Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 174: Die Grenzen Europas?

Den Schülern freiheit­liche Mores lehren

Johann G. Fichtes „neue National-Erziehung“ neu gelesen.

Aus: vorgänge Nr. 174, (Heft 2/2006), S. 139-141

Wenn wieder einmal ein Werkband eines berühmten Philosophen in großer und teurer Aufmachung herauskommt, so ist das normalerweise allenfalls in der Fachwelt eine Meldung wert. Nun aber ist der zehnte und letzte Band der Werke Johann Gottlieb Fichtes erschienen, der unter anderem die „Reden an die deutsche Nation“ aus dem Jahr 1808 enthält – und er hat es bis in das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung geschafft (SZ v. 11./12.2.2006, S. 16).

Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: Werke 1080-1812, hg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs u.a., Band 10 der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Stuttgart 2005, 497 S., ISBN 3-7728-2170-7, 291 Euro.

Der Rezensent Eberhard Straub empfiehlt darin der Jugend ausdrücklich, die „Reden“ zu lesen. Denn Fichte vertrete ein egalitäres und geradezu „jugendgefährdendes“ Erziehungsideal, ein „Recht auf freie Bildung und Bildung zur Freiheit“, das nicht an ökonomischer Verwertbarkeit, sondern an der selbständig denkenden, tatkräftig mitbestimmenden Persönlichkeit orientiert sei.
Man kann schon darüber streiten, ob die Akademieausgabe als solche für ein besonders egalitäres Bildungsideal spricht. Immerhin kostet der Ziegelstein schwere und Leinen gebundene Band 291 Euro und ist damit eher eine schön aufgemachte, gut eingeführte und akribisch kommentierte, mithin außerordentlich elitäre Angelegenheit für Bibliotheken und Bibliophile. Die Jugend könnte aber immer noch zur preiswerteren Taschenbuchausgabe des Meiner-Verlages greifen – wenn die Lektüre ihr denn tatsächlich zu empfehlen wäre. Gewiss ist der Hinweis berechtigt, dass Bildung mehr ist als nur die stromlinienförmige Ausrichtung junger Menschen auf die jeweils aktuellen Bedürfnisse des Arbeitsmarkts. Aber Fichte als Gewährsmann für die Bildung freier, eigenverantwortlicher Individuen anführen, kann nur, wer über lange und deutlich formulierte Passagen der „Reden“ großzügig hinweg zu lesen bereit ist.
Als Fichte seine Reden an die Deutschen in den Jahren 1807 und 1808 in Berlin hielt, hatte das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“ gerade aufgehört zu existieren. Die deutschen Staaten standen unter napoleonischer Besatzung. Fichte wollte mit seinen Reden die Deutschen aufrütteln, sich nicht in die Besatzungssituation zu fügen, sondern ihre nationale Einheit und Selbstbestimmung wieder zu gewinnen. Sein Rezept: Es müsse eine völlig neue Ordnung der Dinge her, die nur durch eine „neue National-Erziehung“ geschaffen werden könne. Wahr ist, dass Fichte dabei ein vergleichsweise egalitäres Bildungsideal verficht: Die „neue National-Erziehung“ ist als Elementarerziehung für Kinder aus allen gesellschaftlichen Ständen gedacht  – sogar für Mädchen. Wahr ist auch, dass Fichte diese Erziehung nicht an beruflichen Notwendigkeiten orientiert wissen möchte. Sie soll die geistigen Fähigkeiten der Zöglinge wecken, in ihnen eine Liebe und Leidenschaft für das sittlich Gute entfachen und einen festen Willen und Charakter in ihnen formen. Der „ganze Mensch“ soll gebildet sein, er soll zur Freiheit befähigt werden und Verantwortung für das Gemeinwesen übernehmen.
Diese Beschwörung der Freiheit lässt sich aber schwer mit dem Umstand vereinbaren, dass Fichte die „neue National-Erziehung“ in quasi geschlossenen Anstalten stattfinden lassen will. In denen zudem ein strenges Regiment herrschen soll, das den Zöglingen unter Androhung von Strafe klare Regeln vorgibt und ihnen ausdrücklich keinen individuellen Freiraum lässt. Die jungen Menschen sollen also zunächst einmal lernen, sich in die ideale Ordnung der Erziehungsanstalt einzufügen, um deren Regeln schließlich so zu verinnerlichen, dass sie sich die Ordnung der Welt gar nicht mehr anders vorstellen können. Aufmerksamen Leser/innen schwant hier schon: Es geht Fichte gar nicht darum, individuelle Charaktere zu formen und einen freien Willen in dem Sinne zu ermöglichen, dass die jungen Menschen sich eigene Gedanken machen und eigenen Urteile bilden könnten. In der zweiten Rede schreibt er: „Dagegen würde die neue Erziehung gerade darin bestehen müssen, daß sie auf dem Boden, dessen Bearbeitung sie übernähme, die Freiheit des Willens gänzlich vernichtete, und dagegen strenge Notwendigkeit der Entschließungen, und die Unmöglichkeit des entgegengesetzten in dem Willen hervorbrachte, auf welchen Willen man nunmehr sicher rechnen und auf ihn sich verlassen könnte“ (S. 118). Wozu schon im Jahr 1808 ein Rezensent zu sagen wusste: „Rec. braucht nicht zu erinnern, denn jeder sieht es, dass so etwas nicht mehr Entschließungen genannt werden könnte“ (zitiert nach der Einführung, S. 73).
Fichte geht von einem unveränderlichen Sittengesetz aus, das die Menschheit in ihrer geschichtlichen Entwicklung stufenweise verwirklicht. Ziel der Erziehung ist für ihn folgerichtig nicht das eigenverantwortliche Denken und Entscheiden, sondern die Einsicht in das sittlich Notwendige. Freiheit bedeutet nicht, Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu haben, sondern sich dem ewigen Sittengesetz zu unterwerfen. Der freie Mensch ist damit letzten Endes in seinen Entscheidungen und Handlungen determiniert: Er kann gar nicht mehr anders, als nach den Regeln des Sittengesetzes zu denken, zu wollen und zu handeln.
Konsequent weitergedacht, führt die „neue National-Erziehung“ zu einer Gesellschaft ohne Konflikte, in der jede/r von sich aus stets „das Richtige“ tut. Wie dabei Individualität, die ja erst durch Unterschiede und Abweichungen zustande kommt, gefördert werden soll, bleibt ein Rätsel. Dass auf diese Weise gar demokratische Staatsbürger/innen herangezogen werden könnten, lässt sich beim besten Willen nicht vorstellen, denn Demokratie bedeutet auch, Interessenkonflikte zu artikulieren und verantwortlich mit ihnen umzugehen. Fichtes Freiheit ist nicht die Freiheit des Grundgesetzes und nicht die Freiheit eines Bildungsideals, das auf Eigenständigkeit und Verantwortung zielt. Es wundert daher nicht, dass Fichte sich mit harschen Worten gegen eine „weichliche Führung der Zügel des Staates“ wendet, „die mit ausländischen Worten sich Humanität, Liberalität und Popularität nennt, die aber richtiger in deutscher Sprache Schlaffheit und Betragen ohne Würde zu nennen ist“ (S. 109).
Hier klingt schon an, was die „Reden“ noch um ein Weiteres fragwürdiger macht: Die „neue National-Erziehung“ soll nur den Deutschen zugute kommen, nicht etwa allen Menschen. Es ist nachvollziehbar, dass Fichte in einer Situation, in der Deutschland als Nation untergegangen schien, an die nationalen Gefühle seiner Landsleute appelliert. Dennoch überhöht er sowohl die Nation als auch speziell die Deutschen in einer Weise, die heute gefährlich erscheinen muss und die im 19. und 20. Jahrhundert von Vertretern des autoritären Nationalismus in Deutschland dankbar aufgegriffen wurde. Die Deutschen, so Fichte, seien in besonderer Weise geeignet, nicht nur sich selbst, sondern auch alle anderen Völker zur „Freiheit“ (in Fichtes Sinne) zu führen. Denn sie seien anders als andere Völker ihren Ursprüngen treu geblieben, insbesondere hätten sie ihre germanische Sprache (anders als die Franzosen) gegen den Einfluss der römischen Besatzer bewahrt. Sie, und nur sie könnten daher die Dinge mit dem nötigen Ernst und mit der erforderlichen Tiefe angehen, während die „Erscheinungen der Ausländerei“ (S. 183) bzw. „der ertönende Geist des Auslandes“ (S. 190) stets oberflächlich blieben und auf die Deutschen nur schlechten Einfluss hätten.

Nur die Deutschen haben für Fichte deswegen auch einen „Nationalcharakter“ (S. 201), was immer dies auch sein möge, und finden in Volk und Vaterland „irdische Ewigkeit“ (S. 203), soll heißen: Lebt der Mensch nur sein Leben, so ist er vergänglich, und sein Dasein ist nichtig. Sinn und Wert erhält das Leben nur, wenn der Mensch sich als Teil einer ewigen Kette geistigen Lebens begreifen kann, und diese Ewigkeit wird ihm durch den Fortbestand seiner Nation garantiert. Um diese zu retten, muss der Mensch bereit sein zu sterben – die Nation muss ihm aber umgekehrt nichts dafür bieten. Denn nicht einmal die „neue National-Erziehung“ ist für die Menschen da, sondern die Menschen sollen mit ihrer Hilfe zu willigen Werkzeugen der sittlichen Weltordnung werden: „Daß er [der Zögling] um seiner Erhaltung und seines Wohlseyns willen im Leben sich regen und bewegen könne, muß er gar nicht hören…“ (S. 127).
Soll die heutige Jugend für diese Gedanken tatsächlich ihren „Harry Potter“ weglegen und sich in die geschraubten Formulierungen eines Bildungsbürgers aus dem neunzehnten Jahrhundert einlesen? Gibt es keine besseren Vorbilder für ein nicht allein an Nützlichkeit orientiertes Bildungsideal? Oder, um noch eine Rezension aus dem Jahr 1808 zu zitieren: „Dies also wäre die Morgenröte der neuen Welt, die schon angebrochen ist und die Spitzen der Berge vergoldet? – Armes Deutschland!“ (zitiert nach der Einführung, S. 78).

nach oben