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Zur Demokra­ti­sie­rung der Europä­i­schen Union

aus: vorgänge Nr.174, (Heft 2/2006), S.12-19

Der europäische Verfassungsvertrag ist fürs Erste an den gesellschaftlichen Widerständen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Weshalb sind die Referenden gescheitert? Hat damit die Europäische Integration ihren Zenit überschritten und steht uns gar eine Renationalisierung bevor? In diesem thesenartigen Forumsbeitrag möchte ich argumentieren, dass das Scheitern des Verfassungsvertrags als Ausdruck einer Politisierung der Europäischen Union gesehen werden kann, als deren Resultat politische Prozesse jenseits des Nationalstaates nicht mehr mit den üblichen Effektivitätsmaßstäben zwischenstaatlicher Politik, sondern mit Ansprüchen einer guten politischen Ordnung konfrontiert werden. Demgegenüber meinen die Regierungen der Mitgliedsländer immer noch, europäische und internationale Politikprozesse gegenüber der nationalen Öffentlichkeit in traditioneller Form darstellen zu können. Das ist allerdings zum Scheitern verurteilt. So gesehen ist die Zukunft des europäischen Projektes ergebnisoffen. Wir stehen vor einer Weggabelung. Entweder gelingt es den neuen Bewertungsansprüchen an europäische Politik zu genügen oder eine Renationalisierung der europäischen Politik wird wahrscheinlich.

I.
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa war kein großer Wurf. Die vorgesehenen Verfahren und Abstimmungsregeln strahlen nicht die Eleganz einfacher, großer Verfassungen aus. Dennoch: Im Vergleich zum status quo hätte der Verfassungsvertrag für die Wahlbevölkerungen in den Mitgliedsstaaten ein höheres Maß an Übersichtlichkeit und Transparenz erbracht (Wessels 2005); manche sprachen gar von den Konturen eines europäischen Konstitutionalismus (Wiener 2005). Die Rolle der Bürgerinnen und Bürger in den politischen Prozessen wäre explizit anerkannt worden (Piazolo 2005), weshalb auch von einem Fortschritt für die demokratische Legitimation in der EU gesprochen wurde (Liebert 2005). Der avisierte europäische Außenminister ließ zudem Hoffnungen auf eine besser koordinierte und effektivere europäische Außenpolitik aufkommen (Regelsberger 2005; Diedrichs/Jopp 2005). Dass was die Wahlbevölkerungen an der EU kritisieren, wäre also im Falle der Ratifikation gemildert worden. Dennoch ist der Vertrag bei den Referenden in den Niederlanden und in Frankreich trotz starker und parteiübergreifender Unterstützung der politischen Klasse und der Parteien an der nationalen Wahlbevölkerung gescheitert. Und dies obgleich die politische Klasse, die mittels des Vertragsentwurfs stärker kontrolliert worden wäre, den Vertrag unterstützte. Gemessen an den parlamentarischen Kräfteverhältnissen war dem Vertragsentwurf in den Niederlanden eine Unterstützung von gut 80 Prozent sicher, in der Volksabstimmung ergaben sich aber nur 39 Prozent Zustimmung. In Frankreich stellten sich die Kräfteverhältnisse ähnlich dar. Zugespitzt kann man sagen, die Bevölkerung hat gegen die politische Klasse gemeutert – und zwar entgegen der eigenen kurzfristigen Interessenlage.. Der europäische Verfassungsvertrag ist an den Überzeugungen der Gesellschaft(en) gescheitert, nicht aber an politischen Interessenkonflikten (vgl. Hooghe 2003).

  1. Wie konnte es zu dieser paradoxen Lage kommen? Die Geschichte der EU ist mit unterschiedlichen theoretischen Vorzeichen schon vielfach nachgezeichnet worden. In der funktionalistischen Theorietradition wird im Kern die Entwicklung EU als Funktion einer wachsenden Divergenz der Europäisierung der ökonomischen Problemlagen und dem Verbleib der politischen Autorität auf der nationalen Ebene gesehen (Haas 1964; Schmitter 1979). In neueren Versionen der intergouvernementalistischen Theorietradition ist die Entwicklung der EU eine Funktion von distributiven Verhandlungen zwischen Regierungen, die primär von ökonomischen Interessen bestimmt werden (Milward 1992; Moravcsik 1998). Die Differenzen zwischen diesen beiden Theorietraditionen sind intensiv diskutiert worden. Dabei wurden einige wesentliche Gemeinsamkeiten übersehen. Zum einen gehen beide Traditionen davon aus, dass die europäische Integration einen vergleichsweise elitenorientierten und öffentlichkeitsfernen Prozess darstellt, der von ökonomischen Notwendigkeiten und Wirtschaftsinteressen bestimmt wird. Ganz gleich ob die Triebkräfte dieser Entwicklung über nationale politische Systeme (so der Intergouvermentalismus) oder in Form von trans- und supranationalen Koalitionen (so der Funktionalismus) zum Zuge kommen, es herrscht zum zweiten Einigkeit darüber, dass die EU supranationale Komponenten aufweist, die die traditionelle nationalstaatliche Souveränität transformieren. So sind erhebliche Entscheidungskompetenzen v.a. im Zuge der Einheitlichen Europäischen Akte und des Maastricht Vertrags an die Kommission und den Europäischen Gerichtshof delegiert worden. Insbesondere der EuGH hat zudem seine ihm zugewiesenen Handlungsspielräume immer wieder sehr geschickt zum Zwecke der eigenen  Kompetenzausweitung genutzt (vgl. Alter 2003). Darüber hinaus impliziert die Anwendung des Mehrheitsprinzips die permanente Möglichkeit, dass Entscheidungen von einem Staat gegen seinen Willen umgesetzt werden müssen.1 Es liegt vor diesem Hintergrund nahe, der europäischen Mehrebenenpolitik einen Status als politisches System zuzuweisen, in der die unterschiedlichen politischen Ebenen eben nur noch im Zusammenspiel effektiv sein können (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 2003).
    Mit dieser Ablösung rein zwischenstaatlicher Kooperationsformen durch supranationale Regelungsarrangements und der Entstehung eines europäischen Mehrebenensystems ist das traditionelle Konsensprinzip internationaler Politik ausgehebelt worden. Das kann nicht folgenlos bleiben. Es führt gleichsam als nicht- intendierte Nebenfolge zur Politisierung der EU und damit zu einer Pluralisierung der Akteure und Positionen in originär internationalen Fragen. Die Elitenorientierung der EU löst sich auf. Europa gerät zunehmend in das Interesse der Öffentlichkeiten, womit sich auch die primär ökonomische Ausrichtung relativiert. Dieser Prozess erscheint vergleichbar mit der Politisierung nationalen Regierens in Europa und Nordamerika im Laufe des 19. Jahrhunderts.2
    Im Ergebnis, so die These, wird die EU anhand der Kriterien einer normativ anspruchsvollen politischen Ordnung bemessen und gerät unter Legitimationsdruck. In dem Maße, in dem die Gesellschaft und die politischen Akteure beginnen, die supranationale Kraft der EU zu begreifen, werden sie Fragen nach der richtigen, guten politischen Ordnung jenseits der Grenzen des Nationalstaates transportieren und die skizzierten Veränderungen in Frage stellen bzw. neue und normativ gehaltvolle Forderungen an eine entstehende politische Ordnung stellen. Die mit neuen Einflussmöglichkeiten ausgestatteten Institutionen erhalten also von einer wachsenden Zahl gesellschaftlicher Akteure subjektiv mehr Relevanz zugesprochen. Insofern dann mit halbherzigen Reformbemühungen wie etwa dem Verfassungsentwurf reagiert wird, verstärken sich nur die Ansprüche einer demokratischen Legitimation, so dass in der Folge Widerstände erwachsen, deren Erscheinungsformen von mangelnder Folgebereitschaft oder einer kritischen Thematisierung in der Öffentlichkeit bis hin zu gewaltsamen Protesten reichen können.
    Die Logik der Politik jenseits des Nationalstaates verändert sich in diesem Prozess. Statt der der Logik effektiven Problemlösung beginnt die Logik des legitimen Regierens zu greifen. Die Logik der effektiven Problemlösung bezieht sich auf die nationalstaatliche Außenpolitik und basiert auf solchen Bewertungskriterien wie politische Klugheit und nationales Interesse. Die Logik des legitimen Regierens bezieht sich demgegenüber auf eine neue politische Ordnung jenseits des Nationalstaates und folgt den Kriterien einer guten politischen Ordnung: Effektivität ist zwar gleichfalls gefordert, sie kann aber Fairness und Legitimität nicht ersetzen. Damit verlieren territoriale Grenzen ihre normative Dignität und grenzüberschreitende Konzeptionen von Politik entfalten sich. Es zeigt sich eine Reflexivität der Prozesse im Sinne einer reflektierten Rückkopplung durch die normative Aufladung der Institutionen (vgl. Beck/Giddens/Lash 1996).
    Im Endeffekt, so die weitergehende Erwartung, bleibt möglicherweise nur der Weg der erneuten institutionellen Anpassung an die artikulierten Ansprüche, insbesondere die weitere Öffnung der Verfahren für gesellschaftliche Akteure (Demokratisierung) oder eben eine Rückkehr zu einer Autonomieschonenden, den Intergouvernementalismus betonenden Variante der EU. Eine weitere Demokratisierung der EU ist freilich weit mehr als nur ein institutionelles Reformprojekt. Es setzt zudem seitens der politischen Entscheidungsträger und der öffentlichen Meinungsträger die Bereitschaft voraus, sowohl die breiten nationalen Öffentlichkeiten sowie die europaweiten sektoralen Öffentlichkeiten an Fragen der europäischen Politik verantwortungsvoll heranzuführen. Falls ein solches Projekt „Mehr Demokratie in Europa wagen“ auf absehbare Zeit nicht gelingen kann (so u.a. Scharpf 1999), besteht mittelfristig die reale Gefahr einer Rückabwicklung der supranationalen Elemente der EU. Die Fähigkeit der EU, bestimmte Politiken und Entscheidungen widerstrebenden nationalen Regierungen und Wahlbevölkerungen „aufzuherrschen“ ist im derzeitigen Stadium so ausgeprägt, dass ohne eine ausreichende demokratische Legitimation Akzeptanz- und Befolgungsprobleme weiter zunehmen könnten. Insofern scheint die EU an einer Weggabelung zu stehen. Welche Zwischenformen wie etwa das Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, der differenzierten Direktiven (Scharpf 2002) oder die Ausweitung der Open Method of Coordination auf jetzt supranationalisierte Regelungsbereiche sich in diesem Prozess entwickeln können, scheint mir gleichfalls offen zu sein. Insofern befinden wir uns in einer formativen Phase.

III.
Das skizzierte Erklärungsmodell erfordert eine soziologische Öffnung der Theorien zur Europäischen Integration. Aus der Sicht dieses Modells ist die EU nicht mehr nur ein elitengesteuerter Prozess des Umgangs mit ökonomischen Notwendigkeiten und Interessen. Die Analyse der EU bedarf einer verstärkten Berücksichtigung von Normdynamiken und Pfadabhängigkeiten, der Bedeutung nicht-staatlicher Akteure und der Rolle sozialer Anerkennungs- und Legitimationsprozesse. Es geht theoretisch um den Versuch, eine Form des historischen Institutionalismus für die Analyse der Europäischen Integration ins Auge zu fassen, der Macht und Interessen der beteiligten Regierungen als struktur- und normsetzende Instanzen sowie funktionale Notwendigkeiten Ernst nimmt, gleichzeitig für die Eigendynamik von Normen und gesellschaftlichen Akteuren offen ist und nicht zuletzt auf das Zusammenspiel von Struktur und Akteur abhebt.
Die Forschungen, die sich mit einer solchen Programmatik verbinden, liegen weder vor noch könnten sie hier in der Breite entfaltet werden. Jedenfalls scheinen mir aber einige auf der gesellschaftlichen Ebene ansetzenden Beobachtungen kompatibel mit einer solchen Interpretation der Dinge zu sein. Zum einen lassen sich Indizien für eine wachsende Wahrnehmung der Bedeutung der EU anführen. Zum anderen scheint die Wahrnehmung der EU als eigenständige politische Ordnung und die damit verbundenen nationalen Souveränitätsverluste nicht zu einer unmittelbaren Ablehnung der EU zu führen. Im Gegenteil: Im Vordergrund scheinen Forderungen nach einer angemessenen Gestaltung dieser Ordnung zu stehen.
Sowohl auf der Ebene gesellschaftlicher Eliten wie breiterer Bevölkerungsschichten weisen Umfragen auf die zunehmende Bedeutung internationaler Institutionen hin. So belegen etwa die Eurobarometerumfragen, dass die europäischen Institutionen als immer wichtiger wahrgenommen werden und die Bürger dabei sehr wohl zwischen den einzelnen Institutionen differenzieren können. Ähnliches erbringt eine Analyse der Wahlprogramme aller Parteien in den europäischen Ländern. Das Thema der EU nimmt in den Wahlprogrammen mit durchschnittlich 4 Prozent Raum zwar einen Wert an, der verglichen mit der realen Bedeutung als gering eingestuft werden muss (Volkens 2006: 274). Andererseits haben wir heutzutage in allen Mitgliedsländern inklusive der neuen Mitglieder in Mittel- und Osteuropa eine Thematisierung der EU in nahezu allen Wahlprogrammen. Dabei zeigt sich im Zeitvergleich eine deutliche Bedeutungszunahme der EU, die in den alten Mitgliedsstaaten v.a. in den 90er Jahren stattfindet (Volkens 2006: 262). Ein Blick auf die Aktivitäten von Interessengruppen zeitigt ein ähnliches Bild. Die Bedeutung die Interessengruppen der Europäischen Union zumessen ist bemerkenswert hoch, wenn man es an Repräsentanzen in Brüssel, originär europäischen Interessengruppen und realen Aktivitäten vor Ort misst (Aspinwell/Greenwood 1998: 3-4), obgleich es erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Typen von Interessengruppen gibt (vgl. Walter/Zürn 2005). Die entsprechenden Befunde über die wachsenden Aktivitäten und die relevanten „cleavages“ decken sich mit den Positionen, die Parteien in Europa einnehmen (vgl. Marks/Steenbergen 2004). Insgesamt zeigt sich also, dass die professionelle Exklusivität von Entscheidungsprozessen auf europäischer Ebene seit den 90er Jahren deutlich abgenommen hat. Die EU ist im Bewusstsein der Interessengruppen, der Parteien und der Öffentlichkeit angelangt.
Stark europäisierte nationale Öffentlichkeiten – d.h. solche, die europäische Politiken intensiv verhandeln – bedeuten aber in Abwesenheit einer europäischen Öffentlichkeit — die sich durch grenzüberschreitende Kommunikation auszeichnet — eine Gefahr für die Akzeptanz für die europäische Integration (Zürn/Joerges 2005).3 Und eine neuere empirische Studie zeigt tatsächlich, dass das Ausmaß der Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten recht deutlich zunimmt und sich zwischen 1980 und heute durchweg vervielfacht hat, während der grenzüberschreitende diskursive Austausch in den letzten Jahren sogar eher abgenommen hat (vgl. Peters et al. 2005: 146-47). Mit der Zunahme der Supranationalisierung nimmt also generell die Entkoppelung von effektiver Regelung auf der europäischen und der demokratischen Prozesse auf der nationalen Ebene zu. In dieser Entkoppelung liegt der Kern des sozialen Widerstandes, der seit den 1990er Jahren deutlich zugenommen hat (Tarrow 2005). Dieser Zusammenhang unterstützt auf empirischer Ebene, die von Habermas (1994) betonte Gleichursprünglichkeit von Recht und Demokratie.
Die Wahrnehmung der realen Bedeutung der EU und die damit verbundene Entkopplung von effektiver Regelung und demokratischer Legitimation führen aber nicht einfach nur zu einer Ablehnung der EU und zu wachsendem Widerstand. Die Umfragedaten zeigen in großer Einträchtigkeit, dass der Wunsch nach einer anders verfassten EU, einer demokratischeren EU deutlich ausgeprägter ist als der Wunsch nach einer Zurechtstutzung. Im Frühjahr 2004 gaben in den alten und neuen Mitgliedsstaaten jeweils 63 Prozent an, dass sie eine EU-Verfassung unterstützen. Nur 16 in den alten bzw. 17 Prozent in den neuen Mitgliedsstaaten sprachen sich dagegen aus. Kurz vor der Einigung der Staats- und Regierungschefs auf den Verfassungsvertrag und somit bevor sie den Inhalt des Verfassungsvertrages wirklich kannten, sprach sich noch eine eindeutige Mehrheit für eine EU-Verfassung aus. Dementsprechend geht auch eine klare Mehrheit der Befragten davon aus, dass die Bürgerinnen und Bürger den größten Einfluss auf Entscheidungen in der EU haben sollten (40 Prozent der alten Mitgliedsstaaten und 42 Prozent der neuen Mitgliedsstaaten, während die entsprechenden Ziffern für das Europäische Parlament (18/24 Prozent) und insbesondere die nationalen Regierungen (15/12) sowie die Kommission (6/5) deutlich niedriger lag.4
Es spricht also sehr viel dafür, dass sich der Widerstand, der sich in den Referenden zeigte, sich nicht gegen den Gedanken einer demokratischen EU-Verfassung richtete, sondern gegen den konkret ausgehandelten Verfassungsvertrag, der ohne nennenswerte Beteiligung der europäischen Öffentlichkeiten zustande kam. Politische Ordnung jenseits des Nationalstaates wird keinesfalls per se abgelehnt. Im Gegenteil sie wird als erforderlich angesehen und daher auch gewünscht. Das neue europäische Mehrebenensystem wird aber an den normativen Kriterien und mit den Maßstäben gemessen wie die nationalen politischen Ordnungen. Und das gilt nicht nur für die legitime Gestaltung der innereuropäischen Politik, sondern auch für die effektive Vertretung der Interessen gegenüber der Außenwelt. Das hohe Maß an Skepsis gegenüber dem europäischen Verfassungsvertrag, das sich von Anfang an europaweit zeigte und in den beiden negativen Referenden in den Niederlanden und in Frankreich kulminierte, richtet sich also gegen den spezifischen Vertrag. Es richtet sich nicht gegen die Idee einer guten europäischen Verfassung.
Die These scheint sich zu bestätigen: Die EU wird im Zuge ihrer Supranationalisierung von den Wahlbevölkerungen zunehmend politisiert. Im Ergebnis lässt sich die EU nicht mehr als öffentlichkeitsfernes Verfahren zur Erhöhung der ökonomischen Effizienz und zum Abgleich der ökonomischen Interessen rechtfertigen. Die Bewertungsmaßstäbe verändern sich. An die EU  werden nun die normativen Maßstäbe einer guten politischen Ordnung angelegt. Die kann die gegenwärtige institutionelle Hybridkonstruktion aber nicht erfüllen. Insofern wächst der Widerstand gegen einen weiteren Ausbau der EU ohne grundlegende Demokratisierung an.

IV.
Dabei handelt es sich allerdings nicht nur um einen in der Struktur angelegten Entkoppelungsprozess. Es sind in der Tat zentrale politische Akteure, die sich die Entkopplung opportunistisch zu Nutzen machen und damit erst enttäuschte Erwartungen und Akzeptanzprobleme provozieren. Grundsätzlich ist es nur selten zielführend, falsche Erwartungen zu wecken. Genau diesen Fehler machen aber führende Politiker im Zeitalter der Globalisierung und Europäisierung. Hier ist eine neue Verantwortungskultur bei der Gestaltung öffentlicher Debatten notwendig. Es lassen sich mindestens zwei Formen des opportunistischen Missbrauchs unterscheiden.
1. Leugnung der Sachlage: Globalisierung und Europäisierung sind zentrale Schlagwörter in der politischen Debatte. Ganze Serien werden in angesehenen Blättern dazu geschrieben; keine Debatte über Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik, oder auch Sozial-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik ohne auf den Umstand der Globalisierung zu verweisen. Dies verweist zu Recht darauf, dass Nationalstaaten längst nicht mehr autonom sind. Es bestehen massive externe Anforderungen an alle diese Politiken (Kauls 2006) – und zwar nicht nur in Form des berühmten Standortwettbewerbs, sondern eben auch in Form von schwer beeinflussbaren Externalitäten durch die Entscheidung anderer  und insbesondere auf europäischer Ebene durch erhebliche regulative Anforderungen. So haben in einigen Politikbereichen politische Gesetze und Regulierungen in fast 50% der Fälle ihren Ursprung außerhalb der Institutionen eines Landes.
Dementsprechend spielen europäische und internationale Themen inzwischen eine signifikante Rolle in der öffentlichen Berichterstattung, die in den letzten 25 Jahren deutliche zugenommen hat. In der Qualitätspresse liegt der Anteil von Artikeln, die auf Europäische Institutionen verweisen zwischen knapp 25 Prozent (Politiken) und knapp 45 Prozent (Le Monde). Die Anteil der EU als primärer Gegenstand eines Artikels liegt bei knapp 10 Prozent.
Nachdem der Wahlkampf im Frühsommer letzten Jahres ausgerufen worden war, verschwand jedoch die Globalisierung und auch die Europäische Union aus der Begriffswelt der politischen Auseinandersetzung. Jetzt ging es darum zu zeigen, dass man alles im Griff hat. Entscheidungsfähigkeit und Entscheidungsfreudigkeit galt es zu demonstrieren. Da stören Verweise auf äußere Restriktionen. Dementsprechend sinkt der Anteil der Verweise auf die Rolle europäischer Institutionen in der Normalberichterstattung von ca. 20 Prozent auf 4 Prozent Verweise in den Wahlkampfplattformen (vgl. Volkens 2006). Im Ergebnis wird Allkompetenz und Allmacht der nationalen Politik suggeriert. Das weckt falsche Erwartungen, die zum Preis des Vertrauensverlustes nur enttäuscht werden können.
2. Verantwortungsverschiebung: Politische Mehrebenensysteme bieten im Falle einer unzureichenden Transparenz der oberen Ebene, den exekutiven Vertretern der Mitgliedsländern die Möglichkeit, credit-claiming und blame-shifting zu betreiben (Moravcsik 1994; Zürn 1996; Wolf 2000). In schwierigen Zeiten scheint blame-shifting besonders beliebt zu sein. Der Präsident Frankreichs, Jacques Chirac, ist ein gutes Beispiel hierfür. Er hat in großer Regelmäßigkeit und mit viel Verve, immer wieder die Verfehlungen der EU und insbesondere der Kommission angeklagt. Zumindest implizit diente die EU aus seiner Sicht sehr gut als Schuldiger für Fehlentwicklungen. In der Tat: Hier wurden äußere Restriktionen als Grund für Fehlentwicklungen eingebracht. Alles Gute kommt hingegen von der nationalen Politik. Eine solche Rhetorik bleibt aber nicht ohne Folgen. Als der Präsident Frankreichs einige Monate vor der Abstimmung über die Europäische Verfassung merkte, dass es knapp wird, sprang er in die Bütt und hielt Laudationes auf die EU. Zu spät. Die EU war bereits nachhaltig beschädigt. Die Verfassung scheiterte an einem schlechten Erwartungsmanagement.

V.
Das Scheitern des Verfassungsvertrags kann als Ausdruck einer Politisierung der Europäischen Union gesehen werden. In dem Maße, wie politische Prozesse jenseits des Nationalstaates nicht mehr mit den üblichen Maßstäben zwischenstaatlicher Politik, sondern mit Ansprüchen einer guten politischen Ordnung konfrontiert werden, ist der instrumentelle Umgang der politischen Klasse mit der EU zum Scheitern verurteilt. Entweder gelingt es also den neuen Bewertungsansprüchen an europäische Politik zu genügen oder eine Renationalisierung der europäischen Politik wird wahrscheinlich. Es sind vermutlich drei Bereiche, in denen die Ansprüche an eine gute Ordnung besonders dringlich sind.
Zum einen brauchen wir offene und ehrliche Debatten über die Möglichkeiten und Grenzen nationaler Regierungen im Zeitalter politischer Mehrebenensysteme. Wir brauchen öffentliche Debatten, die dem Eingebettetsein der Nationalstaaten in einer neuen komplexeren Staatlichkeit gerecht werden. Nicht gebraucht werden hingegen weder nationale Regierungschefs, die Allmachtsphantasien vermitteln, noch solche die für alles Schlechte die Außenwelt verantwortlich machen. Eine neue Verantwortungskultur bei der Gestaltung öffentlicher Debatten ist notwendig. Sonst werden falsche Erwartungen mit fatalen Folgen für die Zukunft der Demokratie geweckt. Das gilt natürlich vorrangig für eine offene Verfassungsdebatte, die freilich auch europaweit geführt werden muss. Erst am Ende eines solchen Prozesses kann ein Referendum stehen, dass dann allerdings auch einer europaweiten Abstimmung bedarf. Die Träger einer solchen neuen Kultur müssen die Medien und die Politiker gleichermaßen sein.
Zum anderen besteht die Erwartung an eine gute politische Ordnung, dass sie es ermöglicht, die Interessen des Gemeinwesens nach Außen wirksam zu vertreten. Eine europäische Außenpolitik, die immer wieder mit dem Vorwurf der kompletten Ineffektivität konfrontiert werden kann, stellt insofern auch ein Problem für die Akzeptanz der EU dar. Es soll hier keinesfalls bestritten werden, dass in einer globalisierten Welt eine stärkere Integration im außenpolitischen Bereich in der Sache geboten ist. Darüber hinaus ist sie aber auch für die Anerkennung der EU als Teil einer guten politischen Mehrebenenordnung von zentraler Bedeutung. In dem Maße, wie die EU politisiert wird, steigen auch die Anforderungen an die Außenperformanz. Ein intergouvernmentaler Zusammenschluss erfordert keine effektive Außenvertretung, eine politisiertes Institutionensystem, das mit den Kriterien einer guten Ordnung bemessen wird, aber schon. 
 Der Text erscheint zeitgleich in der Zeitschrift „Politische Vierteljahresschrift“. Wir danken dem  VS-Verlag und der Redaktion für die freundliche Überlassung.

1.   Moravcsik (1998: 67) spricht in diesem Zusammenhang von „delegated“ und „pooled“ Souveränität
2   Im diesem Abschnitt wende ich eine Erklärungsperspektive auf die EU an, die im Rahmen eines Forschungsprogramms der Abteilung „Transnationale Konflikte und Institutionen“ am Wissenschaftszentrum Berlin in allgemeinerer Form  mit Blick auf Entwicklungen der Politik jenseits des Nationalstaates entwickelt wurde (vgl. Zürn/Binder/Ecker /Radtke 2006).
3   Dieser Befund verweist darauf, dass europäisierte Öffentlichkeiten nicht nur als eine empirische Vorstufe zur europäisierten Öffentlichkeit gedeutet werden kann. Aus europäisierten Öffentlichkeiten in Abwesenheiten einer europäischen Öffentlichkeit ergeben sich vielmehr spezifische Strukturprobleme. Vgl. Gerhards (1992) für die Unterscheidung zwischen europäisierten Öffentlichkeiten und europäischer Öffentlichkeit.
4    Vgl. zu den Daten in diesem Abschnitt (Niedermayer 2005).
  
 

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