agrarprodukte gibt (um Landwirtschaft in den neuen Mitgliedsstaaten zu schützen). Diese Begrenzungen führen zumindest zeitweise ein Modell der abgestuften Integrationsebenen der EU ein. Die innere Sicherheit ist ein weiterer Punkt, denn die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus kann dazu führen, Grenzkontrollen wieder einzuführen. Generell feuert jede Schwierigkeit, die Kontrollen an den äußeren Grenzen der EU zu verstärken, Versuche an, die inneren Grenzen wieder aufleben zu lassen – und auf diese Weise zur Differenzierung der Integrationsebenen in dem Bereich der nationalen Sicherheit beizutragen. Auch die Verteidigungspolitik bietet Ansätze dafür. Die drei großen NATO- und EU- Mitglieder Frankreich, England und Deutschland haben Integrationspläne präsentiert, die eindeutig manche EU- Mitglieder auf der Strecke lassen würden. Es ist wert festzustellen, dass auch der Vertrag über die europäische Verfassung solche Möglichkeiten vorsieht.17 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass abgestufte Integration in zwei zusammenspielenden Szenarien stattfindet. Das eine ist der Beitritt neuer Mitglieder auf einem (zeitweise?) niedrigeren Integrationsniveau, das andere ist die Differenzierung in der Integration unter den alten Mitgliedern.

Schluss

Was geschah mit den EU- Grenzen innerhalb der EU Erweiterung? Die Analyse der Entwicklung der EU- Grenzen im Zusammenhang mit der  EU Expansion zeigt, dass beides, Menschen und Grenzen sich bewegen18. Erstens versuchen Menschen von außerhalb in die EU einzudringen. Sie werden angetrieben von der Hoffnung, an dem europäischen Wohlstand teilhaben zu können. Dies kann sowohl bedeuten, dass Einwanderer versuchen, die äußeren EU- Grenzen zu überwinden als auch, dass an Europa grenzende Länder versuchen der EU beizutreten. Bezüglich der Grenzen kann man feststellen, dass es grundsätzlich zwei Arten von Versuchen gibt, den reichen Zonen der EU beizutreten: Entweder einzeln illegal die Grenze zu bezwingen oder gemeinsam politisch Grenzen zu bewegen. Zweitens wird im Zusammenhang mit der EU- Erweiterung  das Modell der postnationalen Grenzen mehr und mehr sichtbar: Einerseits erreichen die äußeren EU- Grenzen den Status einer Nationalgrenze plus den einer allgemeinen EU- Grenze. Deren gemeinsamer Nenner ist das Interesse der ganzen EU an Einwanderungskontrolle, die ihren Ausdruck in der (sich aktuell entwickelnden) gemeinsamen Asylpolitik findet. Andererseits macht die fortschreitende Erweiterung der EU eine Tendenz zu internen Differenzen immer wahrscheinlicher, was die Wiedereinführung interner EU- Grenzen nahe legt.

Der Text wurde von Thilo Hecht aus dem Englischen übersetzt.

1    Monika Eigmüller, Grenzsicherungspolitik. Funktion und Wirkung der Europäischen Außengrenze. Wiesbaden 2006. (I.E.); Monika Eigmülller, Georg Vobruba (Hg.), Grenzsoziologie. Wiesbaden 2006.
2    Georg Vobruba, The Enlargement Crisis of the European Union: Limits of the Dialectis of Integration and Expansion, in: Journal of European Social Policy, 1/2003, Maurizio Bach, The Enlargement Crisis of the European Union: Fram Political Integration to Social Disintegration? In: Maurizio Bach et al. (Eds.), Europe in Motion. Social Dynamics and Political Institutions in an Enlarging Europe. Berlin 2006.
3     Für eine detailierte Analyse siehe: Georg Vobruba, Die Dynamik Europas. Wiesbaden 2005.
4   Georg Vobruba, Gemeinschaft ohne Moral. Theorie und Empirie moralfreier Gemeinschaftskonstruktion.  Wien 1996, S. 185ff.
5     Kommission der Europäischen Union, Wider Europe-Neighbourhood: A New Framework for Relations with our Eastern and Southern Neighbours. Brussels 2000 [=COM (2003) 104 final.], S. 3.
6   Philippe Létourneau, Philippe Hébert, NATO Enlargement : Germany’s Euro Atlantic design, in : Charles- Philippe David, Jacques Lévesque (eds.), The Future of NATO Enlargement, Russia und European Security. Montreal 1999, S. 111.
7    Vgl. Sylke Nissen, Who Wants Enlargement of the EU? Support for Enlargement among Elites and Citizens, in: Czech Soziological Review, 6/2003, S. 759ff.
8     Der Westen scheint müde, wir sind frisch, in: Der Tagesspiegel, 11.3.2000.
9    Oscar J. Martínez (ed.), U.S.- Mexico Borderlands. Wilmington, Del. 1996. Paolo Cuttitta, Das Mittelmeeer als Wohlstandsgrenze. In: Monika Eigmüller, Georg Vobruba (Hg.), Grenzssoziologie. Wiesbaden 2006.
10  Cf. Laura Huntoon, Immigration to Spain: Implications for a United European Union Immigration Policy. In: International Migration Review, 4/1998, S. 431.
11  Natalia Canto i Mila, Die Grenze als Relation. In: Monika Eigmüller, Georg Vobruba (Hg.), Grenzsoziologie. Wiesbaden 2006.
12  Commission, Wider Europe, S. 11.
13   Idem., S.4.
14  Gundlegend: Stein Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa. Frankfurt 2000.- ergänzend: Mauizio Bach, The Euopeanization of Cleveages and the Emerence of a European Social Space. In: Journal of European Social Policy, Vol. 13, No. 1. Und meine skeptische Position: Georg Vobruba, Internal Dynamics and External Relations of the European Union. In: Maurizio Bach et al. (Eds.), Europe in Motion. Berlin 2006.
15  Cf. Stuard Croft er al., The Enlargement of Europe. Manchester 1999. S.81.
16  Beitrittsländer geben raschen Euro-Start auf, in: Financial Times Deutschland, 11.3.2004, S.16. Robert Read: Monetary Union und Eastward Expansion in the EU, in: Hilary Ingham (Eds.): EU  Expansion to the East. Prospects and Problems. Cheltenham 2002.
17  Art. I-41 und Art. I-44. Vgl. Georg Vobuba, Die Dynamik Europas. Wiesbaden 2006, S. 85f.
18 Mathias Bös, Kerstin Zimmer, Wenn Grenzen wandern. In: Monika Eigmüller, Georg Vobruba  (Hg.) Grenzssoziologie. Wiesbaden 2006.
 
 
 

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