Totgesagte leben länger
Christian Bommarius lobt die Stärke des Grundgesetzes und misstraut ihr zugleich,
aus: vorgänge Nr. 185, Heft 1/2009, S. 133-134
Der Journalist Christian Bommarius hat sein Buch über das Grundgesetz eine Biographie genannt. Nun könnte man meinen, dass kaum ein Leben eintöniger verläuft als das eines Gesetzestextes, dem Unerschütterlichkeit Wesensmerkmal ist. Und so wird man auch zum sechzigsten des Grundgesetzes kaum mehr als wohlgefällige Rückblicke erwarten. Doch ist das eine Frage der Perspektive. Es ist eben nicht das Erwartbare, was das Leben ausmacht. „Die Komponenten eines Lebenslaufes“, so der dramaturgisch interessantere Zugang des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann, „bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas geschehen ist, das nicht hätte geschehen müssen. Das beginnt mit der Geburt.“
Christian Bommarius: Das Grundgesetz. Eine Biographie. Rowohlt Berlin 2009. 288 Seiten, 19,90 Euro.
Die Geburt des Grundgesetzes war in der Tat alles andere als erwartbar. Es ist die Geburt eines Schwächlings, kein Vergleich zur amerikanischen oder französischen Verfassung. „Kraftloser als das Grundgesetz“, schreibt Bommarius, „hat kaum je eine demokratische Verfassung begonnen“. Die Geburt hätte nicht stattfinden müssen, zumindest nicht so, nicht mit dieser verfassungsrechtlichen und politischen Erblast, nicht mit diesen Vätern und Müttern, diesen alliierten Geburtshelfern und nicht für dieses Volk, für das es geschaffen wurde, das gleichwohl von ihm anfänglich nicht viel wissen wollte. Das Menschenbild des Grundgesetzes, gebündelt in seinem Artikel ein, widersprach vollends der obrigkeitsstaatlichen Tradition der Deutschen, indem es den Einzelnen und seine Würde an den Anfang stellte, doch diese Sprache verstanden die auf die Obrigkeit orientierten Deutschen damals nicht. Erst allmählich entwickelte sich so etwas wie eine Beziehung, die, je länger sie dauerte, desto inniger wurde. Es ist diese Geburt und diese Beziehung, welche es rechtfertigen, von einer Biographie des Grundgesetzes zu sprechen.
Entsprechend beschreibt Bommarius die näheren und ferneren Umstände dieser Geburt mit der detailverliebten Hingabe desjenigen, der von einem Quasi-Wunder zu künden hat. Und er beschreibt sie, seinem Metier getreu, journalistisch narrativ nicht systematisch. Die Umstände, die er plastisch darlegt, sind ein Kaleidoskop des Nachkriegs-Deutschland. Man liest ausführlich vom materiellen Elend, vom Hunger nach dem täglichen Brot, von der Sorge um Wohnung, Arbeits- und Studienplatz. Man liest von der Politik, vor allem der Entnazifizierungspolitik der Alliierten, von der Formierung der und dem Ränkeschmieden in den aufkommenden Parteien, vom Separatismus der Besatzungszonen. Es ist gut beschrieben, so dass man fast vergisst zu fragen, was all das mit der Geburt des Grundgesetzes zu tun hat. Natürlich irgendwie alles, aber wie? Weil er sein Sujet journalistisch und nicht systematisch betrachtet, bleibt die Antwort halbwegs im Dunkeln.
Erhellender ist da schon der Geburtsprozess beschrieben, die Konferenz von Herrenchiemsee und die Parlamentarische Versammlung in Bonn. Es ist das lesenswerte Kernstück dieses Buches. Die Verhandlungen um die Verfassung sind eingebettet in die Kernfrage, ob eine Staatsgründung angestrebt und die deutsche Teilung in Kauf genommen werden soll. Bommarius beschreibt kenntnisreich das politische, soziale und kulturelle Umfeld, in dem diese Beratungen stattfanden, und macht deutlich, dass dies nicht nur eine, wie man später sagen würde, deutschlandpolitische Frage war, sondern eine, die von der materiellen Not der Bevölkerung diktiert wurde.
Was folgte, waren Monate zäher Beratungen und politischer Ranküne. In ihnen wurde der sich als fatal erweisende starke Föderalismus festgeschrieben, in ihnen setzte die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert mit einer beispiellosen öffentlichen Mobilisierung die Gleichberechtigung der Frauen durch.
Man ahnt bei der Lektüre, dass nicht nur viele der an der Verfassungsgebung beteiligten Politiker, sondern mit und nach ihnen auch das deutsche Volk in sein Grundgesetz hineingewachsen sind. So mancher, z. B. Konrad Adenauer, nahm zunächst an, dass es sich um einen eher unverbindlichen Kanon an guten Vorsätzen handelt. Und nicht nur er wurde vom Bundesverfassungsgericht eines Besseren belehrt.
170000 Verfahren hat das Gericht in Karlsruhe bis heute entschieden, sie sind eine Chronik der deutschen Staats- und Alltagsgeschichte, die, so Bommarius, von einer lebendigen Demokratie zeugt.
So sehr Bommarius den Beitrag des Bundesverfassungsgerichtes zur politischen Kultur in Deutschland würdigt, so gnadenlos geht er mit dessen Urteilen, aber vor allem der politischen Praxis ins Gericht, die seinen bürgerrechtlichen Positionen zuwiderlaufen. Von der Einschränkung der Rechtswegegarantie in der Notstandsgesetzgebung in den sechziger Jahren über „die Zertrümmerung des Asylrechts“ in den neunziger Jahren bis zu den Sicherheitsgesetzen dieses Jahrzehnts sieht er eine anschwellende Tendenz, die freiheitliche Ordnung, die 1949 geschaffen wurde, einzuschränken zugunsten eines Präventionsstaates, der den Bürger unter Generalverdacht nimmt. Die FDGO und ihre Verteidiger im Bundesverfassungsgericht sieht er vom Bundesinnenministerium und vom Gesetzgeber belagert, eher hilflos klingt sein schriller Appell an den Souverän, den Beiden „in schwerster Bedrängnis zur Hilfe zu eilen.“ Denn diesem traut er so viel Liebe zum Grundgesetz gar nicht zu. Bei so viel Pessimismus bliebe eigentlich nur noch der nahende Tod zu vermelden. Das würde sich mit der literarische Form der Biographie decken. Doch sowenig Bommarius eine Biographie geschrieben hat, sowenig sieht das Grundgesetz seinem Ende mit der Naturnotwendigkeit entgegen, die seine Titelwahl und Schlussbetrachtungen nahe legen.