Ökologischer Ordoliberalismus
Zur Legitimität staatlichen Handelns für die Umwelt
Aus: vorgänge 179 (Heft 3/2007), S. 4-12
Problemstellung
Die Verfassung des deutschen Grundgesetzes schützt in erster Linie die Freiheit der Lebenden, indem sie lebenden Personen Rechte einräumt, deren Einschränkung, nicht aber deren Ausübung begründungspflichtig ist. Rechte sind etwas, auf das der Einzelne „pochen“ kann, wenn Kollektive bestimmte Ziele verfolgen, um derentwillen Rechte eingeschränkt werden sollen. Rechte sind insofern „Trümpfe“ (Ronald Dworkin), die der Einzelne gegen Staat und Gesellschaft in Händen hält. Weiterhin ist die Ausübung von Rechten nicht generell, wie der Volksmund glaubt („Wo es Rechte gibt, da gibt es auch Pflichten“), für den Rechtsträger mit direkten Verpflichtungen verknüpft. Zwar wird in den Grundgesetzkommentaren bei der Explikation dessen, was der Begriff der Menschenwürde bedeutet, auf kantische Vorstellungen rekurriert, wonach die Würde in der Befähigung zur Moralität liege; die Interpretation des Rechtes auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit legt demgegenüber ein eher liberalistisches Freiheitsverständnis zugrunde, wonach die Entfaltung der Persönlichkeit zunächst bedeutet, unter Beachtung der Rechte anderer und im Rahmen der Rechtsordnung tun zu können, was einem beliebt. Der Verweis auf das „Sittengesetz“ in Art 2 (1) GG ist interpretatorisch strittig. Die staatliche Ordnung ist neutral gegenüber unterschiedlichen Vorstellungen des guten Lebens und gegenüber kulturellen und religiösen Werten, wobei es natürlich viele Konfliktfälle zwischen Rechtsordnung und kulturellen bzw. religiösen Werten geben kann, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden.
Die Pluralität der Lebensstile wird in einer freiheitlichen Ordnung nicht nur geduldet, sondern begrüßt. Unbestreitbar ist allerdings, dass die allgemeine Rechtsordnung eine gewisse Schrankenwirkung gegenüber der Entfaltung der Persönlichkeit entfalten darf. Die BürgerInnen dürfen daher auch durch umwelt- und naturschutzrechtliche Bestimmungen in ihren Verhaltensspielräumen eingeschränkt werden (etwa Betretungsverbote von Naturschutzgebieten oder Wegegebote in Nationalparks). Weiterhin ist es durch Veränderungen in der Rechtsordnung, wie etwa im Steuer- und Abgabenrecht, durchaus möglich, Anreize für bestimmte Verhaltensänderungen zu setzen (ähnlich wie es legitime Anreize im Rahmen einer pronatalistischen Bevölkerungspolitik geben
kann). Die Neutralität des Staates gegenüber Lebensstilen schließt es allerdings aus, dass von staatlicher Seite eine Lebensweise verordnet oder stark begünstigt wird, die auf Vorstellungen von ökologischer Suffizienz und „voluntary simplicity“ beruht. Zwar gibt es gute philosophische Gründe für einen solchen Lebensstil und für eine deutliche Absage an naiv hedonistischen, karrieristischen und konsumistischen Lebensstilen (Ott & Döring 2007), aber diese Gründe spielen auf einer Diskursebene, aus der sich der Staat zurück gezogen hat.
Dies impliziert allerdings keineswegs, dass der Staat sich auf sog. „Kernaufgaben“ zurückziehen und alles Übrige den rationalen Wirtschaftssubjekten und ihren Abmachungen überlassen sollte. Ein freiheitliches Verständnis von Individualrechten und kulturellem Lebensstilpluralismus impliziert keineswegs ein minimalistisches Staatsverständnis. Für diese Auffassung soll im Folgenden argumentiert werden.
Ein Argument für gute „Policey“
In tagespolitischen Debatten um den Umfang der Staatsaufgaben und um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft tauchen theoretisch interessante Fragestellungen häufig nur noch in der Form von Metaphern auf („aufgebläht“, „entrümpeln“, „verschlanken“), die – wie der Ausdruck „bürokratisch“ – abwertende Konnotationen mit sich führen und an weit verbreitete antibürokratische Affekte appellieren. Es wäre nun verfehlt, diesen Metaphern andere Metaphern entgegenzuhalten (und etwa davor zu warnen, dass Schlankheitswahn zur zwanghaften Magersucht ausarten könne). Stattdessen ist an wesentliche Argumente zu erinnern, mit denen sich die These begründen, dass eine entwickelte, globalisierte, konsequent an den Nutzenmaximierungsbestrebungen intelligenter Produzenten und Konsumenten orientierte kapitalistische Warenwirtschaft nicht von einem neoliberalen „Nachtwächterstaat“ adäquat reguliert werden kann. Man muss den Staat gewiss nicht im Sinne einer romantischen Staatsrechtlehre als gemeinschaftliches Bündnis der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen verstehen, um diese These zu begründen.
Die erste moderne Verhältnisbestimmung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft findet sich in der Hegelschen Rechtsphilosophie (Hegel 1821 bzw. 1976). Wenn man sich von den populären Interpretationen, die Hegel als Apologeten der preußischen Monarchie und als einen Feind der offenen Gesellschaft darstellen (so die wirkmächtige, aber unhaltbare Interpretation von Karl Popper 1960), nicht den Blick verstellen lässt, so verdient das Argument, das Hegel zu seiner Zeit zugunsten einer „guten Policey“ formuliert, auch gegenwärtig Beachtung. Für Hegel zerfällt die bürgerliche Gesellschaft bekanntlich in das „System der Bedürfnisse“, die „Rechtspflege“ und die „Besorgung“ allgemeinen Interesses durch Polizei und Korporation (§ 188). Das „System der Bedürfnisse“, d.h. das System der Wirtschaft ist ein arbeitsteiliges System allseitiger Abhängigkeit, in der die Wirtschaftsbürger eigennutzrational ihren Privatinteressen nachgehen. Diese Sphäre ist für Hegel der „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle“ (§ 289). Die Rechtspflege reguliert den Verkehr der Wirtschaftsbürger äußerlich (etwa im Vertragsrecht). Die „Policey“, d.h., modern gesprochen, die öffentliche Verwaltung, zählt für Hegel noch zur Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft hinzu; sie vermittelt durch ihre vielfältigen regulierenden und beaufsichtigenden Tätigkeiten zwischen Staat und Gesellschaft und wird dadurch die „sichernde Macht des Allgemeinen“ (Riedel 1974). Hegel hatte dabei bereits eine Vorstellung von externen Effekten, d.h. davon, dass die „erlaubte Willkür für sich rechtlicher Handlungen“ anderen „zum Schaden oder Unrecht gereichen kann“ (§ 232). Für solche Probleme, die von der Rechtspflege nicht adäquat reguliert werden können, ist die „Policey“ zuständig. Dies gilt, mutatis mutandis, auch gegenwärtig: Da der moderne Staat mehrere Sphären frei gibt, nämlich einmal die ökonomische Sphäre, in der die Einzelnen ihren ökonomischen Privatinteressen nachgehen dürfen, und zum zweiten die Sphäre der individuellen Lebensstile, muss der Staat aus sich selbst heraus etwas aufbieten, das den immanenten Gefahren dieser Freisetzungen wirksam begegnen kann. Dies kann nur in den Formen von Recht und Administration erfolgen.
Das zentrale Argument zugunsten der Notwendigkeit einer solchen „Policey“ beruht auf der nüchternen Annahme, dass, je reiner sich das Prinzip des rationalen Eigennutzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ausprägt, diese selbst Institutionen ausprägen muss, um Belange von allgemeinem öffentlichen Interesse durchzusetzen. Privatpersonen sind und bleiben letztlich an ihrem privaten Vorteil orientiert. Aus der Perspektive rationaler Wirtschaftsbürger ist es prima facie rational, externe Effekte einschließlich von Risiken auf andere abzuwälzen, solange dies im Rahmen der Gesetze zulässig ist (Lärm, Emissionen, Naturschäden usw.).(1) Die ökonomischen Interaktionen der Wirtschaftsbürger selbst können administrative Institutionen weder komplett ersetzen noch aus sich selbst heraus erzeugen. Das Verhältnis zwischen der Tätigkeit der Wirtschaftsbürger und der öffentlichen Verwaltung, Hegels „Policey“ ist demnach eine Beziehung des „je mehr, um so mehr„. Je reiner, umfassender und durchdringender das Prinzip des rationalen Eigennutzes in der bürgerlichen Gesellschaft wird, umso vielfältiger und unverzichtbarer werden die Leistungen einer staatlichen Administration. Das Komplexitätsniveau der Regulierungspraxis (etwa des Ordnungsrechts) darf daher nicht hinter dem Komplexitätsniveau der Auswirkungen ökonomischer Aktivitäten zurückbleiben. Hierfür sprechen auch gegenwärtig viele Phänomene (Baurecht, Lebensmittelüberwachung, Verkehr, „Vogelgrippe“ usw.). Trotz aller populären Bürokratismuskritik wird bei den entsprechenden Skandalen immer gefragt, ob die Behörden versagt hätten. Der Glaube, man könne durch moralische Appelle an die „Selbstverantwortung“ der Wirtschaftsbürger die Administration überflüssig machen oder auch nur entlasten, wäre in hegelscher Sicht ein „abstrakter Moralismus“. Ähnliches gilt für die neuerdings beliebten Möglichkeiten, in den Gesetzen selbst Klauseln zu schaffen, durch die die gesetzlichen Bestimmungen durch private Abmachungen unterlaufen werden können.
Hegel hatte die Probleme von Umwelt- und Naturschutz noch nicht vor Augen. Es liegt aber mittlerweile eine Fülle von Literatur vor, die die Bedeutung einer Konzeption des öffentlichen Interesses, das kollektive Güter fokussiert, für die Bestimmung von moderner Staatlichkeit betonen. Der staatlichen Ordnung fällt eine Garantenstellung für die Erhaltung und den Schutz öffentlicher Güter zu. Spieltheoretisch lässt sich modellieren, was zu erwarten steht, wenn eine solche Garantenstellung nicht mehr vorhanden ist. Die Anreize für individuelles Handeln sind dann so geartet, dass es für jeden Spieler rational
ist, sich möglichst viel dieser kollektiven Güter anzueignen, wodurch sie über kurz oder lang zerstört werden. Diese Mechanismen, die Hardin als “ tragedy of the commons “ bezeichnete, die aber besser als “ tragedy off free access “ zu bezeichnen sind, wurden von Jon Elster als Musterbeispiele für soziale Widersprüche analysiert (Elster 1981). Vernünftige Personen ziehen eine Situation staatlicher Regulierung einer anarchischen Situation der “ tragedy off free access “ vor. In der Rolle vernünftiger Staatsbürger und mit Blick auf kollektive Güter ist es einsichtig, Regeln und Institutionen beizupflichten, durch die man als Privatperson eingeschränkt werden könnte.
Die Staatszielbestimmung des Artikel 20a GG
Seit den 1970er Jahren wurde an der Verfassung der „Webfehler“ kritisiert, dass die angesichts der Naturkrise unabweisliche Zukunftsverantwortung und der Umwelt- und Naturschutz nur unzulänglich im deutschen Grundgesetz verankert sei. Seit der Änderung der Position von CDU/CSU 1987 in dieser Frage bestand ein parteiübergreifendes Einvernehmen, dass der Umweltschutz Verfassungsrang erhalten sollte. Daher gelang es im Kontext der Verfassungsänderungen nach 1990, den Artikel 20a in das Grundgesetz aufzunehmen, der das Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen enthält. Der Art. 20a GG verschafft der Vorsorgepolitik staatlichen Handelns gegenüber langfristigen ökologische Gefährdungen eine stärkere Grundlage. Seit 2002 umfasst diese Staatszielbestimmung auch den Tierschutz, so dass der Tierschutz nicht mehr vor der Schwierigkeit steht, dass das Tierschutzgesetz als Einzelgesetz mit der hochrangig geschützten Forschungsfreiheit gemäß Art. 5 (3) GG kollidiert (etwa bei Tierversuchen).
Dass der Verfassungsgeber die Option einer Staatzielbestimmung den übrigen rechts-technischen Optionen vorgezogen hat (z. B. subjektives Grundrecht auf „gesunde Umwelt`), erweist sich im Kontext einer „Juristenverfassung“ als grundsätzlich richtig. Der Zustand von Natur und Umwelt wird faktisch weitaus stärker durch die einzelgesetzliche und nicht zuletzt auch durch die untergesetzliche Ebene bestimmt (durch Anhänge, Verordnungen, Richtlinien u. dergl.), so dass eine Staatszielbestimmung umweltpolitisch sachadäquat ist. Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben – sachlich umschriebener Ziele – vorschreiben. Im Unterschied zu bloßen Programmsätzen sind sie rechtsverbindlich. Man kann die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG als eine interpretationsoffene Grundsatznorm und als Thematisierungsstrategie verstehen (Geddert-Steinacher 1995).
Was die Interpretationen des Art. 20a GG anbetrifft, so wurde zur näheren Bestimmung des Sinns des Art. 20a GG folgendes Argument vorgetragen. Die Aufnahme des Art. 20a GG darf nicht als Akt symbolischer Umweltpolitik missverstanden werden. Der Art. 20a GG ist kein Ersatz für effektive Umweltpolitik auf den verschiedenen Feldern (Naturschutz, Klimaschutz, Chemikalienpolitik, Lärmschutz usw.), sondern fordert eine solche Politik (Murswiek, 1996, Rn. 43). Ferner hätte der Verfassungsgeber eine solche Staatszielbestimmung gar nicht in das Grundgesetz aufnehmen müssen, wenn er mit der Qualität der Zustände von Natur und Umwelt insgesamt zufrieden gewesen wäre. Die Einsicht in die Erforderlichkeit einer Erweiterung der Staatsziele unterstellt eine diagnostische Gesamteinschätzung, wonach die Umweltqualität einschließlich der Qualitäten von Natur und Landschaft verbesserungsbedürftig seien.
Wenn man dieses Argument teilt, so enthält der Art. 20a GG ein Verschlechterungs-bzw. Rückschrittsverbot(2) sowie einen politisch auszufüllenden Verbesserungsauftrag (Murswiek 1996, Czybulka 1999, Kloepfer 1996, Ott 1998). Verschlechterungsverbot und Verbesserungsauftrag werden in dieser Interpretation als Regelelemente der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG verstanden. Aus dieser Interpretation ergeben sich folgende „Eckdaten“ bei der Interpretation von Art. 20a GG (Murswiek 1996):
- Umweltpolitik ist eine auf Dauer gestellte Aufgabe staatlicher Politik.
- Vorsorgestrategien sind Teil der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen.
- Die Umweltsituation im Jahre 1994 kann als „benchmark“ für das dem Art. 20a GG immanente Verschlechterungsverbot gelten.
- Rückschritte beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sind verfassungsrechtlich bedenklich.
- Erhebliche Eingriffe in die natürlichen Lebensgrundlagen sind begründungsbedürftig.
- Der Verbesserungsauftrag belässt dem Gesetzgeber große politische Spielräume der Prioritätensetzung.
- Art. 20a steht in enger Beziehung zur ldee der Nachhaltigkeit.
Diese Eckdaten dürfen nicht konkretistisch dahingehend missverstanden werden, als sei jede Absenkung eines Grenzwertes bereits verfassungswidrig. Es geht eher um eine bilanzierende Gesamtbetrachtung von Umweltpolitik auf den verschiedenen Handlungsfeldern. Meiner persönlichen Auffassung zufolge ist die deutsche Umweltpolitik bei aller Kritik, die man an bestimmten Entwicklungen üben kann, in ihren Strategien und Programmen dem Art. 20a GG insgesamt durchaus gerecht geworden. In Bezug auf Vorsorgestrategien ist zu sagen, dass die politische Ordnung bei langfristigen Gefährdungen der natürlichen Lebensgrundlagen (Böden, Wasser, Klima, biologische Vielfalt) ein höheres Maß an Risikoaversion zu Grunde legen darf als die durchschnittliche Risikoaversion der einzelnen BürgerInnen. Allerdings liegt hier in der Tat ein Spannungsverhältnis zur Ausübung von Rechten vor, da eine „ausufernde“ Vorsorgepolitik paternalistische Formen annehmen kann.
Eine Staatszielbestimmung und damit auch deren interpretatorisch hergeleitete Eckpunkte richten sich an alle drei staatlichen Gewalten. Dies bedeutet, dass Legislative und Exekutive auch dafür Sorge zu tragen haben, dass die Administration von ihren Kapazitäten her den Herausforderungen des Natur- und Umweltschutzes gewachsen sein muss. Dies schließt Reformen in der Umweltverwaltung keineswegs aus. Der Begriff der Reformen muss sich allerdings am Maßstab des Art. 20a GG und seiner Implikate orientieren. In einem Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfra-gen wurde ausführlich dargelegt, dass die Verwaltungsveränderungen der vergangenen Jahre diesem Begriff der Reform nur selten genügen und diese sog. „Reformen“ Umweltverwaltungen nicht auf neue Herausforderungen einstellen (SRU 2007).
Das Konzept starker Nachhaltigkeit
Im Kontext der theoretischen Debatte um Nachhaltigkeit wurden die konträren Konzepte der „schwachen“ und der „starken“ Nachhaltigkeit einer kritischen Prüfung unterzogen. Während im Konzept schwacher Nachhaltigkeit die Naturkapitalien gegen Sachkapitalien unlimitiert substituiert werden dürfen (und dies als völlig fair gegenüber zukünftigen Personen gilt), wird in der Konzeption starker Nachhaltigkeit diese unlimitierte Substituierbarkeit bestritten. Die Naturkapitalien sind hier nicht nur bestimmte Posten in einem Portfolio, die ein ökonomisch rationaler Portfolio-Manager auf ihre ökonomische Rendite hin betrachten und ggf. gegen gewinnbringendere Posten auswechseln darf. Vielmehr sind es kollektive Güter, die wir gerade dann für zukünftige Generationen erhalten müssen, wenn wir nicht wissen, welche Interessen und Wertvorstellungen zukünftige Personen haben werden, da es ja auch der Fall sein könnte, dass sie „biophile“ Wertvorstellungen haben werden. Es erscheint merkwürdig, wenn wir großen Wert auf Umwelterziehung und Naturpädagogik legen und gleichwohl eine Konzeption von Nachhaltigkeit favorisieren, in der Naturkapitalien als substituierbar gelten. Auch spricht die Multifunktionalität vieler ökologischer Systeme stark gegen den Substitutionsoptimisus schwacher Nachhaltigkeit Aufgrund etlicher Gründe (ausführlich Ott & Döring 2004) sind wir zukünftigen Generationen die Einhaltung einer kollektiven Handlungsregel schuldig, die uns verpflichtet, die Bestände (und insbesondere die lebendigen Fonds) der in sich heterogenen Naturkapitalien im Wesentlichen konstant zu halten und immer dann, wenn Naturkapitalien durch vergangene Handlungen stark abgebaut wurden, durch geeignete Handlungsmaßnahmen (etwa im Bereich der Renaturierungsökologie oder des ökologischen Waldumbaus) in Naturkapitalien zu investieren. Diese Erhaltungs- und Investitions-Regel befolgen wir kollektiv, indem wir uns auf bestimmte anspruchsvolle Handlungs- und Qualitätsziele bei der Bewirtschaftung und beim Schutz natürlicher Systeme einigen (Böden, Wälder, Meere usw.).(3)
Weiterhin glauben wir gezeigt zu haben, dass die Verwirklichung von ,starker‘ Nachhaltigkeit keine volkswirtschaftlich unzumutbaren Kosten mit sich bringt, dass es allerdings eines klugen Übergangsmanagements bedarf. ‚Starke‘ Nachhaltigkeit ist ein gesellschaftliches Projekt, dessen Kosten nicht allein den Gruppen der Landnutzer aufgebürdet werden dürfen, sondern anteilig von allen BürgerInnen zu tragen sind. Wäre ,starke` Nachhaltigkeit in den ökonomischen Anreizsystemen und den politischen Institutionen fest verankert (etwa durch die Honorierung ökologischer Leistungen oder die Finanzierung von Investitionen in Naturkapitalien), so gäbe es viele Koalitionschancen zwischen Protagonisten dieses Konzepts und den Gruppen der Landnutzer, die sich unter den gegenwärtigen Randbedingungen häufig feindlich gegenüber stehen (müssen). Es trifft also nicht zu, dass ,starke` Nachhaltigkeit nicht finanzierbar ist, sondern es geht darum, wofür „wir“ finanzielle Ressourcen einzusetzen (nicht) bereit sind. Man schaue nur, dass unsere Gesellschaft bereit ist, für den Umbau von Bahnhöfen, die Weltraumfahrt oder den Bau von Brücken zwischen Deutschland und Dänemark und für konventionelle Landwirtschaft Summen aufzubringen, von denen der Naturschutz nur träumen kann. Würde man auf weniger dieser Großprojekte verzichten und die hierfür vorgesehenen Summen in Natur- und Umweltschutz investieren, so wäre die Umsetzung starker Nachhaltigkeit gesichert. In Bezug auf die Landwirtschaft würde eine Umschichtung der Agrarsubventionen diese Umsetzung ermöglichen.
Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU), dem ich seit dem Jahre 2000 angehören darf, vertritt in seinem Umweltgutachten 2002 ein modifiziertes Konzept starker Nachhaltigkeit. Die Zielsysteme, die der SRU u. a. in seinen letzten Sondergut-achten zum Naturschutz, zum Meeresumweltschutz, zur Mobilitätspolitik, zur Umweltverwaltung und zum Biomasseanbau vorgeschlagen hat (alle Gutachten sind unter www.umweltrat.de verfügbar) lassen sich als Vorschläge verstehen, wie die Konzeption starker Nachhaltigkeit und der Verbesserungsauftrag des Art. 20 a GG zu konkretisieren wären. Unlängst hat Gerd Winter dafür plädiert, bei der Schaffung des Umweltgesetzbuches (UGB) das Konzept der starken Nachhaltigkeit so, wie es der SRU in seinem Umweltgutachten 2002 (Kapitel 1) formuliert hat, in die Grundsätze des UGB mit aufzunehmen (GAIA 2007). Die Einsicht in die Notwendigkeit guter „Policey“, der Art. 20a GG und das Konzept starker Nachhaltigkeit ergeben eine konsistente Basis für umweltpolitisches staatliches Handeln, das auch auf eine Änderung von Verhaltensweisen abzielt.
Zur Veränderung von Lebensstilen
Die Konzeption starker Nachhaltigkeit wird spezifiziert durch drei Leitlinien: Effizienz, Resilienz und Suffizienz. Die Debatten über Rebound-Effekte und den nach wie vor zu hohen Ressourcenverbrauch erlauben es nicht, die Hoffnungen auf eine nachhaltige Entwicklung allein auf den umwelttechnischen Fortschritt zu setzen. Wirklich nachhaltige Lösungen ergeben sich erst bei intelligenten Kombinationen aus technischem Fortschritt mit veränderten Verhaltensweisen und Einstellungen. Es wäre daher einseitig, wenn durch staatliches Handeln nur die technische Entwicklung, nicht aber die hierzu komplementären Verhaltensänderungen gefördert würden. Da, um das Bonmot von Hermann Löns zu verwenden, der empfindlichste Körperteil des Menschen die Geldbörse ist, ist der Staat berechtigt, Anreizstrukturen entsprechend zu verändern und insofern Verhalten indirekt zu beeinflussen. Dies spricht für eine ökologische Steuerreform, die Ressourcenverbrauch hoch besteuert und bestimmte verbrauchsarme Tätigkeiten fördert. So wären Anreize zugunsten veränderter Ernährungs- und Mobilitätsstile (etwa durch Kerosinsteuer) durchaus zulässig. Es wäre im Rahmen einer freiheitlichen Gesellschaft bspw. sogar zulässig, ordnungsrechtlich eine Obergrenze für den Verbrauch von PKW zu setzen oder bestimmte Produkte mit Abgaben zu belasten. Die Einführung eines Tempolimits verstößt ebenso wenig gegen die freiheitliche Ordnung wie ein Dosenpfand. Die Möglichkeiten rechtlicher Regulierung im Umweltbereich sind längst nicht ausgeschöpft, erfordern aber politische Mehrheiten, also eine Bürgerschaft mit entsprechenden Überzeugungen. Daher müssen die Überzeugungen und Wertvorstellungen der BürgerInnen, deren sozialen Anerkennungsverhältnisse, die Legitimitätsgrundlagen von Politik und die vielen zulässigen Verhaltenssteuerungen durch Ordnungs-, Steuer- und Abgabenrecht insgesamt kohärent sein und eine komplexe, für Veränderungen offene Textur ergeben. In Konzeptionen deliberativer Demokratie werden institutionelle Strukturen analysiert, innerhalb derer sich solche Texturen ausbilden können (Habermas 1992, Kap. VII und VIII). Es besteht daher kein grundsätzlicher Widerspruch zwischen einer freiheitlichen Grundordnung, deliberativer Demokratie und einer Politik starker Nachhaltigkeit, wohl aber ein Konflikt zwischen einem Wirtschaftsliberalismus und einer solchen Politik. Die theoretischen und philosophischen Grundlagen des Wirtschaftsliberalismus, darunter vor allem die sog. neoklassische Mikroökonomik sind jedoch, höflich formuliert, alles andere als selbstverständlich und stellen keine geeignete Grundlagen für Debatten über legitime staatliche Eingriffe dar. Erstens ist der viel beschworene mündige Konsument nach allem, was uns die empirische Konsumforschung lehrt, nicht einfach vorhanden, wie dies in ökonomischen Modellen unterstellt wird, sondern ein Ideal, das engagierter Verbraucherpolitik bedarf. Zweitens sind auf der Grundlage der Mikroökonomik Recht (und auch zumeist Moral) nur heteronom, d.h. fremdbestimmt auferlegte Einschränkungen der je individuellen Strategien der Nutzenmaximierung. In dieser (buchstäblich „idiotischen“) Perspektive kann man an Debatten über die Legitimitätsbedingungen und die Grenzen regulatorischer Staatstätigkeit kaum kompetent teilnehmen, da in dieser Perspektive die konzeptionelle Differenz zwischen Privatperson und Staatsbürger nicht vorhanden ist und die rechtsethisch zentrale Idee eines „mutual coercion by mutual agreement“, die auf dieser Differenz beruht, daher nicht wirklich anerkannt werden kann. Drittens sind die Marktlösungen, die gegenüber staatlichen Eingriffen favorisiert werden, häufig solche, die in idealen Modellmärkten entwickelt worden sind. Diese idealen Märkte ruhen auf starken idealisierenden Annahmen, die in der Realität nicht erfüllt sind (bspw. vollständige Information).
(1) Es gibt für den „homo oeconomicus“ keinen internen Grund, sich nicht als „free rider“ zu verhalten.
(2) Wenn irgendetwas als verbesserungsbedürftig angesehen wird, so impliziert dies pragmatisch, dass es sich nicht verschlechtern solle. Wenn ein Elternteil zu seinem Kind sagt: „Deine Schulnoten müssen sich bessern!“ so ist klar, dass sie sich nicht noch verschlechtern sollen.
(3) In einem Artikel für die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ wurden die Kerngedanken aus der Sicht des Greifswalder Ansatzes starker Nachhaltigkeit komprimiert zusammengefasst (Egan-Krieger et al. 2007).
Literatur
Czybulka, D. (1999): Ethische, verfassungtheoretische und rechtliche Vorüberlegungen zum Naturschutz. In: Erbguth, W., Müller, F., Neumann, V. (Hrsg.): Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch. Gedächtnisschrift für Bernd Jeand’Heur. Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 796. Berlin: Duncker&Humblot, S. 83-110.
Egan-Krieger, Tanja von, Ott, Konrad, Voget, Lieske: Der Schutz des Naturerbes. Aus Politik und Zeitgeschichte, 11. Juni 2007.
Elster, Jon (1981) Logik und Gesellschaft. Frankfurt/M.
Geddert-Steinacher, T. (1995): Staatsziel Umweltschutz: Instrumentelle oder symbolische Gesetzgebung? In: Nida-Rümelin, J., v. d. Pfordten, D. (Hrsg.): Ökologische Ethik und Rechtstheorie. Studien zur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Bd. 10. Baden-Baden.
Habermas, J. (1992): Faktizität und Geltung. Frankfurt/M.
Hegel, G. W.F. (1821): Grundlinien der Philosophie des Rechts.Werkausgabe Bd. 7, Frankfurt/M. 1976.
Heyer, K. (1912): Denkmalpflege und Heimatschutz im Deutschen Recht. Berlin. Kloepfer, M. (1998): Umweltrecht. 2. Aufl. München: Beck.
Murswiek, D. (1996): Kommentar zu Art. 20 a GG. In: Sacks, M. (Hrsg.): Grundgesetz. Kommentar. München.
Ott, K, Döring, R. (2004): Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit. Marburg.
Ott, K, Döring, R. (2007): Soziale Nachhaltigkeit: ,Suffizienz zwischen Lebensstilen und politischer Ökonomie. In: Jahrbuch für Ökologie Ökonomie. Marburg.
Ott, K (1998): Umweltethik in schwieriger Zeit. Antrittsvorlesung an der Universität Greifswald. In: Michael-Otto-Stiftung für Umweltschutz (Hrsg.): Umweltethik in schwieriger Zeit. Hamburg: Michael-Otto-Stiftung, S. 51-88.
Popper, K. (1980): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Francke: UTB.
Riedel, M. (1975): Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft und das Problem seines geschichtlichen Ursprungs. In: ders. (Hg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Frankfurt/M., Bd. 2, S. 247-275.
SRU (Sachverständigenrat für Umweltfragen) (2002a): Umweltgutachten 2002. Für eine neue Vorreiterrolle. Stuttgart: Metzler-Poeschel.
Winter, G.: Umweltgesetzbuch oder Allgemeines Umweltgesetz? In: GAIA Heft 2 Jg. 2007, S. 108-109.