Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 185: Die verdrängte Revolution

Blick zurück, nicht nur im Zorn

Vom Umgang mit dem Erbe der DDR,

aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 69-76

In diesen Monaten wird mit einer Flut von Publikationen, Veranstaltungen und Ausstellungen an die Geschichte und das Ende der DDR erinnert. Die Intensität mit der beim Jubiläum 2009 gestritten und polemisiert wird, zeigt, wie kurz zwanzig Jahre sein können. Akteure und Zeitzeugen sind zum großen Teil noch präsent, die Erinnerungen noch sehr frisch, Wahrnehmungen und Urteile mehr als kontrovers.

Die Stimmen, welche der Gründung und Existenz der DDR eine historische Legitimität unterstellen, an der „Legende vom Guten Anfang“ festhalten und die Gründe für das Scheitern des „sozialistischen Experiments“ dem aggressiven Gegner zuschreiben, sind immer noch sehr zahlreich. Zu ihnen gehören ehemalige Verantwortungsträger und SED-Funktionäre, MfS-Größen, aber auch zahlreiche DDR-Intellektuelle, ältere und jüngere Nostalgiker ganz verschiedenen Zuschnitts.

Ihnen stehen unversöhnlich Positionen gegenüber, die auf Mauer, Schießbefehl und Stacheldraht verweisen und in der DDR ein einziges großes Gefängnis sehen. Ein System, auf den Spitzen sowjetischer Bajonette errichtet und von deren Panzern geschützt. So wichtig es ist, den zweiten deutschen Staat als Diktatur und Unrechtssystem wahrzunehmen, das Ausmaß vierzigjähriger Verfolgung und Unterdrückung zu erfassen; mit einer einseitigen Fixierung darauf wird die Mobilisierungs- und Bindungskraft des kommunistischen Experiments und seiner pseudoreligiösen Heilslehre, werden die Motive der Anhänger und Verführten nicht erfasst. Der Unterdrückungsstärke des Systems entsprach eine hohe gesellschaftliche Prägungskraft, die weit über das Ende der DDR als Staat hinausreicht.

Biographische Zeugnisse individueller Entwicklungen, Brüche und Entscheidungen von Menschen, deren Leben auf unterschiedliche Weise mit der DDR verbunden war, können hier zu einer Differenzierung verhelfen, die weder Verharmlosung noch Dämonisierung zulässt. Im Streit der Zeithistoriker um das Primat von System- oder Alltagsgeschichte, gibt eine ausschließende Gegenüberstellung nur wenig Sinn. Gerade im Alltagsleben der DDR, in den so genannten Nischen, war der Charakter des Systems tausendfach präsent. Eine materialreiche, realistische Alltagsgeschichte der DDR lässt keiner Spielart der Verharmlosung Raum.

Verdrängen und Vergessen

Wer nach verklärender Memoirenliteratur in Sachen DDR sucht, ist bei der „edition ost“ gut aufgehoben. Seit den neunziger Jahren sind dort zahlreiche Größen der obersten Führungsebenen der SED, Politbüro und Zentralkomitee mit ihren Erinnerungen präsent. Weitere Funktionsträger der Partei, MfS-Generäle, Staatsfunktionäre und „Kulturschaffende“ gesellen sich ihnen hinzu. In der Buchhandlung am Sitz der Linkspartei und weiteren ausgewählten Standorten, vor allem in Ostberlin, füllen sie ganze Regale. Dort gab auch Egon Krenz, Politbüromitglied und letzter Staatsratsvorsitzender der DDR seine „Gefängnisnotizen“ heraus. Krenz galt 1989/90 als hundertprozentige Altlast, so dass er selbst für den Traditionsteil, der zur PDS mutierten SED nicht mehr in Frage kam. Sein Selbstbild als Garant des friedlichen Übergangs und neuer Mann der ersten Stunde hält keiner historischen Überprüfung stand, was seine Anhänger nicht daran hinderte bei Auftritten und Lesungen aus vorangegangenen Büchern von ihm, die Säle zu füllen. Sie nahmen auch seine 2009 erschienenen Gefängnisnotizen, eine einzige Anklage gegen den Rechtsstaat und die „Klassenjustiz“, mit ungebrochener Begeisterung auf. Ein Rechtsstaat und eine „Klassenjustiz, die ihn ausgesprochen milde behandelt hatten.

Kann man Krenz noch einer Gruppe von Ewiggestrigen und Geschichtsverleugnern zuordnen, die selbst in den Kreisen ehemaliger SED-Genossen hoch umstritten ist, so gelang es Hans Modrow als Ehrenvorsitzendem der Linkspartei zu einer wahren Integrationsfigur zu werden. Er verschaffte sich noch in den letzten Monaten der DDR einen Ruf als Reformer, der mit persönlicher Integrität für die Erneuerung der Partei und des Staatsapparates eintrat. Ganz im Gegensatz zu dieser Aura und von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, betrieb er als letzter Ministerpräsident der DDR die erfolgreiche Rettung und Transformation von Finanzen, Kadern und Logistik für die im Eilverfahren zur Partei des Demokratischen Sozialismus mutierende SED. Im Rahmen der Aktion „Sündenbock“ wurde dem Ministerium für Staatsicherheit unter Erich Mielke die Hauptverantwortung für DDR-Verbrechen und DDR-Unrecht zugeschoben. Intern entschuldigte sich Modrow bei den „Tschekisten“ für dieses Manöver, dass er mit der notwendigen Rettung der Partei begründete. Die Führungsrolle der SED trat hinter dem Repressionscharakter des MfS als „Schwert und Schild“ der Partei zurück. In der öffentlichen Wahrnehmung, den Auseinandersetzungen dazu und den damit verbundenen Schuldzuweisungen, wirkt diese Verkehrung bis heute nach. Modrow trug in den mehreren Bänden seiner Erinnerungen und Rückblicke wenig dazu bei, eine Reihe offener Fragen um die letzten Monate der DDR und seine eigene Rolle in der SED zu klären. Ebenso harrt seine Doppelrolle am Runden Tisch, noch der Aufklärung.

Hans Modrow, Lothar Bisky und Gregor Gysi – auch die beiden Letzteren sind in Büchern, Artikeln und zahlreichen Auftritten in Sachen DDR Geschichte präsent – stehen für verschiedene Facetten einer gemeinsamen Grundhaltung. Es werden „Demokratiedefizite“ und mannigfache Versäumnisse in vierzig Jahren DDR-Existenz bedauert, sogar einzelne Verbrechen werden eingestanden. Festgehalten wird jedoch wird am „guten Kern“ des ganzen Unternehmens: die Errichtung einer Gesellschaftsordnung, die mit Einparteienherrschaft und zentral gelenkter Kommandowirtschaft auf anderen Fundamenten ruhte, als die kapitalistische Bundesrepublik und ihre westlichen Verbündeten. Über die gesamte Zeit der Blockkonfrontation hinweg wurde dem DDR-Bürger ein Bild der Bundesrepublik vermittelt, dass mit dem sozialstaatlich gezügelten „Rheinischen Kapitalismus“, mit praktizierter Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun hatte, sondern dem klassischen Ausbeuterstaat im Marxschen Sinne entsprach.

Wie willkürlich und instrumentell das Führungspersonal der Partei auf dem historischen Parkett agiert, zeigt sich bei Jubiläen, die weit hinter die Geburtsstunde der DDR zurückgehen. So beschworen Gregor Gysi, Petra Pau und Peter Sodann zum Jubiläum der Weimarer Verfassung den guten Anfang einer gefährdeten Demokratie. Die gleiche Partei pflegt an den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht den Mythos der tapferen Spartakisten. Man kann Rosa Luxemburg als Revolutionärin würdigen und den Mord an ihr und Karl Liebknecht verurteilen. Zwischen dem Spartakusaufstand und einer KPD, die unter Thälmann die Weimarer Demokratie bekämpfte, die zu ihrem Untergang beitrug auf der einen Seite und den Verteidigern der Republik auf der anderen, wird man sich dann doch entscheiden müssen.

Das Festhalten am Gegenentwurf und die halbherzige Kritik des eigenen untergegangenen Systems haben Folgen. Beim angestrebten nächsten Anlauf für grundsätzliche Alternativen, werden nicht die Fundamente des alten Versuches in Frage gestellt, sondern höchstens die Umstände des zurückliegenden Scheiterns berücksichtigt.

Die Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen eines entfesselten Kapitalismus, die aufgeklärte Konservative wie Heiner Geisler und Norbert Blüm, die zahlreiche Sozialdemokraten und Liberale bereits lange vor der gegenwärtigen Krise vornahmen, ist mehr als notwendig und verlangt die Entwicklung von Alternativen und Gegenpositionen. Ein systemfixierter Antikapitalismus, der Demokratie und Marktwirtschaft grundsätzlich in Frage stellt und sich aus der Rumpelkammer staatssozialistischer Großentwürfe bedient, gehört nicht dazu. Die fehlende, halbherzig-relativierende Auseinandersetzung mit der DDR, die Verteidigung ihrer Fundamente und Errungenschaften, bereitet den Boden für neue untaugliche Utopien.

In der Fülle der Publikationen, die sich als Ratgeber und Rezepte zum Umgang mit der unabsehbar tiefen Finanz- und Wirtschafts- und Politikkrise verstehen, fallen eine Reihe von Titeln auf, die unverhohlen Anleihen an das Gestrige machen. Sahra Wagenknecht ist es sich und ihrer Kommunistischen Plattform schuldig, in „Finanzcrash und Weltwirtschaft“ den Untergang der alten Welt zu beschwören und Umrisse des Neuen zu sehen, welche fatal an bekannte Erlösungsbotschaften erinnern. Zahlreiche ergraute PDS-Altvordere sind mit ähnlichen Tönen zu vernehmen, Franziska Drohsel, die Vorsitzende der Jungsozialisten fragt mit vollem Recht danach, was heute links sein kann. Wie verhält sie sich dann aber zu der Partei DIE LINKEN an, welche den Begriff okkupiert und ein politisches Projekt verkörpert, das nicht nur in Sachen Vergangenheitsverdrängung ein zutiefst restauratives und reaktionäres Projekt ist?

Wie verträgt sich der von Drohsel und zahlreichen anderen kritischen Sozialdemokraten vertretene Anspruch auf ein neues Verhältnis von Freiheit, Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit, mit diesem Gegenüber? Kann er gegenwärtig oder in naher Zukunft zum Verbündeten werden oder bleibt er ein politischer Gegner, mit dem man normal umgehen und sich auseinandersetzen sollte, ohne Annäherungsszenarien zu verfallen?

Okkupa­ti­ons­re­gime und Satra­pen­staat

Das Urteil des Sozialhistorikers Hans Ulrich Wehler über die DDR ist so eindeutig wie niederschmetternd. Im 5. Band seiner Gesellschaftsgeschichte Deutschlands, der die Zeit von 1949 – 1990 umfasst, widmet er dem zweiten deutschen Nachkriegsstaat nur minimalen Raum. Gemessen am Erfolgsmodell der demokratischen Bundesrepublik existiert für ihn die DDR nur als Negativfolie, als ein von sowjetischer Seite aufgezwungenes Okkupationsregime, als Satrapenstaat. Ihr Ende hinterlässt naturgemäß wenig Spuren, so wie für ihn die deutsche Geschichte von 1945 – 1989 durch die Bundesrepublik geprägt wurde, wird es auch die Folgegeschichte danach.

Wehlers Ein- und Herunterstufung der DDR löste eine heftige öffentliche Debatte aus, in der so unterschiedliche Stimmen, wie der ostdeutsche Intellektuelle Jens Reich und die aus der DDR stammende Schriftstellerin Monika Maron zu Wort kamen. Jens Reich beklagte die Härte der historischen Urteile, fühlte sich dadurch persönlich gekränkt und unternahm den problematischen Versuch, der späten DDR Nischenqualitäten abzugewinnen, die sie nur im Binnenhorizont friedfertiger Intellektuellenkreise haben konnte. Monika Maron hingegen, die mit ihrer Biographie und ihren literarischen Texten für kein Milligramm DDR-Nostalgie zur Verfügung steht, griff Wehler auf einer anderen Ebene an. Vierzig Jahre DDR-Realgeschichte hätten eine Fülle von künstlerischer Kreativität, kultureller Eigendynamik und gesellschaftlicher Eigenständigkeit hervorgebracht, die nicht in Übereinstimmung und Deckungsgleichheit mit dem Charakter des aufgezwungenen Systems standen. Sie widersprachen ihm, standen quer dazu, suchten und schufen sich begrenzte Freiräume, die immer wieder eingeengt und zerstört wurden. Dennoch waren sie dauerhafter Bestandteil der DDR-Realität, prägten Biographien und kulturelle Identitäten, die auch in die Bundesrepublik und deren Geschichte hineinwirkten. Nicht um eine Rücknahme oder Einschränkung der harten Urteile über das DDR-System ginge es, die seien völlig berechtigt, sondern um die Blindheit gegenüber einer eigenen Gesellschaftsgeschichte der DDR, mit all ihren Schatten- aber auch Lichtseiten. Monika Maron und anderen Kritikern ist hier zuzustimmen. Das reale Gewicht der DDR-Seite im deutsch-deutschen Beziehungsgeflecht kann so nicht sichtbar werden. Sie zur bloßen Fußnote der Geschichte zu erklären, ist nicht nur arrogant, sondern realitätsfremd.

Wehlers Sicht auf die DDR-Geschichte nähert sich zahlreichen weiteren Außenblicken an, welche die Abstufungen zwischen Schwarz und Weiß, Tätern und Opfern, welche die inneren und äußeren Entwicklungen von Biographien zugunsten summarischer Urteile vernachlässigen. Damit wird nicht nur der kollektive Aufschrei all derjenigen provoziert, die ihr eigenes Positivbild beschädigt sehen, sondern die Möglichkeit verschenkt, das Innenleben einer Diktatur in all seinen Abstufungen wahrzunehmen.

Abrechnungsbücher, wie die jüngste Publikation des Historikers Hubertus Knabe, der „Honeckers Erben“ auf der Spur ist, geraten in Gefahr, die ohnehin festgefahrenen Fronten in der Vergangenheitsdebatte weiter zu verhärten. Knabe konzentriert sich auf das Fortwirken des Gestern in den politischen Zirkeln und Initiativen der Linkspartei, zeigt die Erfolge von deren Strategien und Unterwanderungstaktiken auf. Damit macht er sich zum Hassobjekt der Nostalgiker und Vergangenheitsbeschöniger aller Couleur, stößt aber auch bei zahlreichen anderen Beteiligten auf Befremden. Seine Befunde und Belege sind größtenteils stimmig und er argumentiert stringent, dennoch nimmt er sich mit dem Gestus der Unduldsamkeit und des kategorischen Urteils, viel von der erhofften Wirkung. In dem Anspruch „die Wahrheit über die Linke“ zu verkünden, steckt die Gefahr der Verabsolutierung. Zwischen dem historisch hoffnungslos festgefahrenen Block der alten Genossen, den Strategen einer gelenkten Geschichtspolitik und den zahlreichen Mitgliedern und Anhängern, die noch in der eigenen Auseinandersetzung damit stehen und eigene Fragen formulieren, sollte in Urteil und Verhalten deutlich unterschieden werden. Nicht jeder Protest gegen soziale Ungerechtigkeit und nicht jeder Aufruf zu einer Erneuerung der politischen Kultur muss zur Verteidigung von DDR-Errungenschaften führen und zur Relativierung von DDR-Unrecht beitragen. Mit der Benennung eigener Fragen und der Bereitschaft zur Diskussion, die Auseinandersetzung in die Reihen und Anhänger der Linkspartei selbst hineinzutragen, dürfte lohnender sein, als durch Generalangriffe die Reihen der Gegenüber erst recht zusammen zu schmieden.

System und Gesell­schaft

Am Beispiel der DDR zeigt sich, welche Chancen biographische Annäherungen haben können, das Verhältnis von individuellen Lebenssituationen und Gesellschaftsgeschichte genauer wahrzunehmen und auszuleuchten. Darstellungen, die nicht zur Rechtfertigung geraten, Brüche und Systemkonflikte aus dem familiären Kontext herausarbeiten, finden sich in jüngst erschienenen Büchern von Susanne Schädlich und Irina Liebmann. In „Immer wieder im Dezember: der Westen, die Stasi, der Onkel und ich“ schildert die Tochter des Schriftstellers Hans Joachim Schädlich eine Geschichte intimen Verrates, zerrissener und zerstörter Familienbeziehungen und der Schmerzen im Umgang mit der deutsch-deutschen Doppelrealität. Schädlich, der zu den DDR-Intellektuellen gehörte, die sich gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns stemmten, verlor anschließend die Existenzgrundlage und wurde mit der Familie in den Westen getrieben. Sein Bruder, der Historiker Karlheinz Schädlich, Susannes geliebter Onkel, war aus Überzeugung und Leidenschaft insgeheim für die Staatssicherheit tätig, forschte Schädlich und dessen Familie im Westen weiter aus, verriet und manipulierte ihn nach Kräften. An dieser Situation und dem Unvermögen, mit der deutsch-deutschen Zerrissenheit umzugehen, zerbrach die Familie. Nach Jahrzehnten gräbt sich Susanne Schädlich in die „lüsterngemeine Prosa“ der Stasi-Akten hinein, konfrontiert ihr Bild des Onkels mit der Realität, mit dessen Zynismus und geradezu exzentrischer Freude am Zerstörungswerk. Eine Geschichte, an deren Ende weder Heilung noch Versöhnung stehen können, höchstens die Souveränität des gewonnenen Abstandes und eine literarische Verarbeitung.

Die Schriftstellerin Irina Liebmann, als Tochter Rudolf Herrnstadts in der DDR aufgewachsen, brauchte Jahrzehnte, bis sie sich der Gestalt ihres Vaters literarisch nähern konnte. Der überzeugte Kommunist und begabte Intellektuelle Herrnstadt spielte als Chefredakteur des Neuen Deutschland und Kandidat des Politbüros der SED eine entscheidende Rolle im politischen Leben der frühen DDR. Als Gegner und Konkurrent Walter Ulbrichts setzte er sich 1953 für dessen Absetzung und einen offeneren deutschen Weg zum Sozialismus ein. Herrnstadt verlor die Auseinandersetzung gegen Ulbricht, der sich nach dem 17. Juni die Rückendeckung Moskaus sicherte, wurde, wie seine Verbündeten als Fraktionsmacher verurteilt, aller Ämter enthoben und in das Merseburger Archiv abgeschoben, wo er die Jahre bis zu seinem Tod 1962 verbrachte. Irina Liebmann nimmt sich der Person und Geschichte ihres Vaters in einer Form an, welche die Gattungsgrenzen sprengt. Romanhafte Elemente, Züge eines historischen Sachbuches, dann doch fast die Gestalt eines Dramas bestimmen die Darstellung des Lebensweges, der Konflikte und der deprimierenden letzten Lebensjahre Herrnstadts. Die Tochter vermeidet jede Mythologisierung und Verklärung, tritt in den Dialog mit ihrem Vater in einer Weise ein, die den Realitätsgehalt seiner bis zum Lebensende hochgehaltenen kommunistischen Utopie offen lässt.

In noch einmal anderer Weise kann die fünfbändige Edition der Tagebücher des Malers, Dramatikers, Regisseurs und Prosaschriftstellers Einar Schleef nicht nur die DDR-Realität nahe bringen. Die Tagebucheintragungen reichen von 1953 bis in die neunziger Jahre und spiegeln die Konflikte künstlerischer Existenz in der diktaturgeprägten DDR wider, sind Dokumente einer unausgesetzten Suche und inneren Auseinandersetzung. Schleef verweigert sich der polarisierenden Einordnung als Staatskünstler oder Widerstandskämpfer, wechselt in den siebziger Jahren die Orte seiner künstlerischen Produktionen nach Wien und in die Bundesrepublik bleibt der DDR dennoch zutiefst verbunden. Späte Höhepunkte sind die Inszenierungen der neunziger Jahre am Berliner Ensemble, die ihn erneut mit seinem Kollegen und künstlerischen Antipoden Heiner Müller zusammen bringen. Müller, dessen nachgelassene Notizen und Gespräche jetzt im Rahmen einer Gesamtedition erscheinen, wurde als Staatskünstler hofiert und als Außenseiter misstrauisch beäugt, galt den Einen als gesinnungsloser Zyniker während Andere in ihm, den Verkünder einer verschlüsselten historischen Botschaft sahen, welche die einfachen Glaubenssätze der kommunistischen Heilslehre intellektuell übersprang. Müller, der sich an der DDR rieb, die Blindheit der meisten ihrer Funktionäre verachtete, dennoch mit den Organen der Staates und dem MfS kooperierte und sich im Dienste der großen Sache sah, trat bei der Großdemonstration des 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz auf. Er trat dort für die Möglichkeit einer besseren DDR ein, einer DDR, deren letzte Stunden bereits zu schlagen begannen.

Wenn es um die Arbeit von Zeithistorikern geht, hat sich der Prinzipienstreit zwischen den Verfechtern einer Systemsicht der DDR, welche die harten Fakten der Diktatur und des Unrechtsstaates reklamieren und den Vertretern einer weitaus entspannteren Sicht auf deren Alltagsleben weitestgehend erledigt. Jede intensive Beschreibung des Alltags und der gesellschaftlichen Realität in der frühen, aber auch der späteren DDR kann mehr über Systemzwänge, Konformitätsdruck und Anpassungsleistungen aussagen, als die alleinige Fixierung auf die Staatssicherheit und die anderen Teile des Repressionsapparates. Eine solche Beschreibung wird aber auch freilegen, wie sich Verweigerung und widerständiges Verhalten im Alltag niederschlugen, wie viel Phantasie und Kreativität das Suchen eigener Lebensformen unter Zwang und Kontrolle freisetzte.

Der Historiker Stefan Wolle, selbst in der DDR geboren und aufgewachsen, legte mit seiner Arbeit „Die heile Welt der Diktatur Alltag und Herrschaft in der DDR“ bereits vor Jahren ein eindrucksvolles Porträt der Honecker-Ära vor. Das Bild, welches dabei entstand, ist ungemein farbig und enthält viele Facetten. Witz und Humor durchziehen nahezu alle Lebensbereiche, privates Leben konnte durchaus angstfrei sein, nichts jedoch fügt sich zum Genregemälde eines entspannten Pantoffelstaates. Sein Kollege Ilko-Sascha Kowalczuk unternimmt zwanzig Jahre nach den Ereignissen des Revolutionsjahres 1989 den wichtigen Versuch, die Voraussetzungen und die gesellschaftliche Vorgeschichte der Massenproteste des Herbstes nachzuzeichnen. Sein Buch „Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR“ umfasst 600 Seiten, die man am liebsten in einem Ruck durchlesen möchte. Mehr als 300 Seiten sind dabei einem Zustandbild der DDR in den achtziger Jahren, also der späten Honecker-Ära gewidmet. Ein buntes farbiges Panorama entsteht, was zugleich jedoch das Bild einer unheilbar kranken Gesellschaft ist. Die viel beschworenen sozialen Errungenschaften werden als politisch motiviertes, schlecht funktionierendes Zuteilungswesen beschrieben, deren Kosten das ohnehin ineffiziente System der Kommandowirtschaft in die Knie gehen ließ.

Die Gemütlichkeit und Wärme des Kollektivlebens kontrastiert die Einordnungs- und Kontrollfunktion, welche die gleichen Arbeits- und Wohnkollektive in Form der Hausgemeinschaften innehatten. Raubbau an der ökologischen und ökonomischen Substanz war nicht die Ausnahme sondern die Regel. Dem wachsenden Potential an Verweigerung und Aussteigertum, den Bemühungen um alternative Lebensentwürfe, den Kreisen der Dissidenten und Oppositionellen stellt Kowalczuk eine Mehrheitsgesellschaft gegenüber, die sich bis kurz vor Toresschluss systemloyal verhielt und in weiten Teilen kollaborierte. Mit veränderten Methoden und diffizileren Strategien der Kontrolle und Repression, blieb die DDR bis zu ihrem Ende eine harte Diktatur, die mit ihren Untertanen weder fürsorglich noch schonend umging. Als die Massenproteste des Herbstes 1989 eine revolutionäre Qualität erreichten, gingen die Vertreter der Macht in die Knie, weil ihnen das eigene Überleben wichtiger war als der heroische Untergang. Kowalczuk hält zu Recht am Begriff der Revolution fest und warnt zugleich vor jeder Heroisierung und damit verbundenen Illusionen. Die DDR brach als System zusammen, hinterließ jedoch die Folgen jahrzehntelanger Sozialisation und Konditionierung, stabile Prägungen und Sozialisationsmuster, die auch an die Folgegeneration weitergegeben werden.

Zwanzig Jahre nach 1989 sind die Probleme, welche der Umgang mit diesen Folgen aufwirft, noch lange nicht erledigt.

Literatur

Bender, Peter (2007); Deutschlands Wiederkehr. Eine ungeteilte Nachkriegsgeschichte 1945-1989, Klett-Cotta.

Drohsel, Franziska (2009); Was ist heute links, Campus.

Höpcke, Klaus (2009); Über linke Heimatliebe, Edition Ost

Kipping, Katja (2009); Ausverkauf der Politik Für einen demokratischen Aufbruch, Econ.

Knabe, Hubertus (2009); Honeckers Erben Die Wahrheit über DIE LINKE, Propyläen

Kraus, Matthias (2009); Die Partei hatte manchmal Recht, Dietz

Kowalczuk, Ilko-Sascha (2009); Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, C.H. Beck

Krenz, Egon (2009); Gefängnisnotizen, Edition-ost.

Liebmann, Irina (2008); Wäre es schön?, es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt, Berlin-Verlag

Mittenzwei, Werner (2003); Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945-2000, Aufbau-Verlag.

Müller, Heiner (2009); Gespräche. Bd.1.-3., Suhrkamp.

Münkler, Herfried (2009); Die Deutschen und ihre Mythen, Rowohlt.

Neubert, Erhart (2008); Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, Piper.

Schabowski, Günter (2009); Wir haben fast alles falsch gemacht: die letzten Tage der DDR, Econ.

Schädlich, Susanne (2009); Immer wieder Dezember: der Westen, die Stasi, der Onkel und ich, Droemer.

Schleef, Einar (2009); Tagebuch 1981-1998, Suhrkamp.

Schneider, Horst (2009); Hysterische Historiker Vom Sinn und Unsinn eines verordneten Geschichtsbildes, Witjo herer Verlag.

Schorlemmer, Friedrich (2009); Wohl dem, der Heimat hat, Aufbau-Verlag.

Schreiber, Jürgen (2009); Die Stasi lebt: Berichte aus einem unterwanderten Land, Knaur

Wagenknecht, Sahra (2009); Wahnsinn mit Methode Finanzcrash und Weltwirtschaft, Das Neue Berlin.

Wehler, Hans-Ulrich (2008); Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd.5: Bundesrepublik und DDR 19491990, C.H. Beck-Verlag.

Wolfgang Wippermann (2009); Dämonisieren durch Vergleich DDR und Drittes Reich, Rotbuch.

Stefan Wolle (1998); Die heile Welt der Diktatur Alltag und Herrschaft in der DDR, Links Verlag.

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